"Der Turm ist unserem Volke - wie kaum einem anderen - Ausdruck von Standhaftigkeit, Dauer und aufstrebender Kraft" - Hermann Henselmann, 1952
So pathetisch durfte man 1952 über Architektur reden, dieselbe planen und sogar umsetzen. Angeregt durch eine Reise auf die größte der Großbaustellen des Sozialismus, nämlich das Новая Москва des Stalin'schen Städtebau-Generalplans von 1935 und anderen sowjetischen Vorzeigebauprojekten wehte der architektonische Retrosturm des Zuckerbäckstils ab Pfingsten 1950 in die noch junge DDR und wirbelte diese mit den berühmten 16 Grundsätzen des Städtebaus gehörig durcheinander. Hermann Henselmann gehörte der Delegation um den Aufbauminister Lothar Bolz meines Wissens nach nicht an, aber immerhin befand sich Stalinstadts Planvater Kurt W. Leucht im Gefolge des Aufbauteams. So plante man dereinst wenigstens für die Hauptstadt Berlin hoch hinaus und zunächst einmal einen Kulturpalast der Republik auf dem Marx-Engels-Platz als Stadtschlossersatz. Mit Richard Paulick, Hanns Hopp, Edmund Collein bis hin zu Kurt Liebknecht legten die Überväter der DDR-Architektur nacheinander flotte Entwürfe vor, aber man konnte sich einfach nicht zur Umsetzung durchringen und daher findet man im Berliner Zentrum auch keine Höhendominante im Stile der "Sieben Schwestern" sondern ein im Vergleich zum Hotel Leningradskaja eher zurückhaltendes Hotel "Stadt Berlin" (bzw. "Forum" bzw. "Park-Inn") mit bescheidenen 39 Stockwerken und daneben den alles überragenden Fernsehturm.
Von Henselmann selbst ist mir kein Entwurf für dass Marx-Engels-Forum bekannt, wohl aber dass er sich in seiner Funktion als Berliner Chefarchitekt zu diesem Thema gründlich mit Staatssekretär Gehard Kosel, der mit seinem Spreebecken und der 150 Meter "Kathedrale" den radikalsten Entwurf zur Neugestaltung des Marx-Engels-Platz' vorlegte, gründlich überwarf. Ob dieses Thema auch Gegenstand des Dokumentarfilms
Hermann Henselmann. Architekt, Jahrgang 1905 von Gunter Scholz aus dem Jahr 1985 kann ich leider auch nicht abschätzen, da ich hier den Dokumentarfilmgenuß bei Gelegenheit noch nachholen muss. Glücklicherweise ist diese Gelegenheit am 20. Mai zum Weltmuseumstag gegeben, denn wie das
Oder-Neiße-Journal vermeldet, wird dann dieser Film im
Dokumentationszentrum zur Alltagskultur der DDR aufgeführt. (Unglücklicherweise (für mich) werde ich diese Gelegenheit wegen anderer Verpflichtungen ungenutzt verstreichen lassen müssen...)
Das Porträt zum vermutlichen berühmtesten Architekten der DDR läuft als Vorfilm zur Verfilmung des vermutlich berühmtesten Städtebauromans in deutscher Sprache, der selbstverständlich viel mehr als das ist, aber immerhin Hoyerswerda als Symbol aufgreifend, den sozialistischen Planstadt-Idealismus und ihr Scheitern an der Realität sehr berührend nachzeichnet: Franziska Linkerhand von Brigitte Reimann. Das Buch blieb Fragment, unvollendet, war nicht zuletzt nach Aussagen Brigitte Reimanns nicht abschließbar und ist damit so selbstbezüglich auf die 1970 im Alter von 39 verstorbene Autorin wie es in die unvollendete Eisenhüttenstadt passt.
Hermann Henselmann schrieb 1974 in der Weltbühne über "Franziska Linkerhand":
"...das schwebende Abklingen der Fabel des Buches hat in der Unvollendung seine eigene poetische Folgerichtigkeit. Vollendung ist im strengen Sinne keine marxistische Kategorie. Das gilt auch für den Aufbau einer neuen Stadt, der mit den Schicksalen ihrer Erbauer und Bewohner das zentrale Thema des Romans ist - Bild und Gleichnis des Aufbaus unserer Gesellschaft, die in der Selbstverwirklichung des einzelnen als sozialistische Persönlichkeit ihr Ziel sieht. [...] Der jungen Architektin geht es um die Menschen [...] und um die Vollendung der Stadt, um Schönheit und Gestalt, um Heimat. Aus ihrem ungeduldigen Anspruch an Vollendung entstehen ihre Konflikte, wobei sie nicht Perfektion meint, wenn sie Vervollkommnung anstrebt. Dieser 'unvernünftige' hohe Anspruch an sich selbst und ihre Aufgabe trifft nach meiner Erfahrung genau die Grundhaltung vieler junger Menschen unserer Republik."
Und lässt sie sich, wenn sie dies konsequent leben, an Verkrustung, Ignoranz, Unsensibilität und Sachzwängen weitaus mehr als eine blutige Nase holen, wie Peter Kahane in seinem im letzten Jahr der DDR gedrehten Film "Die Architekten" noch weitaus drastischer als Brigitte Reimann darstellt. Die Franziska Linkerhand-Verfilmung "Unser kurzes Leben" von Lothar Warnecke aus dem Jahr 1981 ist dagegen angesichts der Komplexität des Buches eher am Roman (der in der DDR auch nur gekürzt erscheinen konnte) vorbei verfilmt. Anschauen kann man den Film dennoch und zwar ebenfalls am 20. Mai im Dokumentationszentrum. Der Eintritt ist frei. Die Vorführung der beiden Filme beginnt um 15 Uhr. Über Pfingsten bleibt dann noch Zeit, als Ergänzung "Franziska Linkerhand" zu lesen.
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