Wie der manchmal leichtfüßige Bruder Zufall es heute wollte, stieß ich in der Februar-Ausgabe der von der brandenburgischen SPD herausgegebenen Zeitschrift Perspektive 21, die sich im Untertitel "Brandenburgische Hefte für Wissenschaft und Hochschule" nennt, und nach dem Februar-Heft zu urteilen allerdings eher eine Art Sammelbox für die Ergebnisse der Brainstorming-Sitzungen in der SPD-Landeszentrale darstellt und sich jedenfalls mit meinem zu großen Stücken auf Karl Popper zurückgehenden Wissenschaftsverständnis nicht unbedingt deckt, am Ende also in etwa so wissenschaftlich ist, wie eine ZEIT-Kolumne, auf einen Beitrag des brandenburgischen SPD-Geschäftsführers, Perspektive 21-Chefredakteurs und regelmäßigen Berliner Republik-Autors Thomas Kralinski, der dieses Thema recht frontal berührt.
Der junge SPD-Politiker ist jüngst kurzzeitig in die Schlagzeilen gehuscht, nachdem er sich für die „kontrollierte Verwilderung“ von einigen brandenburgischen Landstrichen aussprach, was immerhin besser ist, als die unkontrollierte Verwilderung, die man manchmal im Sozialverhalten auch von Teilen der Eisenhüttenstädter Bevölkerung und in anderen Teilen zu erkennen glaubt und vor der Kralinski auch im vorliegenden Text "Ostdeutschland gibt es nicht" mit Vehemenz warnt ("Die Gefahr, dass Verzweiflung und Entkräftung um sich greifen, ist real.", S. 27). Im allgemein kritisierten Text geht es jedoch mehr um die Natur jenseits des Menschen und sobald mir der betreffende Artikel vorliegt, werde ich diesen natürlich in Hinblick auf seine Eisenhüttenstadt-Relevanz sichten.
Im konkret von mir kritisierten Text, also dem Beitrag, der auszog, mit dem (vermeintlichen) Vorurteil aufzuräumen, dass es nur ein Ostdeutschland gibt (Ostdeutschland gibt es nicht. perspektive 21, Heft 33, S. 19-28, Download als PDF), geht es dagegen sehr wohl um den Menschen, und zwar um den Ostdeutschen und am Ende um die Frage, was er für sein Land tun kann. Dies geschieht anhand der Gegenüberstellung von ostdeutschen Erfolgsregionen und perspektivarmen Landstrichen.
Kralinski differenziert in seinem sozialwissenschaftlich inspirierten Aufsatz - je nach Ist-Zustand und Perspektive - vier Regionaltypen aus: "Die Aufsteiger", "Die versteckten Champions", "Die Kämpfer" und "Die Hoffnungslosen".
Die Aufsteiger kennen wir alle: Elbflorenz, Leipzig - wo es allerdings "verlassene Stadtteile [gibt], in denen man nachts lieber nicht zu Fuß unterwegs ist"[!] - die leuchtende "Lichtstadt" Jena und natürlich Brandenburgs Landeshauptstadt Potsdam. Solche Vorzeigeorte, die es geschafft haben, sind leicht an ihren äußeren Merkmalen zu erkennen: "Perfekte Infrastruktur, große Einkaufspaläste, geräumige Messehallen, restaurierte Innenstädte, neue Universitäten und Forschungseinrichtungen, moderne Krankenhäuser." (S. 19)
Also erstmal zum Aufwärmen der Gegencheck Eisenhüttenstadt:
- Infrastruktur: mit Bahntrasse, Schnellstraße und Wasserweg (und Verkehrslandeplatz) ganz gut, aber nicht perfekt - es fehlen ICE-Halt und Autobahnkreuz.
- große Einkaufspaläste: Paläste sind's vielleicht nicht, wenn man an die Mädler-Passage denkt, aber im Verhältnis groß, fast zu üppig. Und von der Discounter-Dichte kann sich wenigstens Dresden-Prohlis eine dicke Scheibe abschneiden.
- geräumige Messehallen: Im Juli ist die Kreisjungtierschau der Kaninchenzüchter in der Turnhalle Kastanienallee (Eisenhüttenstadt, nicht Prenzlberg - für alle die uns über Google erreichen). Außerdem gibt es manchmal was in der Inselhalle zu sehen. Das sind zwar keine richtigen Messehallen, aber immerhin.
- restaurierte Innenstädte: Wenn man davon absieht, dass es so eine wirkliche Innenstadt im alten Stil der klassischen europäischen Stadt nicht gibt, dafür aber eine Magistrale, die zum Teil neu verputzt, zum Teil etwas verschmuddelt daherkommt und stattdessen besonders auf die denkmalschutzgerechte Sanierung des II. Wohnkomplex blickt, steht dieses Kriterium vor der erfolgreichen Umsetzung.
- neue Universitäten und Forschungseinrichtungen: Denkste. Die Europa-Universität Viadrina liegt zwar im Einzugsgebiet, aber deren Haupteffekt ist bekanntlich, dass die Eisenhüttenstädter, die dort ein Studium beginnen, sich meist schnell davon überzeugen, dass man am Besten nach Berlin-Friedrichshain zieht und dies auch tun. Die Stahlstadt hat davon nichts. Die Pläne direkt im Städtele - beispielsweise auf dem Zentralen Platz - eine Stahlhochschule zu errichten, sind bislang immer (seifenblasen)gleich zentral zerplatzt. Da wird wohl auch in absehbarer Zeit kein Grundstein vergraben..
- moderne Krankenhäuser: Himmelfahrt steht vor der Tür und bekanntlich ist das und auch der taggleich stattfindende Bibulibus-Tag traditionell ein willkommener Anlass für viele männliche Eisenhüttenstädter, sich vom neuesten Stand der Notaufnahme des Städtischen Krankenhauses zu überzeugen. Soweit man hört, gibt es wenig zu bemängeln, abgesehen vielleicht von den mitunter recht langen Aufenthaltszeiten im Wartebereich am Tag der vollen Rettungsstelle.
Wie man sieht, bewegt sich Eisenhüttenstadt bei den äußeren Aufstiegsmerkmalen im oberen Mittelfeld. Ein richtiger "Aufsteiger" wird man so nicht, aber vielleicht ein "versteckter Champion"?
Sowohl auf wie zwischen den 33 Zeilen, die Thomas Kralinski dieser Gattung ostdeutscher Kommunen widmet, findet sich Eisenhüttenstadt wider Erwarten leider nicht, wohl aber die große nördliche Konkurrenz: Schwedt an der Oder. Vielleicht liegt dies an dem dort bereits existierenden Pipeline-Anschluss und den Biogas- und Bioethanol-Anlagen auf Europaniveau, während hier die industrielle Zukunft überwiegend aus gelegten, aber noch nicht zureichend bebrüteten Eiern besteht. Lobende Erwähnung finden stattdessen Wernigerode (Fachhochschule, Automobilzulieferindustrie), Sömmerda (dank Fujitsu-Siemens quasi PC-Europameisterl), Rostock mit seinem Hafen und besonders Chemnitz (erfolgreicher Maschinenbau, gute Universität, renommierte Kultur- und Kunstszene).
Kennzeichen dieser "Champions" ist, dass sie zwar tüchtig demografischen Druck auf dem Stadtentwicklungskessel haben, hier aber das Bremsventil erfolgreich betätigen konnten:
"Die Menschen dieser Orte hatten es schwer nach der Wende, den ganz großen Sprung haben sie vielleicht nicht geschafft - aber sie sind angekommen im neuen System." (S. 21) Dann mal herzlich willkommen.
"Typisch für sie ist der Sozialtypus des gut ausgebildeten Ingenieurs, der im DDR-System unabkömmlich war - und sich langsam aber sicher im neuen Deutschland eingefunden hat." (S. 21f.) Vom Neuen zum neuen Deutschland in nur 17 Jahren. So sieht wirklich kein großer Sprung aus. Aber langsam und sicher ein munteres Sprießen von Worthülsenfrüchten, die die Lesefreude an dieser Analyse der ostdeutschen Parallelgesellschaft im frühen 21. Jahrhundert schön umranken...
Ingenieure gab es zwar auch in der - übrigens für das DDR-System mächtig unabkömmlichen - Stahlarbeiterstadt am Oder-Spree-Kanal und dies sogar in Gestalt von Sozialingenieuren, aber inwieweit sie schon im neuen Deutschland angekommen sind, bleibt wenigstens an dieser Stelle offen. Dass man von einem "großen Sprung" bisher kaum sprechen kann, sondern eher von solider und stetiger Stahlwerkerei dürfte den meisten Beobachtern der Materie jedoch bewusst sein. Auf die Kommune hat dies zugegeben bislang nur bedingt ausgestrahlt, aber vielleicht folgt der Riesensatz der kleinen Stadt jetzt, da die Gazprom-Katze aus dem Sack ist.
Coubertin statt Versehrtensport ist das olympische Motto der neuen förderpolitischen Leitlinie für die brandenburgische Regionalentwicklung. Eisenhüttenstadt kann sich glücklich schätzen, als Wachstumskern zu gelten, denn dadurch ändert sich vermutlich wenig und die Stadt kommt um den pädagogischen Effekt herum, den Thomas Kralinski mit der Förderumschichtung und der "Macht trotzdem weiter, Jungs!"-Ermutigungspolitik verbindet.
Also auch keine "versteckten Champions" - dann vielleicht "Kämpfer"? Für die Entfaltung der Kämpfermentalität in den Brandenburger Kommunen scheinen sich nun jedenfalls reichlich Möglichkeiten aufzutun, nachdem die weise Landesregierung 2005 die Gießkanne in den Schrank stellte und sich auf die Kerne, statt auf die Blätter konzentriert. "Stärken stärken" heißt das neue Credo, wobei Credo übersetzt "Ich glaube" heißt und sich manch ein verbitterter und sicher ungerechter Zeitgenosse am Nordostrand Brandenburgs darauf hofft, dass die Landesregierung tatsächlich daran glauben wird. Wir denken dagegen, dass der Slogan aus der Kategorie "Hilfe zur Selbsthilfe" ein nettes Wortspiel und eine sinnvolle Umstellung der Förderpolitik darstellt. Denn so hat - und so schreibt es Thomas Kralinski - auch die Streichung von Fördermitteln einen positiven, weil heilsamen Effekt: "Trotz widriger Umstände wollen die Verantwortlichen einer Region ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen. Man lässt sich nicht von außen unterkriegen, sondern vertraut in eigene Stärken." (S. 22)
Wie im Kleinen so im Großen und eine solch enthusiastische Umschichtung wird sich vielleicht auch einmal auf Bundesebene durchsetzen. Es wäre ganz spannend zu sehen, wie man in Potsdam zu rudern begänne, wenn man Brandenburg einfach abschriebe und seinen Anteil von knapp zwei Milliarden Euro an Bundesergänzungszuweisungen (BEZ) an die ostdeutschen Wachstumsländer Sachsen, Thüringen, Sachsen-Anhalt und für den Schloßbau in der Bundeshauptstadt umverteilte...
"Hier ist eine Politik der Ermutigung gefragt, denn zu viele Regionen, zu viele Menschen in Ostdeutschland stehen genau an diesem Scheideweg: Scheitern oder Mut fassen - gerade wenn es schwierig ist." (S. 23) Es sind also zu viele, nicht etwa zu wenige und auch nicht das Optimum an Menschen, die "sich mit aller Macht gegen eine trostlose Zukunft" stemmen, die nicht wollen, "dass ihre Heimat deprimierenden und unglücklichen Zeiten entgegen dümpelt."
Während offen bleibt, was man in Bezug auf die abwandernden Frauen mit Verbindungstalent für Job und Kind unter "kümmern" verstehen kann, man aber immerhin erfährt, dass dies pauschal zu den "großen politischen und kommunikativen Herausforderungen der kommenden Jahre" zählt, hat Thomas Kralinski für die "Moderation" des Niedergangs auf ein Vor-DDR-Niveau in vielen ostdeutschen Regionen "Anker" im rhetorischen Gepäck. Wie diese konkret geschmiedet sind, verschweigt der Text leider ebenfalls, aber man versteht schon, dass es sich um die oft nur rudimentär ausgeprägte "funktionierende Zivilgesellschaft" handelt, die Kralinski durch Vereinsarbeit und Ehrenamt, "Initiative und freiwilligem Engagement" definiert sieht. Da ist Stärkung notwendig - schade, dass das Motto hier offensichtlich "Schwächen stärken" lauten müsste. Denn in der betroffenen Zone bleibt vor allem ein Mangel an "Vertrauen in Demokratie", kein "gesellschaftliches Interesse" und auch nur bei einer Minderheit ein Stehen zur Marktwirtschaft feststellbar.
Wie Wurscht dem Brandenburger die Politik geworden ist, wird an dem gloriosen Beispiel illustriert, dass bei der letzten Diätenerhöhung überhaupt kein Protest seitens der Bevölkerung auflief: "Es blieb so ruhig, dass die Teilnahmslosigkeit nicht nur Politiker ins Nachdenken brachte." Eine Schnodderschnauze würde jetzt sagen, dass dies nicht der schlechteste Effekt wäre. Das ist aber mächtig platt und vernachlässigt eine Möglichkeit, die auch Kralinski offensichtlich nicht bedachte: Die Brandenburger könnten womöglich derart zufrieden mit der Arbeit ihrer Volksvertreter sein, dass sie diesen so eine kleine Erhöhung der Abgeordnetenentschädigungen einfach klaglos gönnen. Von wem wird hier also Pessimismus verbreitet: doch nicht von den Bürgern, sondern vom Landesparlament selbst, das der Bevölkerung soviel Generosität nicht zutrauen mag. Auf einmal heißt es wieder: Typisch Politikverdrossenheit des "abgehängten Prekariats" - ein Begriff, den man im Februar noch verwenden durfte, was Kralinski auch tut (S.26).
Aber diese Analyse ist Kalkül, denn so lassen sich Phänomene erklären, die mit dem gesunden Menschenverstand, wie man so schön sagt, nicht zu erfassen sind: "Es ist die Stimmung, die dazu beigetragen hat, dass Schwangerschaften und das Verschwinden kleiner Kinder unbemerkt blieben..." - hier ist er endlich, der Querschläger zum Ost-Landkreis Oder-Spree. Trotz Stadtfest mit alljährlich dick aufgetragenem Spektakel wird hier eine "Kultur des Hinschauens" vermisst. "Wer eine Kultur des Hinschauens erreichen will, muss die Menschen zum Mitmachen bewegen." (S. 26) Das ist bekanntlich ein grundlegendes Prinzip der Demokratie, welches viele - Vorsicht Kalauer - eher stereotyp mit der ostasiatischen Industrieinnovationskultur verbinden: "Mach mit, mach's nach, mach's besser."
Abschließend findet Thomas Kralinski noch einmal zu einigen grundsätzlichen Aussagen:
"Der Osten ist nicht mehr 'der Osten'. Die Wende von 1989/90 hat das Leben der Menschen in Ostdeutschland vollkommen durcheinander gewürfelt." (S. 26)
Allerdings sind die Würfel unterschiedlich gefallen und nicht jeder hat einen Sechserpasch oder eine Straße abbekommen. Manche schon und deshalb gilt nun: "Politik für Ostdeutschland wird schwieriger und muss stärker als bisher differenzieren. Die Spaltung in Gewinner und Verlierer verstärkt sich, die Differenzen zwischen den Regionen werden zunehmen. Die ostdeutsche Gesellschaft geht Schritt für Schritt auseinander." (S. 27)
Und, so möchte man ergänzen, die (ost)deutschen Hüften, Schenkel und Becken besonders im Prekariatsbereich ebenso und in einem Ausmaß, dass man in den modernen Kliniken mittlerweile Computertomographen aus der Veterinärmedizin einsetzt (vgl. FAZ vom 9. Mai 2007, N1).
Worauf ich eigentlich hinaus wollte, ist, dass Eisenhüttenstadt mit seinem jüngst nach außen bekannt gewordenen Förderstreben eindeutig im Reich des Anachronismus seine Zelte aufzuschlagen versucht. Denn im Land weht längst ein neuer Wind:
"Zu oft wurden staatliche Gelder zu einer Droge, die abhängig gemacht hat. Zu oft hat man sich mit Fördermitteln eingerichtet. Inzwischen haben die 'Kämpfer' verstanden, dass sie mit weniger Geld bessere Qualität erreichen müssen - und können. Den Zirkel der Abhängigkeit zu durchbrechen, Menschen und ganze Regionen mitzunehmen und aufzurütteln, das ist die eigentliche Leistung." (S.23)Vorher gibt es erstmal kalten Entzug. Und für den gepflegten Turkey kommt im August immerhin Marianne Rosenberg (mit Band) zum Stadtfest. ...
"Helfen können einzig und allein noch gute Ideen." Und der Herrgott. Aber erst die Ideen, denn die haben - wir erinnern uns - hierzulande Tradition.
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