Neulich Abend saß ich mit meinem Blogkollegen
Andi Leser im so weißen wie kunstledernen Polstermöbel einer Eisenhüttenstädter Gastwirtschaft eingesunken und da selbige dafür bekannt ist, Fast Food sehr
slow zu servieren, erwuchs sich die heimelige Atmosphäre der Schenke für uns erwartungsnah zum Thomas Bernhard`schen Bräunerhof und weniger zum Trotzkistischen
Central, denn einerseits hatten wir kein Schachbrett dabei und andererseits stand uns der Sinn nicht nach der Frage "Kapitalismus oder Sozialismus?", sondern mehr nach naturgemäß fortwährend nichts anderem als Keller (Gottfried), Atem (jetzt am Abend deutlich als neblige Spur vor Nase, Mund und Nüstern sichtbar) in der Kälte und der Ursache (aktuell Hoch
Fody aus dem Nordatlantik, welches, so der letzte Informationsstand, von einem Gastronomen aus dem schönen Ketsch, das nahe der Stelle gelegen ist, an der der Kraichbach in den Rhein fließt und das allen Angelfreunden der Rhein-Neckar-Region durch das Ketscher Fischerstechen bzw. wenn es schief geht Fischer-erstechen am Baggersee als ein fester Termin zwischen den Fischzügen gilt, gesponsert wird.).
Nebenbei wurde an einem der Nebenbeistelltische rührend und schüttelnd mit Caipirinha im kleinen Kreis ein Geburtstag begangen und im Hintergrund
medleyte sich die Popmusikgeschichte der 80er Jahre des 20sten Jahrhunderts in einem alles zu einem rhythmischen Einheitsbrei verrührenden Beat gerade laut genug, um noch die Gespräche am Nebentisch hörbar zu belassen, durch das Magistrallokal. Natürlich hatten wir gleich die dort aushängende BILD-Zeitung am Haken und am Wickel, fanden bei unserer Blattkritik aber leider nicht soviel Positives wie neulich der Vizecanceler Franz-Walter Steinmeier. Allerdings stellten wir besonders im Bereich "Vermischte Meldungen" fest, dass Daniil Charms durchaus Spuren im deutschen "Journalismus" hinterlassen hat. Hier eine Kostprobe als Mischwesen:
"Türkei: Minarett erschlägt Mann. Ein einstürzendes Minarett hat in Istanbul einen Mann unter sich begraben und getötet. Der Turm war bei Sturmböen eingeknickt und auf ein Kaffeehaus gestürzt.Der Hut flog über der Hühnerstall und fiel in die Kletten. Das ist eigentlich alles."
Selbst eingefleischte Kenner der Zeitung werden bei dieser erweiterten Meldung kaum einen Unterschied zwischen redaktioneller und Charms-Offensive feststellen können. Der Informationswert ist in etwa der von: Pelz.
Begeistert hat uns dagegen die Überschrift "Jedes Land ist so schön wie seine Menschen..." und Robert Gernhardts wundervolles Gedicht über einen Sonntag in Lübeck am geistigen Ohr ("Wie sie kauend durch die Straßen schieben! - Du musst diese Menschen nicht lieben.") wussten wir genau, was BILD damit meint. Schneewitchen und Jedermann (Cosma Shiva Hagen und Clemens Schick): das sind Deutschland nach dem BILD-Jury-Ranking die führenden Vertreter der hundert schönsten Staatsbürger, die die deutschen Landsleute gegen "unangenehmes Äußeres", "Erfolglosigkeit" und "bescheidenes Auftreten" versichern. ("Wie sie gekleidet sind, die Ungeschlachten! - Du mußt diese Menschen nicht achten.") Kein schöner Land, außer vielleicht am Sonntag in Lübeck: "Wie erfreulich es wär, wenn sie weniger wögen! - Du musst diese Menschen nicht mögen."
Und die Mörder hierzulande möchten gern von Maria Furtwängler (Schaupielerin, natürlich und erfolgreich) verhaftet werden. (wirklich: "Als Mörder will man von ihr verhaftet werden...") Es wäre interessant zu wissen, welches Mitglied der BILD-Jury dies nachzufühlen versteht.
Manfred Krug in BILD (bzw. dort zitiert aus dem Fachblatt "Für Sie") zum Thema:
„Eigentlich stelle ich mir gern vor, dass ich alles kann. Aber wissen Sie, wie schwer ein Krimi ist?“ Der perfekte Mord sei für ihn sowieso kein Thema, sagte Krug. „Wenn ich morden würde, dann geschähe es spontan, ohne Plan.“
Wir wissen nicht, wie schwer ein Krimi ist, aber zu Sarah Connor, Bravo-Otto-Preisträgerin in Bronze 2008, steht als BU (Bildunterschrift): "Je älter sie wird, desto weniger trägt sie." Krimis dann wohl nicht mehr. Und die Mär, dass einer eher des anderen als die eigene Last trage, erinnerte uns daran, dass es in der DDR-Kindheit auch ein Idealbild gab, nämlich das der Jungen Pioniere, welches besagte, als Timurdienst solle man ruhig mal alten Damen die Einkäufe in den fünften Stock hinauftragen. Ausgenommen sind natürlich solche, die Paterre wohnen. Ein einziger Versuch in der Rosenstraße, der bei Malzkaffee und Kuchen und Schimpfe zuhause wegen zu spätem Heimkommen endete, so die Sage, blieb eine bittersüße Erfahrung zwischen Einkaufsnetz und Treppenabsatz.
Damit war die Blattkritik der Zeitung, die neckischerweise als offizielle Schriftart gern eine vielsagende Type namens "Neuzeit Grotesk" verwendet, für diesen Tag beendet. Gern griffen wir zur aktuellen Ausgabe von "Sinn und Form" auf der Zeitschriftenablage, um uns mit Peter Benders zeitgeschichtlichem Aufsatz eine zweite Meinung zu dem, was Deutschland ist, einzuholen, aber die gab es nicht. Sowohl als auch. Und überhaupt.
Also waren wir doch zum Gespräch gezwungen und da Andi Leser neben Majakowski bevorzugt Schotts Sammelsurium rezitiert, ging uns der Stoff, aus dem der Small Talk ist, nicht aus. Blöderweise rasselten wir gleichzeitig mit dem Thema Listen schnell in die Bande der Politik und fanden uns thematisch bei den brandenburgischen Kommunalwahlen ein.
Wie eine hohle Drohung, nämlich mit viel Resonanzraum, hing sich sofort die Frage gleich den Schwaden von Zigarettenrauch in Eckkneipen an die Decke (damals), unter der wir Eisenhüttenstädter zuweilen stecken: "Was spricht eigentlich dagegen, mal etwas über die morgigen Wahlen zu schreiben?"
Als wir gegen Morgengrauen (gefühlt) alle Gründe kurz benannt hatten und uns darauf einigten, wie immer und in bester Tradition mit der ganzen Laufhausgemeinschaft (vgl.
Logbuch Stahlinstadt vom 26.09.2008) offen für die Kandidaten der Nationalen Front zu stimmen, warfen wir, die wir uns erst nach der aktuellen Zeitungslektüre politisch zureichend kompetent fühlten, forsch und mit Elan und fast schon zu spät einen scheuen, nahezu verschämten Blick auf die Ostbrandenburger Wahlkampfgruppen.
Siegreich vom Wahlschlachtfeld, so glaubten wir, würde sicher eine Partei, die einen doppelbödig zusammengezimmerten Spruch wie "Macht Kreuze, Christen" im Schilde führt, getragen, wäre dieser nicht nur eine schlichte Überschrift in der Evangelischen Wochenzeitung "Die Kirche" (nicht im Lokal erhältlich).
Das spontan eingeholte Stimmungsbild der Wahlwerbeplakatausstellung in der Diehloer Straße brachte jedoch ganz andere Überzeugungsversuche auf das Tapet: Die Christlich Soziale Union in Eisenhüttenstadt z.B. setzt weniger auf Kreuz-Appelle, sondern tritt zurückhaltend und elementar "für ein l(i)ebenswertes Eisenhüttenstadt" ein. Nicht, dass wir diese Stadt eines Tages hassen und sie uns mit Todessehnsucht tränkt! Dagegen kann man viel tun. So sei am Rande locker festgestellt, dass angesichts der Überplakatierung an den hiesigen Laternen folgender Gesichtspunkt aus dem CDU-Programm ein ganz akuter ist: "Die Überprüfung aller Verkehrs- und Hinweisschilder in unserer Stadt auf ihre Notwendigkeit." Gilt auch für Wahlhinweise.
Der Bürgerverband Oder-Spree tarnt sich dagegen als grüne alternative Liste 6 und wirbt mit seiner beeindruckend offenherzigen Unparteilichkeit: "Sind Sie in einer Partei? - Wir auch nicht!" Das trifft den Nagel, unter dem es den parteipolitisch Übersättigten brennt, natürlich auf den Kopf. Über die Qualifikation in puncto Einflussnahme auf die politische Willensbildung und der Durchsetzung von spezifischen Zielen im Gemeinwesen sagt der flotte Kurzdialog freilich nicht viel aus.
Die Linke hängt um die Ecke mit zwei schönen Postern in Rot und Schwarz(-Weiß), wobei Helga Böhnisch feststellt: "Wohnen ist mehr als nur ein Dach über dem Kopf", während sich Dagmar Püschel - fast analog zur l(i)ebenswerten CDU - "für ein kinderfreundliches Eisenhüttenstadt" ausspricht. Hier haben wir also einerseits die Definition einer Alltagserfahrung und andererseits ein nettes Leitbild. Nicht mitreißend, etwas farblos, aber dafür bedauerlicherweise zotenfest und kalauerimmun.
Der lokale Zweig der SPD dagegen stellt etwas anderes fest: "Hütte geht vor". Aber wann und wo? Wenn das Land am wirtschaftlichen Abgrund auf dem Vulkan tanzt? Oder versteckt sich hier schon Lokalchauvinismus: Wir sind besser als die anderen! Wir haben die Papierfabrik!? Oder erklingt hier Aufbruchsgeist: Wo die anderen noch zögern, stürmen wir schon längst voraus? Da hat der Wähler die unangenehme Wahl der Interpretation.
Für die, die überhaupt nicht gehen, sondern treu auf der eigenen Scholle bleiben wollen, verweisen die Republikaner nebenan darauf, dass man ihnen "der Heimat zuliebe" die Stimme geben sollte. BVB/50plus halten Mutter und Kind und ein grundständiges "Aus Verantwortung" dagegen. Heimatliebe oder Verantwortungsbewusstsein: für jede Seele in einer schweren Brust gibt es einen hehren Spruch.
Die überraschende Kampagne der NPD ("Mal was anderes wählen!") richtet sich schließlich offensichtlich an ihre Stammwähler, was unter diesen bestimmt für Verwirrung sorgt. Andererseits beeindruckt, wie hier offensiv zu Pluralismus und Demokratie aufgerufen wird.
Erschöpft von der rhetorischen Luminiszenz (Andi Lesers), dem Esprit der Texter und der luziden sowie mitreißenden Wahlwerbung quer über alle Parteigrenzen hinweg, fällt man schließlich auf die Parkbank nahe dem pionierhalstuchbindenden Mädchen von Herbert Burschik und lässt, noch ein nicht allzu lang zurückliegendes Gespräch mit Andi Leser über den literarischen Reiz von Nabokovs Lolita-Roman ("Das machen nur die Beine von Dolores..") im wummernden Hinterkopf aufwallen spürend, den Blick an den 114 cm Bronze auf- und abgleiten, als wäre es ein Sessellift und man selbst ein seit Kindesbeinen zum Wahnsinn begeisterter Skifahrer beim ersten Neuschnee des Jahres, um dann doch wieder in den Wahlsonntag zurück zu wanken, um im Geschnatter der Enten, die eine junge Familie nebenbei mit Brot bewirft, die Wahl zur Wahl zu fällen.
Ach Humbert, als wenn dies möglich wäre! Doch alles fließt am Fließ. "Wie sie durch ihre Stumpfheit entsetzen! - Du mußt diese Menschen nicht schätzen."
Am Ende summen die schnellen Botschaften einer nachhaltigen Politik mit ihren nachwachsenden Leerstoffen zwischen Parteien und Partei- und Dauerlosen schon auf dieser kurzen Wegstrecke zwischen Halbzeit und Rosenhügel wie ein halbes Dutzend verzweifelte Hornissen im August in einer dreiviertelleeren Limonadenflasche, die auf dem Fenstersims am Bungalow in der Kleingartenanlage vergessen wurde, durch die Frontallappen des unentschlossenen Eisenhüttenstädter Wechselwählers.
Doch wo die Entscheidungsnot am größten ist, pritscht der magische Aufschläger des Schicksals den Volleyball der Errettung mit festen Fingern über das Netz der Verlorenheit, denn glücklicherweise findet sich neben all den plakatierten Gesichtern und Appellen eine in ihrer Schlichtheit und Prägnanz derart beeindruckend formulierte Aussage, der wohl jeder, ob Anarchist oder Volksdeutscher, ob überparteilich oder untergebuttert, ob Bürger oder Bürgerin von ganzem Herzen zustimmen möchte und die die Frage, wofür man sich entscheidet, zu einer überflüssigen macht:
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