"Ich kann den Ort wechseln, wie ich will - vergeblich würde ich die Welt wechseln -, stets finde ich mich mit mir selber wieder, mit dem selben Ich." - E.M. CioranSelbstbezüglicher als das, was der Altmeister der Ernüchertung am 10. August 1966 in seinem Urlaubsort an der Bucht von Talamanca in sein Cahier eintrug, geht es wohl kaum und in einer Klarheit, die der des Mittelmeerwassers in seinen guten Stunden in Nichts nachsteht, unhintergehbar. Allerdings könnte man jetzt einmal nachhaken und fragen, woraus das "Ich" eigentlich besteht. Cioran wird nicht mehr antworten können, aber wenn man gerade in Paris kann man sich, wenn man möchte und Zeit hat, zur polierten Marmorplatte seines Grabes auf dem Friedhof zu Montparnasse begeben, die sich dort in der Section 13 unweit der Stelle, an der man 1979 Jean Seberg - die unglücklich passenderweise ihren Durchbruch in Otto Premingers Film Bonjour Tristesse erlebt - beisetzte befindet, und die Frage im stillen Zwiegespräch erörtern. Als Stadtwahrnehmer mit Leib und Seele kommen wir selbstverständlich nicht umhin, dem Faktor des Ortes, der räumlichen Umgebung also, einen hohen Stellenwert bei der Identitätskonstruktion zuzuschreiben. Als Cioran sich von Talamanca bezaubern ließ, hatte er schon die ganze Schwermut des existentialistischen Paris seiner Zeit in sich aufgesogen, so dass die Tage in der Sonne Eivissas ihn nicht mehr nachhaltig mit südlicher Leichtigkeit durchfluten konnten. Insofern hat er seinen "cafard", seine Flaute des Lebens, nicht entgegen seines am 23. August notierten Vorhabens ausgesondert. Stattdessen musste er im Jahr darauf feststellen, dass es sich mit diesem so verhält, wie mit dem "ich": "Le cafard est universel. ... Aucun moyen de s'en prémunir."
Den Carnets der Zurückgeworfenheit auf das Elementare setzen wir zum Ausgleich etwas entgegen, das in Form von Briefmarkenheftchen und Postkartenbüchlein durchaus auch identitätsstiftend sein kann. Wer es nicht glaubt, sollte einmal zur Briefmarkenmesse fahren, obschon die Sammler mit Herzblut immer älter und damit in der Zahl immer weniger werden und man sich von Jahr zu Jahr mehr zwischen den Verramschern der Nachlässe auf der einen und Großauktionären seltenster Philatelie-Filet-Stücken hin und her geworfen fühlt. Der Bereich der Philatelie ist ein prima Beispiel dafür, dass die Freude oft dann zu schwinden beginnt, wenn der Faktor Geld ins Spiel kommt. Da kann man durchaus mit dem knöchernen Ringen um die Existenz Bekanntschaft machen und Cioran ist nicht mehr weit.
Im Eisenhüttenstadt der 1980er Jahre ging es dagegen zwangsläufig mehr um die Freude am Hobby und dies besonders in den entsprechenden Arbeitsgemeinschaften der Polytechnischen Oberschulen. Da dachte man bei Sachsendreier noch an Ostrockformationen und nicht an die Olympia-Marken der DDR zur Moskauer Olympiade, welche auch heute noch einen weitaus geringeren Wert haben, als die von der Bundespost gedruckten. Insgesamt war die Deutsche Demokratische Republik ein eifriges Briefmarkenland, denn die Sammelwut war weltweit am Kochen und so ließ sich mit schönen Sperrwerten so manche Devise erbringen.
Wie die Devise der Arbeitsgemeinschaft "Junge Philatelisten" der 4. OS "Otto Grotewohl" lautete ist auf der Sonderpostkarte zu ihrem 15ten Bestehensjahr leider nicht vermerkt. Und auch die Briefmarke, die man zur Feier des Tages zum Frankieren wählte, fällt nicht gerade unter die Kategorie Bückware, obwohl sie ein mittlerweile verschwundenes Gebäude zeigt. Ansonsten ist die stilisierte junge Arbeitsgemeinschaft mit der - je nach Sicht - Lehrerin oder Pionierleiterin vor den philatelistischen Schaukästen, in denen auch ein paar der dereinst sehr beliebten Dreiecksmarken angedeutet wurden, sehr niedlich anzusehen. Dahinter das Symbol der Messe der Meister von Morgen und wer auf die Jahreszahlen achtet, kann in etwa nachvollziehen, wie spektakulär das brodelnde Jahr 1968 in Eisenhüttenstadt verlebt wurde. Manch einer mag sagen: kleinbürgerlich, denn allgemein gilt das Sammeln von Briefmarken, Münzen und Bierdeckeln eher nicht als Hobby einer aufbegehrenden Boheme. Manch einer erinnert sich vielleicht, dass sich mit dem Sammeln exotischer Marken auch die Sehnsucht der weiten Welt wenigstens ein wenig abmildern ließ. Und manch einer ging einfach hin, weil er keine Lust auf Kegeln im Keller des Pionierhauses hatte und auch nicht malen konnte. Aber immerhin trug man in der AG auch mal eine Bommelmütze zum Hemd (sh. Abbildung), was einem sonst am mittwöchlichen Pioniernachmittag gern auch mal einen Anpfiff vor versammelter Mannschaft einbringen konnte. Schlimmer war nur noch, das Halstuch vergessen zu haben.
Und letztlich kann man sagen, dass, selbst wenn die Sinnstiftung über Briefmarkensammeln in einem Eisenhüttenstädter Clubraum nicht unbedingt die Welt zu einem besseren Ort machte, sie doch für die meisten Mitglieder der AG eine weitaus freundlichere Variante der Lebensgestaltung darstellte, als der große Katzenjammer, dem sich Cioran nahezu zeitgleich zur AG-Gründung in Paris hingab. Unglücklicherweise war nicht alles an der DDR Philatelie, aber wenigstens der 25. Oktober 1983, der Tag, an dem diese in gewisser Weise Identität schaffenden Sonderkarten ihren Tagesstempel bekamen, dürfte von den jungen Mitgliedern der Arbeitsgemeinschaft vermutlich als ziemlich freudvoll erfahren worden sein.
Der Finger des Knaben zeigt es an: Da hängt sie, die jungpionierhalstuchblaue Mauritius.
Dass es am Rand der Karte mit dem Sammlerglück dunkel dräut, ist allerdings eher technisch als symbolisch zu verstehen. Und natürlich geht das Leben auch dann weiter, wenn die nassklebenden Sonderbriefmarken eines Tages von einer sammlerherzlosen Post AG durch identitätsfreie und sammelunwürdige Portoaufkleber endgültig ersetzt sein sollten, wie es heute schon an vielen der wenigen verbliebenen Schalter der Fall ist. Aber es ist doch wieder ein Stück ärmer und dann nur eine Frage der Zeit, nach wie vielen Enttäuschungen, die mit ihm dem fadenscheinigen Argument einer notwendigen Rationalisierung bereitet werden, der kulturvolle Mensch wieder den Cioran aus dem Regal zieht oder sogar selber einer wird.
Wir werden diese aufregende Entwicklung - und auch die der Eisenhüttenstadt-Philatelie - sehr fest und gefasst im Auge behalten und gegebenenfalls hier darüber rapportieren.
Dass es am Rand der Karte mit dem Sammlerglück dunkel dräut, ist allerdings eher technisch als symbolisch zu verstehen. Und natürlich geht das Leben auch dann weiter, wenn die nassklebenden Sonderbriefmarken eines Tages von einer sammlerherzlosen Post AG durch identitätsfreie und sammelunwürdige Portoaufkleber endgültig ersetzt sein sollten, wie es heute schon an vielen der wenigen verbliebenen Schalter der Fall ist. Aber es ist doch wieder ein Stück ärmer und dann nur eine Frage der Zeit, nach wie vielen Enttäuschungen, die mit ihm dem fadenscheinigen Argument einer notwendigen Rationalisierung bereitet werden, der kulturvolle Mensch wieder den Cioran aus dem Regal zieht oder sogar selber einer wird.
Wir werden diese aufregende Entwicklung - und auch die der Eisenhüttenstadt-Philatelie - sehr fest und gefasst im Auge behalten und gegebenenfalls hier darüber rapportieren.
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