Es mag um den Herbst 1985 gewesen sein, da saßen die Mädchen und die Jungen einer dritten Klasse aus einer naheliegenden Schule stuhlkreisend inmitten der Kinderbibliothek des Pionierhauses und wurden von einem unklar erinnerten Mann vom Typ Patenbrigadleiter sowie der ebenso unspezifisch erinnerten Kinderbibliothekarin der Runde rum befragt, wo sie denn die letzten Sommerferien verbracht hatten. Vom Kleingarten auf den Höhenzügen hinter dem Krankenhaus am Rande der Stadt über Ostsee und Balaton bis Harzgerode dürfte so einiges dabei gewesen sein, was den Reisemöglichkeiten der DDR-Kleinfamilie entsprach. Als die Reihe an einen Knaben kam, der erst kürzlich mit seinen Eltern aus dem Zittauischen zugewandert war, antwortete dieser ohne Zögern, er hätte den Sommer in der Schweiz verbracht.
Dieses den Erwachsenden sofort durch den Kopf flatternde weiße Kreuz auf rotem Grund schluckte kurzzeitig jeden weiteren Ton im Raum und selbst die Kinder, die die Schweizerfahne vom dänischen Tuch noch nicht zu unterscheiden wußten, spürten doch, dass sich jetzt und hier etwas schlagartig zum Unstimmigen hin verschob. Die Schweiz stand trotz ihrer Neutralität nie den Bürgern der DDR als offizielle Reiseoption offen und schon gar nicht deren Kindern.
Der Patenbrigadier fasste seine Irritation jedoch schnell wie ein junger Metallurge und korrigierte mit einem verlegenen Blick auf die Bibliothekarin, dass der Junge wohl die Sächsische meine. Es hätte sicher auch die Märkische oder die Ruppiner oder gar die Rostocker sein können, aber weiter drang man nicht in die Frage eidgenossenschaftlich oder nicht vor, sondern lotste rasch die Aufmerksamkeit der Kinderaugen auf die Regale mit Joshua und einem Mord in Detroit, ein Verbrechen, welches schließlich doch noch als ein kleines Jugendalter zu fortgeschritten für die sensiblen Drittklässler bewertet wurde.
Ein Jahr später erfolgte allerdings der Zugriff, begleitet vom überaus populären Detektiv Pinky. Amerika, nicht die Schweiz, das war das Land, in welches man mit Sally Bleistift ziehen wollte, während von Sowjetseiten bestenfalls die Geschichte des so utopischen wie in der Grundidee abgekupferten Zauberers der Smaragdenstadt mitriß, der sich ironischerweise wiederum ein Mädchen aus Kansas einfliegen lässt. Warum Alexander Wolkow seine Elli nicht vom Überirtysch abheben ließ, bleibt auf ewig sein Geheimnis. Aber vielleicht durfte es in der ruhmreichen Sowjetunion einfach keine Wirbelstürme mehr geben.
Etwas schweizerischer im Charakter, sofern man gerade den Dürrenmatt zur Seite gelegt hat, scheint aus dem Wolkow-Werk der schlaue Tischler und Spielzeugmacher Urfin, und zwar der ohne seine Holzsoldaten.
Le jeu pays merveilleux et bleu mit der konstantinopolischen Stürmung der Smaragdenstand hätte später beinahe in eine verholzte Diktatur geführt, wäre da nicht die prometheische Gabe des Feuers und die Raffinesse der Schwachen, die den sich aus einfachen (und einsamen) Verhältnissen emportricksenden Tyrannen schließlich wieder vom Thron stößt: Revolution und Konterrevolution, Korrumpierungseffekte und -versuche en masse, holzköpfige Armeen und schließlich Exil (Ruf Bilan) bzw. Verbannung (Urfin Juice) - woher der sowjetische Kinderbuchautor Alexander Wolkow (1891-1977) bloß seine Inspiration nahm?... Als Dritt- oder Viertklässler liest man es sicher anders...
Ein wirklich verschweizerter Urfin hätte auch anderes getan, als urfinplötzlich erscheinde Großmachtspläne aus dem Holzozän beinahe gesslerisch in die Umsetzung zu führen. Er wäre doch eher ein Stiller. So mit Dienstbüchlein und Blättern im Brotsack. Oder nicht? Was wissen wir eigentlich über die Eidgenossen, die seit 18 Jahren auch Nachbarn der Kinder der DDR sind? Ein Schweizer Spiel (Le Jeu Suisse) nicht namens Biografie, wie man nun folgerichtig meinen könnte, sondern HELVETIQ (vgl. hier) zieht aktuell aus, um Aufklärung zu leisten. Und dies an einer Stelle und auf einer Karte sogar mit Eisenhüttenstädter Hintergrund:
"Quel est le nom du grand pédagogue suisse de la seconde moitié du 18ème siecle?"Immerhin trägt eine Schule der Stadt den Namen des Pädagogen von Kopf, Herz und Hand und der Liebe wie des Glaubens.
Wenn bei HELVETIQ die Würfel gefallen sind, könnte eine Straßenszenerie aus unserer Stadt mit schönster Schularchitektur der ganz zeitigen 1950er Jahre die nicht allzu schwere, aber schöne Frage nach dem großen Schweizer Pädagogen des 18. Jahrhunderts begleiten.
Und wenn sich unsere Stadt schon derart in die Gesellschaftsspiele dieser Welt schleicht, sollte man vielleicht das E.i.h.%C3%BC. etwas ausdehnen. Zum Beispiel ins Nirgendwo der Grundrisse einer besseren Welt. Wer sich nun fragt, was diese bemühte Andeutung nun schon wieder soll, versteht nicht, dass damit ein äußerst weit hergeholtes, stereotypes und ziemlich unsinniges Wortspiel erzwungen werden soll: In der Schweiz liest Wilhelm Tell, in unsrer Heimat Jürgen Teller. (Na ja, schön wär's)...
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