Wenigstens was die im weltumspannenden Datennetz "Internet" verfügbaren Berichterstattungen zu Eisenhüttenstadt angeht, ist der Winkel, über den wir hier gern nachsinnen, momentan Ballungsgebiet. Als erstes fällt die Anzeigenberichterstattung gegen den bis zum Januar noch amtierenden Bürgermeister Rainer Werner ins Auge. Der Hinweis auf die Amtszeit muss mitgeschoben werden, denn ein Teil der Eisenhüttenstädter spricht schon in einem ihn eigenen Alltagsfutur ehrfürchtig von der "Bürgermeisterin", wenn der Schnack auf die kommende Amtsinhaberin schwenkt. Die Anzeige wegen vermuteter Untreue und Vorteilsnahme im Amt stamm aus der selben Richtung, aus der auch die Anzeigen in einem lokalen Anzeigenblatt im Wahlkampf zu finden waren. Dem aktuelle Amtsinhaber wirft also die Initiative "Werner in Rente" Unlauterkeit in seiner Beziehung zu artecom (Freilichtbühnebespielung, Stadtfestorganisation) vor und verhagelt ihm damit womöglich den von ihr selbst auf ihrer Website ausgerufenen "wohlverdienten Ruhestand". Die Märkische Oderzeitung hat eine kleine Zusammenfassung zum Vorgang in der Ausgabe vom Montag: Anzeige gegen Bürgermeister. Wer mag, kann sich in das große Mutmaßen über die eigentliche Motivation von "Werner in Rente" einmischen und die entsprechenden Seiten in Werner Rupperts Problembuch "Blühende Landschaften" nachlesen (S.170ff.). Eine große Freude ist es aber in keiner Hinsicht und der Erkenntnisgewinn wiegt die Novemberstimmung, die sich bei der Lektüre wie von selbst und auch im Hochsommer einstellt, einfach nicht genügend auf, als dass wir uns daran beteiligen möchten.
Beteiligen, wenigstens als Zuschauer, wollen wir uns dagegen am Eisenhüttenstadt-Dossier, das der RBB in seinen
20 Jahre 20 Orte Erinnerungs-Flash eingebettet hat. Wahnwitzigerweise haben sich die Macher der Seite darauf eingelassen, den berühmten EisenhüttenStadtschreiber Andi Leser aufzunehmen und abspielbar zu machen. Er hockt ganz schön in der üblichen Falle, denn Eisenhüttenstadt lässt ihn wie so viele, die hier einst eingewurzelt waren, nicht los. Und nun muss er darüber öffentlich sprechen. Solch medientherapeutische Selbstbespiegelungen haben natürlich immer etwas Entblößendes. Den Hörer freut's. Wie es dem Leser dabei geht, wird oft ignoriert... Auffindbar wird der wohlklingende Tonschnipsel zu dieser Stadtwahrnehmung, wenn man sich zur Seite "Eisenhüttenstadt" vorarbeitet (z.B. über die Site-Map) und dort dann Sta(h)linstadt aufruft.
Dort hört man u.a. die einleuchtende These der Aktivierung von Erinnerungen durch das Verschwinden der Orte. Andererseits aktiviert man die Erinnerung auch durch die Niederschrift im Web und insofern ist die Eisenhüttenstädter Internetkultur auch eine Sammelbewegung, die sich in durch die Umwandlung mentaler Trackbacks in blogosphärische Form gießt. Ich erinnere mich beispielsweise, wie ich Andi Leser in den 1990ern im Schuppen des Club Marchwitza durch Vermittlung eines einmal beinahe Bürgermeisterkandidaten kennenlernte...
Auch das berühmte Stichwort "Perspektive Museumsstadt" mit Bewohnern mit Hauptberuf Bewohner fällt und zwar als Szenario für die dauerhafte Freisetzung aller lokalen Arbeitskräfte. Da sich aber aktuell die Papierfabrik in Höhe Vogelsang zwischen Bahnlinie und Kanal in einer Üppigkeit ausdehnt, dass selbst bei einem sofortig einsetzenden Rückbau Arbeitsplätze auf längere Sicht erhalten bleiben müssen, erweist sich diese Überlegung im Moment als eine neckische Utopie. Auch das Ende des Stahlbooms verzögert sich entgegen Andi Lesers Prognose bzw. geht erst wieder los, wie dpa heute tickert: Talfahrt gestoppt:
ArcelorMittal in schwarzen Zahlen. Nicht ganz so unwahrscheinlich ist angesichts der Stadtumbauerfahrungen dieses Jahrzehnts, dass der sich einst bist ins Fürstenberg hineindickende Eisenhüttenstadt-Stadtgletscher auf das denkmalgeschützte Planungsgebiet der 1950er zusammenschmilzt und sich Andi Lesers Abscglußvision bewahrheitet.
Kompakt, mit kleiner Innenstadt - schon hat das Stadtmarketing der Rumpfstadt einen seriösen Slogan für die Zukunft. Bei nur noch vier Wohnkomplexen ist das alte Wort "Viertel" dann auch das treffende.
Eisenhüttenstadt - Wir schmelzen im Vierviertel-Takt. Das klingt!
Neben einem sehr hörenswerten, weil für den Erinnerungskosmos der älteren Eisenhüttenstädter typischen Einblick in das Leben der Kosmetikerin des Kosmetiksalons im Schatten des Luniks findet sich ein Beitrag der "Brandenburg Aktuell"-Sendung vom 31.03.2004, in dem in einer Straßenumfrage die Umbennungsstimmung der Eisenhüttenstädter ergründet wurde: "Eisenhüttenstadt - das klingt nach stählernen Ungetümen aber doch nicht nach Lebensqualität. Also weg mit dem uncoolen[sic!] Ortsnamen..." Anscheinend weder die Planstädter noch der Fürstenberger hatten jedoch 2004 Interesse an einem Gesamtkomplex "Fürstenberg/Oder". O-Ton: "Also verrückter geht's wohl nicht. Ich halte davon gar nüscht." Recht hat die Dame.
Man muss den damaligen Stadtoberen danken, dass sie sich auf diese Idee nicht einließen - andererseits waren die Wissenschaftler mit ihrer Imagestudie generell in Stadt- und Stadtverwaltung nicht sonderlich wohlgelitten. Aber Eisenhüttenstadt in Fürstenberg umzubenennen, dass wäre fast wie wenn man einen etablierten Markennamen, z.B. Raider, einfach ummodelt, in z.B. Twix. Das kann niemand wollen. Die einzig akzeptable Neubenamsung wäre das 2004 längst wieder freie "Karl-Marx-Stadt" gewesen, denn so sollte die Wohnstadt neben dem Stahlwerk eigentlich auch mal heißen. Oder - zeitlos und wunderschön - Friedensstadt.
Keine der beiden naheliegenden Alternativen für den neuen Stadtnamen war der WELT 2004 eine Erwähnung wert, als sie die Möglichkeit einer Namenszäsur kommentierte:
Fürst, Stalin, Eisen, Fürst. Statt dessen regte der Autor Ulli Kulke die Umbenennung in Altenberg an. Als Freund der wunderschönen Caféhaus-, Prater- und Volksgartengeschichten kräuselt man positiv überrascht die Brauen und ruft erfreut aus: Oha! Das ist mal ein Schnitt. Aber einer mit Schick!... Leider dachte aber der WELT-Kommentator in abgedroscheneren Bahnen und nicht an Fiaker und Marillenknödel. Sein Vorschlag fußt in der schnöden, altbekannten demographischen Entwicklung, die eine "Wrinkling City" wie Eisenhüttenstadt nunmehr als Schrumpelstadt ausweist.
Ob Joachim Bessing Ulli Kulkes Text kannte, bevor er seine kurze Schilderung über eine Reise - "geschäftlich", wie der Autor betont und damit nebenbei zeigt, dass sich hier aller Unkenrufe zum Trotz noch Geschäfte machen lassen - in die Stahlstadt auf den WELT-Server lud? Wir wissen es nicht, genießen aber den Eindruck der so richtig wie verkehrt ist und dazu oberflächlich und tiefgehend zugleich. Denn die Assoziation von ostdeutscher Mittelherbsteinöde mit dem Bregenzerwald bringt durchaus eine neue Farbe ins Spiel. Leider heißt der Text Unterwegs in Eisenhüttenstadt und nicht Unterwegs nach Eisenhüttenstadt, denn die eigentliche Stadtbeschreibung ist auf das Staunen des Außenstehenden reduziert, welches den Eingeweihten beeindruckt wie der atemlose Bericht eines heimgekehrten Amerikareisenden, der begeistert die Existenz von Wolkenkratzern verkündet. Noch vor fünfzig Jahren wäre es in der Tat eine Sensation gewesen, wenn sich kurz hinter Finkenheerd ein Telefon ans polnische Netz anschließt. Oder auch die Möglichkeit eines Telefons für jeden. Aber 2009?:
Die Straßen im Zentrum Eisenhüttenstadts waren menschenleer. Aus einem Wohnwagen an der Erich-Weinert-Allee wird Döner Kebab verkauft. Das sieht Herr Sarrazin ja nicht: die tapfere Pionierleistung der türkischen Döner-Verkäufer, die hier, auf vorgeschobenem Posten, wo sich das Telefon bereits ins polnische Netz einwählt, für Verpflegung der deutschen Landbevölkerung zu sorgen.
Ja wird denn der Imbiss in der Weinert-Allee neben dem Bestattungshaus, das sich dort befindet, wo früher die Staatsbank der DDR von Westbesuchern den Zwangsumtausch entgegen nahm, nicht mehr von Vietnamesen bewirtschaftet!? Das wäre mal eine Nachricht. Und kurios ist natürlich, in Sichtweite des einstigen Pionierhauses von einer Pionierleistung zu sprechen. Und von deutscher Landbevölkerung: Das klingt prima nach Agrargesellschaft und Bodenreformhäuslern. Passt aber nicht in eine Stahlwerkersiedlung.
Zur Verpflegung der Berliner Tagesbesucher empfehlen wir übrigens eher als die Currywurst am Stand ein Deutsches Haus im Ortsteil Fürstenberg, dass auch Pferdefleisch auf der Karte hat, recht gemütlich eingerichtet ist und seinen Servierinnen mit der Zeit sicher auch noch etwas weltläufigere Dezenz angewöhnen wird. Hier steht das Bollwerk gehobener Kost gegen den vom Autor registrierten Burger King. Der Tipp geht auch an Andreas Ludwig, den Direktor des Museums für Alltagskultur der DDR, der dem weitgereisten Besucher auf die Frage, wo es in der Stadt etwas zu essen gäbe, zunächst nur mit einem Schweigen zu antworten und dann mit "Zu Hause oder in Polen" vermag. Denn so teuer ist das Restaurant im Herzen des alten Fürstenbergs gar nicht (jedenfalls verglichen mit dem Leipziger Falco). Dafür gibt es da natürlich keine Schweinebacke aus spanischen Hutewäldern oder Meerwolf aus der Vendée. Für eine solide Stärkung nach einem Geschäftsbesuch in Eisenhüttenstadt sollte es aber reichen. Leider muss man auch auf Filet vom notgeschlachteten Bregenzer Waldrind verzichten. Die Verkettung ist Joachim Bessing dennoch beeindruckend gelungen:
"Pius Feurstein, der dort mein Bergführer war, erzählte mir übrigens vom diesjährigen Almabtrieb, bei dem ein Rind, wie er sagte „zu schüchtern“ wurde, aus der Herde brach und tagelang im Wald verschwand. Sein Stiefbruder schließlich stellte das Rind in einem Hohlweg und erschoss es auf der Stelle. Daran musste ich denken, auf der langen dunklen Heimfahrt vom Land in die Stadt."
Mit Stadt meint der gebürtige Bietigheimer, der sich eigentlich auch sehr gut mit Tristesse Royale auskennt und sich anscheinend doch nicht recht in Eisenhüttenstadt einfühlen konnte, natürlich Berlin. Insofern ist die zitierte Stadt-Land-Polterei gar nicht arrogant gemeint. Denn von Berlin aus gesehen ist alles in Deutschland nur ein Dorf, auch München, Hamburg, Köln oder Markgröningen. Insofern wird Eisenhüttenstadt an der Stelle sogar etwas geadelt.
Da fällt es gar nicht mehr leicht, auf den vergleichsweise sehr guten und sachlichen Eisenhüttenstadt-Report im Schwäbischen Tagblatt hinzuweisen, der aber auch schon etwas zurück datiert. Am 15. Oktober erfuhren die Leser der Lokalzeitung, was die Metapher "Volle Pulle" für Rainer Werner und "seine Stadt" bedeutet(e). Zutreffend und durchaus sympathisch wird der verkniffen dreinschauende Altbürgermeister als Aktivbündel porträtiert und am Ende doch in die erbarmungslose Realität der lokalen Wahlentscheidung gestürzt.
"Ruhestand, der schien für den 52-jährigen Werner lange Zeit mindestens
so weit weg wie Eisenhüttenstadt von den beschaulichen Kleinstädten im
Südwesten Deutschlands."
"Anfang Januar ist Schluss, nach über 20 Jahren "volle Pulle"."
Vielleicht wartet auf ihn trotzdem noch eine "Volle Pulle Leben". Dank der neu entstehenden Parkplatzsituation am Bahnhof wird nun der Blick in die Welt, der durch eine Fahrt vom Land in die Stadt mit dem Regionalzug immer mal, wenn auch nicht immer nach Plan, möglich ist, leichter. Damit sind nun endlich alle Quellen des Tages zu Eisenhüttenstadt in einen Text gebunden und damit soll der Chronistenkür hier auch genüge getan sein.