Eisenhüttenstadt Blog

Was ist denn hier los? Erwartungsvoll kehre ich nach hundert Jahren Quasiabstinenz vom Virtuellen Eisenhüttenstädtern auf Heimatboden zurück, freue mich auf Millionen Impressionen vom Stadtfest 2006 und finde stattdessen eine mittlere Flaute vor... Zum Glück gibt es Flickr und dort findet sich diese exzellente Bild, das, wenn es denn repräsentativ ist, das rummlige Ereignis zumindest als Lichtspielerlebnis ersten Ranges ausweist:

Sowohl die Märkische Oderzeitung, die in dem Feierspaß "die größte Party des Landes" sieht, wie auch die Märkische Allgemeine, bei der das Ganze nur nüchtern "Volksfest" heißt" ziehen Bilanz:

14 Strafanzeigen, eine Ordnungswidrigkeits-Anzeige, 2 zwei Platzverweise und vier Blutproben wegen Verdachts des Fahrens unter Alkoholeinfluss - das ist die polizeiliche Bilanz des Volksfestes am Wochenende in Eisenhüttenstadt. (MAZ)

bzw.

Allein zu den Konzerten von Otto Waalkes und Chris Normen kamen zusammen rund 70 000 Zuschauer. Die Künstler ließen sich von der Party-Stimmung in Eisenhüttenstadt anstecken und gaben Konzerte, die die Massen mitrissen und begeisterten. (MOZ)

Es ist soweit. Ich gehe in Entzug. Für zwei Wochen verlasse ich Stadt, Land, Fluß und beschäftige mich mit allem Möglichen, nur nicht mit Eisenhüttenstadt (es sei denn, es findet sich irgendwo ein PC mit WWW). Dieses Jahr müsst ihr die zweite Augusthälfte mit Brücken-, Stadt- und Haltmichfest ganz ohne mich durchleben und ich hoffe, es findet sich hier, wenn ich wiederkehre, das eine oder andere dokumentarische Stückchen, mit dem ich nachvollziehen kann, was mir entging. Und damit der Abschied (mir) nicht so schwer fällt, habe ich aus dem Millionen Fotos großen Bildarchiv der Eisenhüttenstadt-Blogautoren eine Impression vom Brückenfest 2006 herausgesucht. Dies als mein Gruß an die Zurückgebliebenen:

Riesenrad ab?

Nein: Es dreht sich nur durch und das ohne Unterlass. Und wenn man in der Gondel sitzt und die Hand des Mädchens drückt, in das man sich verliebt, dann ist dies hier das Paradies...Hoffen wir mal das Beste für die diesjährigen Feste!!

Gelesen habe ich es leider noch nicht, aber wenn man dieser Buchbesprechung in der Schweizer Zeitschrift Le Temps glauben kann, müssen wir die Eisenhüttenstadt-Bibliografie anscheinend um einen Titel erweitern. In seinem letzten Buch "Las cuatra fugas de Manuel" erzählt der im Mai 2002 verstorbene kubanischstämmige Schriftsteller Jesús Díaz die Geschichte des kubanischen Physikers Manuel Desdín, der 1991 ablehnt von einem Forschungsaufenthalt an einem Institut für Tieftemperaturphysik im damals sowjetischen Charkow nach Kuba zurückzukehren. Die Flucht gen Westen scheint ihm die einzige Möglichkeit. Sein Weg führt ihn zunächst nach Basel, wobei diese erste Flucht schnell in der Rückführung nach Charkow endet. Die zweite Flucht führt ihn an die Sowjetisch-Finnische Grenze, die er nicht zu überqueren schafft, sich dafür aber Probleme mit einer Prostituierten und dem Kubanischen Konsulat in St. Petersburg einhandelt. Hierauf folgt die Flucht zurück, nämlich mühevoll nach Moskau. Der nächste Versuch bringt Desdín über Polen per Fähre nach Schweden, wo ihm ebenfalls kein politisches Asyl gewährt wird, da Kuba dort als "einzige Hoffnung in der dritten Welt" gilt.

Zurück nach Polen abgeschoben begibt er sich in die Hände von Schleusern und vernichtet, geheilt durch die Schweizer und Schwedischen Erfahrungen, seinen kubanischen Pass. So ist seine vierte Flucht, diesmal im Frühling, endlich erfolgreich und führt in nach...Eisenhüttenstadt:

Le printemps est déjà là, mais pas vraiment à Eisenhüttenstadt, bourgade sombre et minière de l'ex-Allemagne de l'Est, grouillante de skinheads peu amicaux, mais où cette fois Manuel est admis comme requérant d'asile.

Ausgerechnet in dieser düsteren Skindhead-Stadt wird ihm Asyl gewährt und so schlägt er sich in der Folge als Dolmetscher für einen Iraner durch, der einen regen Automobilhandel mit Offizieren der abziehenden Roten Armee betreibt.

In deutscher Übersetzung gibt es das Buch noch nicht, die französische ist jüngst bei Gallimard erschienen und falls ich irgendwo mal einen Blick hineinwerfen kann, werde ich natürlich die Passagen zu Eisenhüttenstadt für unser kleines Eisenhüttenstadt-Literaturarchiv abschreiben...

Die in einschlägigen Büchern der 1950er und 1960er Jahre zu findenden Stadtmotive Eisenhüttenstadts, die sich der Künstler aneignet und zu seinem Ausgangsmaterial werden lässt, verwenden eine Sprache der Fotografie, die sich eines utopischen Gedankens bedient. Sie verdeutlicht die Vorstellung der Einflussnahme architektonischer Gestaltung auf die Formung der Gesellschaft.

Während wir uns z.B. hier mühen, die Entwicklungen in Eisenhüttenstadt je nach Laune, Stimmung und Anwesenheit fotografisch zu erfassen, geht der in Cottbus gebürtige Thomas Ruff-Schüler Thomas Neumann (sh. auch hier) einen Schritt weiter (bzw. zurück) und verfremdet und filtert ältere Aufnahmen Eisenhüttenstadts in einer Form, die man von einem Ruff-beeinflussten Fotokünstler erwartet.
Die zehn im Netz abrufbaren Arbeiten der Bilder aus Utopia gefallen mir ganz gut, jedenfalls besser als bei der Einsicht in den erhältlichen Katalog (mehr hier, PDF), den es auch im Dokumentationszentrum zu kaufen gibt.

Die auf der Website anzutreffende Aussage "Das ist der Mann, der Eisenhüttenstadt durch den Code seiner Fotografien verändert" geht mir allerdings doch zu weit. Vielleicht würde sie zutreffen, wenn er seinem Lehrmeister nacheiferte und mal eine Fassade vor Ort mit seinen Arbeiten versehen würde. Dann aber bitte etwas gelungener als bei der in meinen Augen gescheitertem Arbeit Thomas Ruffs an dem wirklich unschönen Bibliotheksneubau der FH Eberswalde durch die späteren IKMZ- und Allianz-Arena-Architekten Herzog & de Meuron.

Verfremdet und verspiegelt: Lindenalle-Hochhaus mit Planschbecken in der Thomas Neumannschen Sicht.