Ich will nach Eisenhüttenstadt! Nein, nicht "zurück", sondern wirklich nach Eisenhüttenstadt, als wäre es das erste Mal und ich Tourist. Die Ursache für diese eigenartige Wochenend-Endstimmung ist die aktuelle Tourismusbroschüre "Mehr Brandenburg...das Oder-Spree-Seengebiet", die man hier bekommt: vor dem Zuckbäckerglanz der Kameltränke schwingt sich ein junges Mädchen lachend über zwei Seiten gedruckt auf dem Fahrrad um die Kurve und der dazugehörige Beschreibungstext träufelt dann noch den Zuckerguß auf das Zuckerbäckerbackwerk der Eisenhüttenstadt - "ein lebendiges Denkmal".
Ein wunderschönes Leitbild hat der Tourismusverband Oder-Spree-Seengebiet e.V. da entworfen und es ist zu hoffen, dass der Funken dann auch tatsächlich auf die Stadt überspringt: "Die Planstadt Eisenhüttenstadt ist wirklich jung und dynamisch" und obendrein die "kleine Schwester" der Autostadt Wolfsburg, wobei ein solcher Vergleich der sozialistischen Idealgemeinschaft mit der nur 12 Jahre älteren Volkswagen-Metropole vor 1989 ganz sicher eine Aktennotiz und eventuell den Verlust des Studienplatzes nach sich gezogen hätte. Und auch ohne ideologische Aufladung hinkt er ein klein wenig, ist aber als rhetorisches Mittel, um dem ahnungslosen, am Brandenburg-Tourismus Interessierten einen Leitanker zu geben, legitim.
Ja es gab und gibt sie noch: die Eisenhütten in der Eisenhüttenstadt. Allerdings wird diesen Repräsentanten der lokalen Bautradition im Gegensatz zu den Bauwerken der nationalen keine touristische Qualität zugeschrieben, denn sie wirken weder jung noch dynamisch noch denkmalschutzwürdig...
Die eigentliche Stadtbeschreibung (S. 48/49) in der Broschüre wird
eröffnet mit dem Slogan "Gegensätze ziehen sie an?...", der seine
optische Unterstreichung durch die Gegenüberstellung eines Metallurgen
am "Wildbach" Hochofenstahl mit zwei Anglern in der grünen
Oderauenlandschaft erhält.
Das Pfund, mit dem man hier kräftig wuchert, ist natürlich die "ehemalige Modellstadt", d.h. das heutige
"Flächendenkmal, das auch aus zeitgenössischer Sicht soziale Lebensqualität und kulturelle Nähe zu den Menschen ermöglicht."
Das Potential hierfür ist in jedem Fall gegeben, an der Umsetzung wird noch ein bisschen geschraubt. Nächste Programmpunkte sind erwartungsgemäß das Dokumentationszentrum "Alltagskultur der DDR" ("Wie war das dort, wie war das doch..."), ein Besuch im AEH, das hier netterweise noch EKO ("EKO-logisch!") heißt und ein Ausflug in die "Beschaulichkeit im historischen Stadtteil Fürstenberg an der Oder.":
"Enge Gassen mit liebevoll restaurierten Häusern zeigen, dass hier das Leben auch vor dem großen Stahlboom lebenswert war."
Für ein vollständiges Bild der Stadtgeschichte wäre eigentlich auch ein kleiner Informations- und Erinnerungsort zu Rolle Fürstenbergs als Standort kriegswichtiger Industrien und eines Kriegsgefangenenlagers angebracht, was allerdings weniger eine Aufgabe des Tourismusverbandes und mehr die der Stadt selbst ist. Die Nische, die es im Städtischen Museum dazu gibt, ist für den normalen Besucher vermutlich nur schwer zu entdecken und wird der Sache vielleicht auch nicht so ganz gerecht...
Der Wassertourismus wird gezielt mit der Aussicht auf einen "moderne Marina errichtet mit allen Versorgungsmöglichkeiten" und "ausgezeichnet mit der Gelben Welle" angesprochen. Und schließlich können alle, die nicht mit eigenem Boot anreisen, auf der MS Fürstenberg auf Oder-Rundfahrt gehen, ein Vergnügen dem wir uns hoffentlich im Sommer auch mal einmal hinzugeben versuchen.
Dann wandern Sie am besten an der himmelblauen Speckarchitektur der Vorzeigeschule 2 vorbei zum ehemaligen Versorgungszentrum des fünften Wohnkomplexes.
Eine derartige Verwahrlosung inmitten eines bewohnten Stadtquartiers zu entdecken, dürfte selbst in hart vom Abwanderungsschicksal geschlagenen Gemeinden Ostdeutschlands Seltenheitswert besitzen.
Alles in allem wird hier ein exzellentes und erstaunlich frisches Stadtbild gezeichnet und gerade die Steilvorlage "jung und dynamisch" sollte für zukünftige Stadterneuerungsmaßnahmen zum Leitmotto werden. Denn selbst wenn hier - wie es nun mal für solche Broschüren notwendig ist - das, was da ist, auf Hochglanz poliert wird, zeigt sich doch ganz deutlich, wo und in welcher Form touristische (und stadtkulturelle) Potentiale aktivier- und ausbaubar sind.
Desiderat bleibt meiner Meinung nach die Erschließung der Wohnkomplexe I-III mit entsprechenden Erklärungstafeln und/oder ein Stadtführer, der im Stile eines ambitionierten Kunstreiseführers nicht nur die Oberfläche kurz beschreibt, sondern auch Tiefenwissen vermittelt. Solange so etwas fehlt, gerät die Aufforderung "Gehen Sie auf Spurensuche" (S. 49) für alle Interessierten nur zu leicht zur einer mühsamen Schnitzeljagd. Die Spuren sind natürlich auch so vorhanden, aber für Ortsfremde nicht immer und leicht erkennbar und einzuordnen. Wer übrigens als Tourist nicht unbedingt im Hotel Berlin - das allerdings preislich immer noch ganz günstig liegt - nächtigen möchte, findet eine überraschend große Auswahl an Privatzimmern und Ferienwohnungen, in denen man nicht nennenswert mehr zahlt, als in einer normalen Jugendherberge. (aufgelistet auf den Seiten 101f.)
[Mehr Brandenburg...das Oder-Spree-Seengebiet. Broschüre des Tourismusverband Oder-Spree-Seengebiet e.V. Beeskow: 2006(?)]
Eine weitere aktuelle und sehr zur Lektüre empfohlene Broschüre mit Bezug zur Stadt ist ausgerechnet nicht auf die Flächendenkmal-Quartiere bezogen: 40 Jahre WK VI: Den Sechsten im Sinn [Eisenhüttenstadt: Stadt Eisenhüttenstadt, Dez. 2006]. Als Zielgruppe gilt laut Vorwort die Wohnbevölkerung des Wohnkomplexes, was ein bisschen schade ist, denn entgegen dem Klischee stellt auch der VI. Wohnkomplex wenigstens für am Thema DDR-Architektur- und/oder Kulturgeschichte Interessierte eine äußerst reichhaltige Fundgrube dar, die der Kernstadt in der touristischen Vermarktung unbedingt als Ergänzung zur Seite gestellt werden sollte. Wenn auch städtebaulich nicht durchgängig spektakulär, gibt es doch einige Bereiche, allen vorran die Achse der Fröbelringpassage bis zur heutigen Gesamtschule III, mit einer nicht geringen stadträumlichen Qualität.
Und während die denkmalgeschützten Komplexe der Stadt für die Stadtentwicklung nur relativ enge Entwicklungsspielräume zulassen, scheint hier perspektivisch das vom Tourismusverband so betonte dynamische Element am ehesten und grundlegensten kreativ umsetzbar zu sein.
Das Heft bietet einen Rückblick auf die Entwicklung von der Grundsteinlegung im Diesterwegring 1965 bis zur Umgestaltung der Fröbelringpassage und dem Vorplatz von 2002 bis 2005. Während die redaktionellen Begleittexte sich mehr oder weniger auf einen chronologischen Abriss beschränken, liegt das eigentlich Originelle der Publikation in den zahlreichen Zeitdokumenten. So kann man sich mithilfe der Zeitungsausrisse in den damaligen journalistischen Duktus und in das Lebensgefühl der jeweiligen Zeit nähern:
"Mit einem dreifachen Hurra dankten am Sonnabendvormittag die Schüler der jüngsten Eisenhüttenstädter Oberschule im VI. Wohnkomplex den Bauschaffenden für die termingerechte Fertigstellung ihrer Schule. ... Genosse Heinz Plöger, Sekrektär der Bezirksleitung Frankfurt (Oder) der SED, rief den Schülern zu: Haltet das Vermächtnis Gerhart Eislers in Ehren! Kämpft zur Ehre und zum Ruhm unserer Republik."
schrieb beispielsweise die Lokalzeitung "Neuer Tag" am 02.09.1969 anlässlich der Eröffnung der Gerhart-Eisler-Oberschule. Wir wissen natürlich, wie sehr die Mehrzahl der bei solchen Fahnenappellen anwesenden Schüler diese Aufrufe auf sich persönlich bezog und dass es irgendwie - entgegen Adornos Diktum - auch ein subjektiv richtiges Leben im objektiv falschen zu geben schien. Die Schlagzeile "Guter Einkauf in der neuen Kaufhalle" (Neuer Tag, 17.12.1974) war dann für den Alltag des DDR-Bürgers doch relevanter als die Ehrerhaltung des verstorbenen Leiters des Staatlichen Rundfunkkomitees der DDR.
Erste Kundin in der Blech-Kaufhalle am Mittelganghaus war "Frau Melde aus dem VI. Wohnkomplex". Sie bekam zu ihrer Einkaufseinrichtung um die Ecke auch noch den obligatorischen Nelkenstrauß - und das mitten im Dezember. Sowohl Mittelganghaus als auch die Kaufhalle sind mittlerweile verschwunden und heute wäre der Netto-Markt in der Passage Einkaufshegemon des Wohnkomplexes, gäbe es nicht das von der Passage fußläufig erreichbare Kaufland, das nun vermutlich auch nennenswert Kundschaft aus der 1970 vom Architektenteam Klaus Krok, Hans Joachim, Dietrich Kloppstech und Wolfgang Timme sehr vorausschauend als Wiederverwendungsobjekt entworfenen Versorgungszentrum abzieht.
Der angedachte neun Meter hohe Werbeturm wurde dann bis heute nicht mehr realisiert, dafür grüßt eine kleine Leuchtfigur von grafisch etwas fragwürdiger Güte an der neu geschaffenen Einfahrt auf den den neugeschaffenen Parkplatz. Ob der Lockeffekt auch auf andere Kunden als die Rabauken, die manchmal das Glas eintreten, wirkt, vermag ich nicht beurteilen. Immerhin: ein kleines Leuchten.
Auch wenn der Futurismus eines Otto Schutzmeister mittlerweile etwas abgenutzt daher kommt bleibt die Frage nach der Zukunft eine zentrale für den sechsten Wohnkomplex.
Die Vergangenheit gibt es jetzt im offis auf 50 Seiten zusammengefasst.
Die einst in der Passage angesiedelten Nahversorgungseinheiten verschwanden nach 1990 peu à peu bzw. wurden umfunktioniert: aus der Schulspeisung wurde eine Videothek, aus dem Klubraum das Cafe-Bijou und aus dem Aufschwung lange Zeit nichts. Besonders schade ist natürlich die Auflösung der Stadtteilbibliothek. Nicht ganz so sehr vermisst man die Öffentliche Bedürfnisanstalt (3 WC Frauen, 2 WC Männer und 2800 mm PP-Rinne).
Am meisten vermisst man auch nach dem Umbau ab 2002 die kaufkräftige Kundschaft (und als Architekturnostalgiker den schönen Sonnenschutz der Gaststättenterasse, später Videothekenvorplatz).
Wie es mit der Fröbelringpassage weitergehen wird, liegt zum einen an der Kreativität und den Möglichkeiten des Quartiersmanagement (sh. auch hier), an der Bereitschaft der Wohnbevölkerung des Viertels, die Passage als (quasi-)öffentlichen Raum zu nutzen und am Ende sicher auch an den Plänen des Objekteigentümers.
Aufenthaltsqualität oder gar eine Begegnungskultur erzeugt diese "Bitte-Billig"-Einkaufskultur leider nicht. Das müssen die Menschen schon selbst leisten - und zwar idealerweise jenseits des Konsums.
Die Aufarbeitung der allgemeinen Vergangenheit des Wohnkomplexes ist mit der Broschüre "Den Sechsten im Sinn", die übrigens auch den sehr lesenswerten, allerdings schon älteren, kleinen Aufsatz "Moderne Zeiten oder Das Ende der Gemütlichkeit" von Gabriele Haubold enthält, gelungen. Und da man mit dieser Broschüre als Bündelung der lokalen Erinnerungskultur vermutlich die Einheimischen gut erreicht, fällt der nächste Schritt, die gemeinsame Ausgestaltung der zukünftigen "Belebung" des WK VI hoffentlich umso leichter.
Denn der sechste Wohnkomplex verdient Perspektive. Und zwar eine, die über eine bloße Wohnsiedlung hinaus reicht.
Parallel dazu sollte man tatsächlich darüber nachdenken, auch in Hinblick auf den WK VI ein auf Architektur- und Erinnerungskulturtourismus zugeschnittenes Angebot beispielsweise in Form eines kleinen Stadtteilführers zu entwickeln, der sowohl die schmucken Kameltränken-Fassaden in der Kernstadt wie auch die Schmetterlingsdecher des Diesterwegrings und auch den bald verschwundenen siebenten Wohnkomplex erklärt.
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