Wenn das Thema schon einmal Dokumentation, Alltag und Objektgeschichte (vgl. hier) lautet, dann trifft es sich gut, gleich von der Theorie in die Praxis übergehen. Dass Postkarten als fernschriftliche Kommunikationsform Nummer 1 besonders in telefonfreien Zusammenhängen zur Übertragung kurzer persönlicher Nachrichten dient, ist aus Erfahrung und philokartistischer Allgemeinbildung wohlbekannt. Unter www.ddr-postkarten-museum.de gibt es für alle am Thema Interessierten eine umfangreiche Zusammenstellung zum Schließen entsprechender Lücken. Natürlich ist dann, wenn die Karte das „private Smalltalk-Medium“ darstellt (Alltag:DDR, S. 196) nicht von jedem überlieferten Poststück ein Höchstmaß an Aufschluss und Erkenntnis oder wenigstens Originalität zu erwarten.
Aber manchmal findet sich doch ein Zusammentreffen verschiedener Komponenten, die ein einzelnes Exemplar aus der Masse der Millionen herausheben.
In diesem Fall ist handelt es sich um eine an sich nicht übermäßig seltene Ansichtskarte der Hauptstelle der DDR-Ansichtskartenindustrie – Bild und Heimat aus dem vogtländischen Reichenbach. Die Bildseite der 1983 in Umlauf gebrachten Karte zeigt die Anlegestelle am Trockendock und erinnert zugleich an das mittlerweile abgerissene dazugehörige Gebäude, in der für viele Jugendliche der Stadt die erste Diskothek ihres Lebens stattfand.
Der konkreten Ansicht geht es jedoch mehr um das Element der Fahrgastschifffahrt, hier repräsentiert durch das Ausflugsschiff „Friedensgrenze“, das später vermutlich im allgemeinen Umbenennungsrausch der 1990er, aus dem auch die hohlwangige Bezeichnung Lindenallee hervorsprang, in Fürstenberg/Oder und Adler und schließlich Havel umbenannt wurde. Unter diesem Namen fährt das Fahrgastschiff heute noch und und zwar meist rund um und über den Müggelsee, von dem man mit ein bisschen Mühe auch wieder nach Eisenhüttenstadt wasserwandern kann (vgl. hier). Zum Zeitpunkt der Aufnahme war das Schiff noch relativ jung. Es wurde 1980 auf der VEB Yachtwerft Berlin-Köpenick gebaut. Und die Jugend des Schiffes passt natürlich zur Frühlingsstimmung der Aufnahme des Fotografen Gernot Lehmann aus Frankfurt/Oder.
Beschrieben wurde die Ansichtskarte mutmaßlich auf einem anderen Schiff und zwar einer Fähre, die Rostock-Warnemünde mit dem dänischen Gedser verband. Frankiert ist sie mit dem zweiten Wert des am 11. April 1983 ausgegebenen Briefmarkensatzes zum 100. Todestag von Karl Marx. Die Nachricht an sich ist insofern interessant, weil augenscheinlich ein Briefmarkensammler aus Dänemark in der DDR auf einem Besuch in Berlin (und Eisenhüttenstadt) natürlich Briefmarken mitnehmen wollte, bei der Aus- und Einfuhr jedoch am Zoll scheiterte. Er kündigt nun an, dass die Marken laut Zöllnerversprechen an seinen Eisenhüttenstädter Sammlerfreund zurückgeschickt werden und bittet darum, das Material dann wiederum per Post zu erhalten. Gestempelt ist die Karte am Tag ihrer Datierung durch den Sender zunächst in Gedser. Allerdings wurde der dänische Tagesstempel nicht auf die Briefmarke aus der DDR gedrückt, sondern ins Textfeld. Die Entwertung erfolgt mit einem gesonderten Transitstempel „Fra Warnemünde“. Es scheint also beinahe, als wäre dies kein ungewöhnlicher Fall und als sei man stempeltechnisch bestens auf Kartengrüße in letzter Sekunde eingestellt gewesen. Die erforderliche Frankierung für Ansichtskarten in der DDR lag eigentlich bei 10 Pfennig. Ob für die Postsendung vom Fährschiff ein gesonderter Tarif fällig wurde oder ob der Sender schlicht keine Briefmarke zu 10 Pfennig zur Hand hatte, kann ich leider nicht beurteilen.
Die Tatsache aber, dass jemand in Eisenhüttenstadt Besuch aus Dänemark erhält, dem ein hier erworbener Briefmarkenbestand an der Grenze abgenommen wird und der darüber aus Gedser per Ansichtskarte mit Eisenhüttenstadt-Motiv informiert und zwar im Karl-Marx-Jahr mit einem dänischen Poststempel neben einer Marke, die an den Aufstand der Seidenweber von Lyon erinnern soll, dürfte durchaus als ungewöhnlich gelten. Und da das Exemplar auf welchen Weg auch immer heute Abend auf meinen Schreibtisch gelangte, wäre es mir als sehr schade erschienen, diese Faszination am Alltagsobjekt nur für mich zu behalten.
Kommentare