(Besprechung zu: Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (2012): Alltag: DDR. Geschichten, Fotos, Objekte. Begleitbuch zur Dauerausstellung des Dokumentationszentrums Alltagskultur in der DDR. Berlin: C.H. Links. Seite zum Titel beim Verlag)
Mit leichter, aber nicht erheblicher Verzögerung liegt nun der Begleitband zur frischen Dauerausstellung im Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR auch auf meinem Arbeitstisch und verrät beim ersten wahllosen Aufblättern, dass die in Cottbus befindliche Pädagogische Schule für Kindergärtnerinnen in der Juri-Gagarin-Straße den Namen der Pädagogin und Lenin’schen Lebensbegleiterin (u.a. als Ehefrau) Nadeschda Krupskaja trug. Ungewöhnlich ist das nicht. Denn von Zwönitz bis Grimmen erinnerten diverse Kindergärten an die Frau, deren Vorname buchstäblich Hoffnung bedeutet und an die heute noch eine russische Schokoladenmarke nur sehr bedingt überzeugend erinnert.
Ein Schülerausweis auf S. 144 mit entsprechender Stempelung erinnert dagegen themennäher, wenn auch nicht minder mittelbar an die sowjetische Volksbildnerin. Die wundersame Eigenschaft von Objekten wie diesem Ausweis einer 16-jährigen, die es aus dem romanhaft abgelegen Ortsteil Grube Erna des brandenburgischen Rückersdorf (bei Doberlug-Kirchhain) zur Ausbildung nach Cottbus verschlug, liegt in den darin geborgenen diversen Lebenslinien, Erinnerungsfäden und Erzählungsansätzen, die selbst eine solche unscheinbare grüne Pappe zu einem einzigartigen Kleinod werden lassen.
Der Zweck eines solchen Dokumentationszentrums ist erstens, dieses Potential zu erhalten, in dem es zunächst einmal die Objekte erhält. Und zweitens dieses Potential zu öffnen, indem es die Objekte in einen bestimmten Zusammenhang gebracht zugänglich macht. Der Band Alltag:DDR erfüllt in jedem Fall die zweite Aufgabe erstklassig.
Für Freunde der Eisenhüttenstadtgeschichte ist er insofern doppelt relevant, als dass er einen halben Dachbodenverhau stadtspezifischer Erinnerungsstücke abbildet und andererseits eine sehr handliche Einführung des Leiters des Dokumentationszentrums, Andreas Ludwig, in die Stadtgeschichte des „letzten Monolithen“ mitliefert, wie der Architekturtheoretiker Wolfgang Kil Eisenhüttenstadt einmal nannte – wohl in Ermangelung einer Ahnung, dessen, was sich an Planstadtirrsinn in China und einigen Golfstaaten so einlöst: „Eine komplette Stadt wird aus einem Guss geplant und gebaut.“
Das Ideal der „Neuen Stadt“, in der man das Gesellschaftslabor des zukünftigen sozialistischen Deutschlands in einer Form bringen wollte, lies sich nicht konsequent monolithisch durchhalten und bis heute klaffen alte Lücken im Stadtraum, zu denen sich neue gesellen. Aber man kam den Ideal erstaunlich nah, wenn man die zum Teil erheblichen Schwankungen nicht nur ästhetischer Art in der Gesamtaufbaulinie der DDR berücksichtigt. Wenn Andreas Ludwig schreibt
„Die Idee einer „sozialistischen Stadt“ entwickelte sich also nicht nur rein nach Plan, sondern auch in Auseinandersetzung mit den sozialen Realitäten vor Ort“
darf man sich durchaus ein "(und in Berlin)." dazudenken. Der Autor illustriert dies knapp an der Umplanung des Aufbaus der Schwerindustrie in der DDR nach dem 17. Juni und verdeutlicht, dass die wirklich gloriosen Aufbaujahre vermeintlich unendlicher Möglichkeiten Mitte der 1950er de facto schon wieder verklangen.
Die stadtspezifische Objektgeschichte schlägt in sympathischer Weise einen kleinen Bogen ins Davor: Vier Brocken Glasschlacke aus der Fürstenberger Glashütte, gefunden in einem Neubauinnenhof des II.Wohnkomplex führen „als letzte Spuren“ in eine bereits in kleinem Umfang industrialisierte Welt, die hier vor der neuen Roheisenzeitrechnung existierte, dieser letztlich und recht früh aber geopfert wurde. Auch das gehört zur Geschichte der Stadt.
Die sehr lesenswerte Objektgeschichte der vier Glasbröckchen skizziert an, welche umfängliche Erinnerungsketten sich noch in den unscheinbarsten Dingen finden – jedenfalls sofern es noch jemanden gibt, der sie zu knüpfen versteht. Von diesen abstrakten Objekten ausgehend werden zunehmend deutlich lesbarere Gegenstände (eine Verdienstmedaille des Eisenhüttenkombinates, Otto Schutzmeisters Gemälde „Eisenhüttenstädter Abend“ aus dem Jahr 1978, Karl Mundstocks Aufbaustadt-Reportage „Helle Nächte“, Pläne, Fotos, Dokumente) präsentiert. Die Beschreibung des jeweiligen Verhältnisses des Malers Otto Schutzmeister und des Schriftstellers Karl Mundstock zu Eisenhütten- bzw. Stalinstadt kann als exemplarisch für das gelten, was viele der - falls man es so sagte – schöpferisch Werktätigen an diesem Reißbrettprojekt für den Weg zum Neuen Menschen faszinierte.
Dass intellektuell vielleicht etwas aggressiver gestrickte Akteure mit dem Planstadttraum und seinen Normierungsidealen vergleichsweise wenig Positives verbanden, hätte man zusätzlich erwähnen können. Allerdings ist dieses Kapitel der planstadtgeschichtlichen Aufbereitung noch generell kaum geschrieben, so dass ein derartiger Schlenker den Band vielleicht überstrapaziert hätte.
Auch geht es Buch und Ausstellung ja nur in einem Kapitel um Eisenhüttenstadt und Objektgeschichten wie die zum Entlassungsschein eines fast 18-Jährigen aus dem Arbeitserziehungs-Kommando Bitterfeld zeigen bemerkenswert sachlich formuliert, wie brüchig und brechend die gesellschaftlichen Ideale der DDR wirkten, wenn man sich der Norm entzog. Und zwar republikweit und in Eisenhüttenstadt vielleicht sogar einen Tick lückenloser.
Die vorliegende Dokumentation offenbart die Vielschichtigkeit der Positionen, die man zu diesem obskuren Objekt der deutschen Geschichte genannt DDR einnehmen kann. Sie zeigt die stadtplanerischen Euphorien genauso, wie die Paranoia des Überwachungssystems. Sie verweist auf kleinbürgerliche Konsumträume wie auf rebellierende Jugendkulturen. Sie bildet die herzige Alltagskommunikation per Ansichtskarte neben dem subversiven Ideenpool der Mail-Artists und systematischen Verletzungen des Postgeheimnisses durch die Staatssicherheit ab.
Viele dieser Phänomene haben sich sicher in der angedachten sozialistischen Idealgesellschaft Eisenhüttenstadts kontrastreicher ausgeprägt als in anderen Teilen der DDR. Daher ist die Würdigung der Eisenhüttenstadtgeschichte im Kontext der Alltagsgeschichte der DDR nicht nur deshalb angemessen, weil sich das Dokumentationszentrum hier – am vermutlich geeignetsten Standort überhaupt – befindet. Sondern weil man mit einem intensiven Auseinandersetzung mit dem gebauten Raum, der hier anzutreffenden Identitäts- und Mentalitätsgeschichte und nicht zuletzt im bis heute deutlichen Transformationsschmerz der Stadt im Nach-Sozialismus etliches dessen, was den DDR-Alltag auszeichnete, wie unter einem Vergrößerungsglas re- und dekonstruieren kann. Dass diese Rolle nicht jedem in Eisenhüttenstadt gefällt, ist klar. Aber weder ein Ostalgie-Festival noch ein Verdrängungswettbewerb könnten dieses besondere Potential Eisenhüttenstadts annähernd ausschöpfen.
Ausstellung und Begleitband, die bei dieser komplexen Gemengelage vor allem die Rolle übernehmen, Anknüpfungs- und Einstiegspunkte zu benennen, weisen einen Weg, wie Eisenhüttenstadt als erste und vielleicht konsequenteste sozialistische Stadt Deutschlands eine zentrale Rolle als Erinnerungs- und Erfahrungsort der jüngeren Zeitgeschichte übernehmen könnte. Die gesellschaftsübergreifende Auseinandersetzung mit dem Spuren der DDR in der deutschen Gesellschaft hat jedenfalls, trotz der von den Autoren erwähnten, ausufernden Forschungsliteratur, eigentlich erst begonnen. Und zwar vor allem auch an der dialogischen Schnittstelle zwischen fachwissenschaftlicher Durchleuchtung und individueller Biographik.