Wer den Eisenhüttenstadt-Blog ab und an verfolgt, wird es ahnen: Geht es um Artefakte zur Eisenhüttenstadt-Geschichte geht, sind wir hemmungslos materialbesessen. Wir suchen, und wir finden auch manchmal, meist unerwartet in Antiquariaten, auf Dachböden oder im Ansichtskartenfachhandel. Und so kommt es, dass sich in den zwei, drei Mappen, die mittlerweile zusammengekommen sind eine Art Nachbereitung zu dem gestern Abend von der ARD gezeigten und durchaus sehenswerten Dokumentarfilm „Freundschaft! Die Freie Deutsche Jugend“ von Lutz Hachmeister und Mathias von der Heide (vgl. auch hier) ein ganz gut passendes Blatt mit der Schilderung vermutlich einer jungen Eisenhüttenstädter Lehrerin aus dem Mai 1983 findet, dessen Text wir unten dokumentieren. Ob es Teil eines Briefes war oder Teil eines Tagebuches, lässt sich schwer rekonstruieren. Der Mangel an einer konkreten Anrede und die Datierung weisen allerdings eher auf letzteres hin.
Und dann los zum langen Marsch, die Straße der Republik hinunter und dann - je nachdem, zu welcher Schule man gehörte - nach rechts oder links in die Leninallee einschwenken, immer mal wieder stehen, dann wieder gehen, vom Sprecher ausgerufen hören, wohin man gehörte, die Genossen aus Kreis und Stadt auf der Tribüne vor dem Theatergrüßen und die Fahnen und Transparente recken, danach rechts Richtung Platz des Gedenkens und dann los in den freien Tag. So in etwa lässt sich die typische Maidemonstration in Eisenhüttenstadt abstecken. Die ganz engagierten Oktoberklub-Fans sangen dann auf dem Heimweg vor sich hin: "Hier schaff ich selber, was ich einmal werde./Hier geb' ich meinem Leben einen Sinn./Hier hab' ich meinen Teil der Erde./Der kann so werden, wie ich selber bin!" und glaubten fest daran.
Die weniger Engagierten FDJodler zogen sich schnell um und gingen zur Schießbude auf dem Rummelplatz. Auf dem undatieren Bild der Magistrale ist der Umzug schon vorrüber - vermutlich zwei oder drei Monate.
Die kurze Innenansicht zum Maiaufmarsch des Jahres 1983 erweist sich als ein schöner Beleg zur real existierenden Feiertagskultur der DDR in den 1980er Jahren und bestätigt in gewisser Weise einiges von dem, was der Dokumentarfilm zeigte, was man auch in Helmut Dziubas sehr schönem Film „Erscheinen Pflicht“, ebenfalls aus dem Jahr 1983 (sh. auch hier), sah und was man mitunter aus eigener Erfahrung kannte.
Wer ähnliche Dokumente besitzt und mit uns auf dieser nicht zuletzt auch als virtuelles Erinnerungsalbum gedachten Webplattform teilen möchte, ist dazu sehr herzlich aufgerufen.
Die Namen der beteiligten Personen wurden verändert.
Eisenhüttenstadt, 1. Mai 1983
Immer wieder ist es schön diesen Tag zu erleben.
1983 beginnt er sonnig. Das Rot der Fahnen und das Grün des Frühlings bilden einen lebensfrohen Kontrast – beides im Spiel des Windes.
Ich gehe jedoch nicht unbeschwert zur Schule. In Gedanken spiele ich durch, wer als entschuldigt gilt, wen ich als entschuldigt dazuschmuggle, rufe mir die ewig Unentschuldigten ins Gedächtnis, die sie mir nicht anlasten werden, und die Aufrechten, mit denen ich rechnen kann und auch die, die in den Sportlertrupps marschieren werden. R.B. kommt mir entgegen, geschniegelt und gebügelt, maipassend, wir reden und gestikulieren, ohne aufeinander einzugehen.
Vor der Schule stehen die Lehrergruppen so, wie sie halt zusammengehören Einige wenige Lehrer stehen bei ihren Schülern, abseits steht der Direktor, sodass ihm jeder die Hand schütteln kann.
Oh, drei meiner Jungen stehen auf der gegenüberliegenden Seite unter dem Torbogen und rauchen! Ich muss Janet geschickt darauf aufmerksam machen, damit sie sie herholt. Die Mädchen machen keinen Ärger, alle da, alle im Blauhemd. Nach meiner Information sollen die Zehnten vorn laufen und den Fahnenblock bilden. Also schicke ich alle nach vorn und erfahre, die stellv. Direktorin habe sie nach hinten geschickt. Ich gehe mich erkundigen.
„Das war doch so beschlossen – ihr marschiert hinten “ – werde ich zurechtgewiesen. Meine Mädchen schauen mich an und ich lese in ihren Augen, dass ich mir die Zurechtweisung nicht gefallen lassen soll.
„Gehen wir nach hinten“, sage ich.
Meine Klasse ist nun die einzige, die hinten läuft. Hinter mir höre ich wie Kollege P. stolz von der 10 A berichtet, die vollständig vorn liefe, freilich fehlten drei , aber die seien krank und damit entschuldigt und die zwei natürlich, aber die fehlen ja immer, da ist nichts mehr zu machen bei denen.
Ich frage spitz: „Wer bekommt eigentlich die Meldung über die Anwesenheit zur Maidemo?“ „Na. Meldung musste keene machen, aber für dich als Klassenleiter musste das alles registrieren!“ werde ich belehrt.
Später wird A.; die zweite stellvertretende Direktorin, mich beiseite nehmen:
“Was uns aufgefallen ist, von dir waren sehr wenige Schüler anwesend?“
Ich mache meine Meldung. Nenne die drei Unverbesserlichen und werde beruhigt:
„Bei denen kannste nichts mehr machen, musste aber unbedingt für dich registrieren“.
Unbehagen!
Meint die Figur der 16jährigen Elisabeth Haug, die nach dem plötzlichen Tod ihres Vaters, des Genossen Kreisratsvorsitzenden plötzlich gezwungen ist, ihre Lebensumwelt neu zu reflektieren, zu ihrem Onkel, dem Kreissekretär. Und recht hatte sie, nur dies so auszusprechen war auch 1983 eigentlich schon jenseits der Grenze des Möglichen. Dies gilt natürlich umso mehr für einen Kinofilm, der eigentlich republikweit gezeigt werden sollte und zwar mit der beantragten Freigabe P14 genau der richtigen Zielgruppe an der Schwelle zum jugendlichen Zweifel.
"Freundschaft" und Seinsbereitschaft entsprachen wenigstens bei den Pionier- und FDJ-Generationen der 1980er Jahren tatsächlich eher dem Befolgen von verinnerlichten Schlüsselreizen, den einer bewussten Handlung. Das bedeutet nicht, dass man zwangsläufig eigentlich etwas dagegen hatte. In jedem Fall wusste man aber und zwar dank statuierten Exempeln von der Jungpionierzeit an, dass Opposition oder nur Nachlässigkeit im Befolgen zu sehr unangenehmen Sanktionen führt, bequemes Mitmarschieren im sauberen Hemd mit richtig geknotetem Halstuch dagegen Unauffälligkeit und das in Ruhe gelassen werden garantiert.
Man folgte im Normalfall also schlicht dem Lebensreglement des sozialistischen Überbaus, als sei dies ein unumstößliches Naturgesetz. Wer sich dem nicht beugte, fiel schnell in die Kategorie: "aber die fehlen ja immer, da ist nichts mehr zu machen" (vgl. auch hier). Auch kein Abitur.
Die obige Abbildung zeigt nicht Eisenhüttenstadt - ein entsprechendes Foto fehlt noch in der Kollektion - sondern Pioniere in Moskau. Mit den roten Halstüchern und den weißen Blusen sehen sie aber den hiesigen in ihrer herzigen Uniformierung zum Verwechseln ähnlich.
Gitti wird mir später erzählen, wie S., die Dicke, mit R.; der ebenfalls Dicken, beide wenig reizvoll, über meine Mädchen, die ausgesprochen hübsch sind, gesprochen haben: „Am ersten Mai ohne BH! Mit diesem Schwabbelbusen!“ Die Betonung habe dabei auf eeersten Mai gelegen!
Mir hat man ihn schon verdorben. Nur für Sekunden, als ich an der Tribüne vorbei marschiere, fühle ich mich den Genossen verbunden, aber die wollen mich vielleicht gar nicht, sondern nur meinen Marsch nach ihrer Musik.
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