Ich ging zwischen 1967 und 1979 zur Schule - in einer Stadt, in der es besonders vorbildlich zugehen musste, weil es "die erste sozialistische Stadt auf deutschem Boden" war: Eisenhüttenstadt. Vor meiner Einschulung besuchte ich natürlich den Kindergarten. Davor brachtenAnke Westphal führt morgen in der Berliner Zeitung ihre Eisenhüttenstädter Schulerinnerungen ins Feld, um sich der der Debatte um den "Wert" des DDR-Schulsystems zu nähern:
mich meine Eltern jeden Tag in die Kinderkrippe, das erste Mal als ich sechs Wochen alt war: Da die Frauenemanzipation immer eine Funktion der Ökonomie ist, musste meine Mutter schnell wieder zum Aufbau der sozialistischen Gesellschaft beitragen. (Warum verschweigt die heutige Debatte, dass noch mehr Arbeitsplätze fehlen, wenn Mütter sie beanspruchen? Die Politik weiß das wohl.) An die Krippenzeit habe ich keine Erinnerungen; der Kindergarten war ein Schutzraum. Dass die DDR-Schule gut war - das sage ich rückblickend. Ihre Mängel sind deswegen nicht vergessen.
Dass im großen Wir oft das Ich zertreten wurde, scheint vergessen. Dennoch hat sich mir die Erinnerung an schneidendes Unrecht eingeprägt. In meiner Schulzeit gab es, solange wir Pioniere waren (also bis 14),
jeden Mittwochnachmittag eine Klassenveranstaltung: mal Pioniernachmittag, mal Lernkonferenz genannt. Auf den Lernkonferenzen wurde der Leistungsstand der Klasse (sie bestand aus 33 Schülern) besprochen; es kam regelmäßig vor, dass die "leistungsschwachen" nach vorn zitiert wurden, weil sie Stellung nehmen sollten zu ihren schlechten Zensuren, die den Durchschnitt drückten. Es waren fast immer Schüler aus Verhältnissen, die man heute "Unterschicht" nennt, Kinder einfacher Arbeiter - damals war das die herrschende Klasse. Ihre Eltern standen am Fließband oder Hochofen; ihre Arbeit war schwer; ihre Kinder konnten sie gewöhnlich nur bedingt fördern, weswegen sie sie nicht weniger liebten als gebildetere Eltern ihre Kinder. Aber das zählte alles nicht, wenn diese quot;leistungsschwachen Schüler" vor das Standgericht der Lernkonferenz gezerrt wurden. Dass nicht alle gleich begabt sind, war allen klar, aber es war kein Thema: Normen sind papieren. Die Kinder wurden unfassbar gedemütigt.
Schule der neuen Menschen: Kosmologisch sollte das Denken sein und einer hellen, besseren Zukunft zugewandt. Es galt das Ziel, die Erde zum Nutzen der Menschen bezwingen und nach den Sternen zu greifen. Und am Ende verlief sich alle Ambition in hohler Machtpolitik und wir stürzten in die Postmoderne. In der ist auch Juri Gagarin nur "nullachtfuffzen" und so vergessen, wie es die sibirischen Aufbauhelden Alexej Martschuk und Boris Gainulin für uns Schüler der Achtziger (und wahrscheinlich auch unsere Lehrer) waren..
Dass Individualismus vor allem (oder auch: nur) dann eine Chance zur Entfaltung hatte, wenn er sich in gängige Normmuster einzupassen verstand, habe ich auch persönlich erlebt. Und dass normabweichendes Verhalten (oder auch nur abweichende Familienverhältnisse) nicht nur von den klassenkameradschaftlichen Peers als Mobbinggrund aufgegriffen wurden, war auch in meinem Anteil an der DDR-Schulzeit erfahrbar. Und wie dehnbar normative (und u.U. auch parteiliche) dabei in praxi waren genauso... Das Gehlensche "Mängelwesen" Mensch ist dies eindeutig auch moralisch und war dies ebenso eindeutig auch im real existierenden Gesellschafts- und Schulalltag der DDR und in der Regel blieb jeder ebenso linientreu, wie sich selbst, und den Seinen, der Nächste. Für alle anderen hatte die Utopie von der besseren Gesellschaft bekanntermaßen ein ganzes Arsenal an Erziehungs- und Kontrollmitteln..
In der Tat ist das wieder einmal ein Feld, um tiefer in den Erinnerungen zu schürfen, was ich allerdings vorerst im privateren Rahmen tue.
Bis es ein veröffentlichenbares Resultat gibt, kann es dauern. Den lesenswerten Text Anke Westphals gibt es dagegen sofort und hier: Schutzraum und Standgericht
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