Die Zeit der Idealstädte ist entgegen allem Unkenrufen nicht vorbei und auch nicht weitweg in Chinas Sonderwirtschaftszonen oder am Persischen Golf zu verorten, sondern relativ nah an unseren Gefilden anzutreffen. Auf der 10° Mostra internazionale di Architettura della Biennale di Venezia 2006, die unter dem Motto "Cities, architecture and society" läuft, wurde jetzt die ersten Entwürfe für das italienische Idealstadtprojekt Vema, das irgendwo zwischen Verona und Mantua in die Landschaft direkt auf die Grenze zwischen Venetien und der Lombardei gestampft werden soll, vorgestellt (mehr auch hier: Vema: una nuova città per la Biennale di Venezia (italienisch)).
Das neue Stadtideal heißt Schnittstelle: direkt auf den Grenzverlauf gepackt, was im Gegensatz zu durchgrenzten Stadtgebieten wie Berlin bis 1989 oder auch Nikosia, verbindenden Charakter haben soll, ist der neue Ort gleichzeitig Kreuzungspunkt der Bahnlinien Lissabon-Barcelona-Kiev und Berlin-Parlermo - das Bahnzeitalter ist für die italienischen Planer also auch angesichts des Easyjettens noch nicht perdu.
Die Kerngrundfläche der Stadt ist mit 2,3 mal 3,7 Kilometern - d.h. etwa achteinhalb Quadratkilometern - angegeben. Zum Vergleich: Eisenhüttenstadt kommt auf um die 60 qkm, allerdings dürfte ein großer Teil auf das AEH-(ehemals EKO)Betriebsgelände entfallen. Die Kernstadt Seoul hat etwa die 10fache Größe und dabei die 285fache Einwohnerschaft. Monaco dagegen kommt nicht einmal auf 2 qkm, beherbergt aber etwa soviele Menschen wie Eisenhüttenstadt. Für Vema sollen es auch etwa 30 000 (bis 50 000 )Einwohner werden, was es aufgrund der Merkmale "Größe" und "Planstadt" sogleich als perfekte Partnerstadt für unsern Heimatort qualifizieren würde. Die Architektur der italienischen Neubausiedlung wird dagegen eine ganz andere sein, wenn man dem 5 mal 8 Meter Plastikentwurf glauben kann. Dieter Bartetzko zeigt sich heute im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung jedenfalls sehr beeindruckt - allerdings nicht so richtig positiv:
Öde Wohn-,Arbeits- und Kulturscheiben mit Endlosgeschossen werden vorgeschlagen, mal umkurvt, mal in Reih und Glied, teils von grünen Parks umschlungen, teils von dynamischen Verkehrsachsen durchdrungen. Vemas Uniformität, Brutalität und Anonymität übertrifft den dreidimensionalen Horror von Mestre, dem Märkischen Viertel Berlins oder den Banlieus von Paris. (FAZ Nr. 214, 14.09.2006. S. 42)
Wenn denn gebaut wird, ist das Eröffnungsziel 2026, dem hundersten Jubiläum der Mailänder Gruppo 7, die - praktisch damals mit ein wenig und theoretisch mit recht viel Erfolg - versuchte, die Moderne der Architektur auch in Italien in Form des Razionalismo einzuläuten.
Das Moderne an Vema soll allerdings weniger die Reduktion der Form sondern vor allem die Reduktion der Strukturierung nach Vierteln sein. Hier plant man ein Verschmelzen aller stadtprägenden Elemente, vom Markt über die Wohnanlagen, den sakralen Räumen hin zur Mediathek. Alles schwimmt, und zwar möglichst harmonisch ineinander. Das ist also ein bisschen Gegenentwurf zur durch Wohngebietszentren geprägten Struktur in Eisenhüttenstadt. Ebenfalls ein Gegenprogramm drückt sich in der Standortwahl aus: Dort wurde eine zentrale und logistisch exzellente Lage gewählt, während wir zwar im Herzen der Europäischen Union befindlich sind, aber eigentlich ordentlich am Rand von Allem.
Was man in den europäischen Ballungsregionen massiv beobachten kann, nämlich eine unkontrollierbare Diffusion des Urbanen, findet allerdings im Osten Brandenburgs fast gar nicht bzw. bestenfalls an den Rändern der Landgemeinden statt. In Norditalien schon und zwar besonders an den Rändern der Autobahnen und daher hat man sich vorgenommen, mit Vema als einer kleinen Stadt nach menschlichem Maß eine Art Gegenmodell zu schaffen. Man möchte also mit stadtplanender Hand etwas Ordnung in das ungesteuerte Wuchern von Wohnsiedlungen und Gewerbegebieten, Industrieanlagen und Lagerhallen an den Hauptverkehrsachsen der Region bringen.
Das Urbane soll wieder äußere Grenzen bekommen, während die inneren zugunsten der Lebensqualität schwinden. Inwieweit dieses Konzept in Vema aufgeht, steht natürlich in den Sternen, zumal der Aufbau - wenn überhaupt - erst in 15 bis 20 Jahren losgehen wird. Da staunt man schon, wie schnell und handlungsfähig man in jungen Zentralstaaten u.U. vorgehen kann: 1949 wurde die DDR gegründet, 1950 das erste neue Großkombinat und ab 1951 ging es richtig rund mit der ersten Neubaustadt. Den direkten Vergleich des 50 Jahres-Bewährung werden wir dann um 2076 an dieser Stelle ziehen. (Falls ich es nicht vergesse.)
Mehr - allerdings auf Italienisch - gibt es bei Europaconcorsi, bei L'Espresso und auch mit einem Bild im Blog Piassa.
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