Zugegeben: Wenn man mit dem Expressbus aus dem nicht allzu entfernten Budapest nach Dunaújváros hineinschlenkert, dann brezelt einen nicht gerade ein Gefühl von Paralleluniversum in die Ecke. Wenn man aber etwas an der Oberfläche der sozialistischen Stadtlandschaft und im Anschluss daran auch an der der Entwicklung seit dem Herbst des 1989 herumkratzt, entdeckt man so manches, welches eine nahes Beieinander der Entwurfsreißbretter - wenigstens im Geiste - vermuten lässt.
Natürlich war ein Kurt W. Leucht kein Tibor Weiner und umgedreht und genauso wenig waren die Traditionslinien der frühsozialistischen ungarischen Architektur die der deutschen demokratischen Baukunst. Einig war man sich aber in dem Punkt, dass die demolierten Stadträume nicht einfach rekonstruiert, sondern nach besserem Wissen und im neueren Stil bebaut werden sollten. Neo- und Pseudoklassizissmus waren zunächst kein ästhetisches Mittel der Wahl. Lieber griff man in Ungarn zu Le Corbusier'schem Ideengut und lehnte sich auch ein bisschen an dem an, was man zu dieser Zeit im schönen Brasilien baute. In Stalinstadt bzw. der Wohnstadt des Eisenhüttenkombinats griff man dagegen zu dem, was zum Bauen überhaupt da war.
In Sztálinváros begann man entsprechend mit der Moderne (in Stalinstadt wurde diese erst wirklich in der Magistralbebauung nachgeliefert), die man an vielen Punkten auch nach der Übernahme des "sozialistischen Realismus" als Leitbild durch die nationale Architektenkammer nicht ganz los wurde. Entsprechend baute András Ivánka dort auch gleichmal eine Poliklinik, die - so sagen die Experten - Gunnar Asplund gut ins Programm gepasst hätte. Das städtische Theater (und Haus der Künste) aus dem Jahr 1953 ist dagegen wunderbarster Sozialistischer Realismus und hat im Gegensatz zum Stalinstädter Friedrich-Wolf-Theater sogar noch als Bonus versteinerte musizierende Rotarmisten über dem Eingang, die fröhlich Balalaika und Akkordeon schwingend, diese allerding doch etwas abgewandt von den in die Harfensaiten greifenden Damen mit wippenden Rockschößen, denen ausgerechnet noch ein Schwan zu Füßen sitzt, zum Sieg des Sozialismus aufspielen. Dennoch kann man sowohl im Entstehungsjahr (1953) wie im Aussehen der Theater durchaus von Ähnlichkeiten zwischen Stalinstadt und Stalinstadt sprechen.
Nachdem sich im gesamten RGW-Gebiet die Vorteile (schnell und billig) der Platte-auf-Platte-Bauweise gebenüber der Stein-auf-Stein-Methode durchgesetzt hatte, bekam auch der Kernbereich der Planstadt an der Donau seinen Rahmen aus fließbandgefertigten Wohnkomplexen. Wer das Glück hat, in einem dieser Hochhäuser weit oben einzuziehen, erhält immerhin einen in Dunaújváros eher seltenen Blick auf das Stahlwerk zum Wohnraum dazu (die passende Himmelsrichtung vorausgesetzt), wie dieses aus dem Stadtmuseum digital stibitzte Bild beweist.
Wer sich dann vor dem Theater stehend umwendet, entdeckt am gegenüberliegenden "Geschäftshaus", in dem sich heute die Havana-Bar und ein Möbelladen befinden, florale Mosaikarbeiten, wie man sie beispielsweise aus den Wartebereichen des Eisenhüttenstädter Krankenhauses zu kennen glaubt. Inwieweit dieses Gebäude zeitgleich mit dem Theaterbau entstand, vermag ich nicht zu sagen. Auf einer Aufnahme aus dem Jahre 1954 sieht man das "Kultúrotthon" mehr oder weniger als Solitär in der flachen Stadtlandschaft stehen. Die flankierenden Gebäude harren noch ihres Aufbaus und jeder wahre Stalinstädter kennt die Bilder des Friedrich-Wolf-Theaters ohne Spowa-Ansatz. Genauso sieht es aus.
Die Plastik vor dem Theater ist allerdings aus ganz anderem Material, als der für die Freitreppe vor dem Friwo geplanten Figuren des Robert Riehl, nämlich aus Bronze. Robert Riehl konnte zwar auch nur eine der geplanten Figuren - nämlich den berühmten Maurer, der bis zu seiner Zertrümmerung in der Rosa-Luxemburg-Straße auch noch mehr oder weniger stolz auf das Aufbauwerk, die Schule 1 und hinüber zum Platz des Gedenkens blickte, als die Fenster im Wohnblock hinter ihm zu leeren Höhlen geworden waren. Eine durchaus ähnlich Figur findet sich in Dunaújváros rechtsseitig neben dem exzellenten Gebäude des Kinos (Dósza Filmszinhaz). Jedoch hält der wackere Bursche statt der Maurerkelle eine Rebe steinernen Weines in der linken Hand, trägt flotten Scheitel statt Maurerkappe und ist auch bei weitem nicht so sehr verwittert im Gesicht. Vermutlich war seine Geschichte aber auch eine positivere, als die des Riehlschen Maurerburschens. Diese Rolle übernahm in gewisser Weise die Schmelzerplastik József Somogyis, die lange Zeit aufgrund ihrer nur bedingt heroischen Formensprache in einem Werkskeller zubringen musste, bevor sie ins Stadtgebiet einziehen durfte. Das Eisenhüttenstädter Pendant, Herber Burschiks Stahlwerker, entstand später, trug im Gegensatz zum Schmelzer volle Schutzmontur und gutes Schuhwerk und lag zum Zeitpunkt seiner Aufstellung halbwegs im kulturpolitischen Zeitgeist.
In der stadträumlichen Lage erfüllt das Filmszinhaz ziemlich exakt die Funktion des Eisenhüttenstädter Friedrich-Wolf-Theaters und liegt zentral an der Flanke der im Vergleich zur Leninallee eher schmal geratenen Vasmü út (zu deutsch etwa: Eisenhüttenstraße), die allerdings genau wie diese, nur mit leichtem Drall auf den Werkseingang zuführt und neben der Dózsa György út die innerstädtische Hauptstraßenfunktion übernimmt, wogegen die auf die Hochschule zuführende Kossuth Lajos utca mit ihrem schönen Schwung und den Sgraffiti an (mindestens) einem Erker sowie den verschütteten Planschbecken und verwilderten Spielplätzen in den Höfen doch sehr an die Saarlouiser Straße erinnert.
Das holzhaltige Papier der Lokalzeitung aus den frühen 1950er Jahren leistet bei diesem Wunsch nicht sonderlich wirksame Unterstützung. Neun Jahre später begann in der Hauptstadt der DDR am selben Tag ein weltpolitisch noch nachhaltigeres Bauprogramm, als es die Planstädterei war. Die roten Sterne waren in selbigen Jahr sowohl (und mehr noch) in Ungarn als auch in der Deutschen Demokratischen Republik weitgehend etwas für die Keller und Dachböden, nichts mehr jedoch für die Türme und Dachfirste.
Zum breiten Fluss der Donau ist die Stadt besser positioniert als Eisenhüttenstadt zur Oder, denn nur etwa zwei Blöcke von der Eisenhüttenstraße erstreckt sich eine weitläufige Parkanlage - die Insel Dunaújváros mitsamt einer etwas ramponierten Skateboardrampenanlage, auf der, wie in Eisenhüttenstadt, gern auch mal Rad gefahren und gesprungen wird - in der so manches Stahlplenair seine Werke stehenlassen hat. Steigt man die Treppen zum Flusse herab, gelangt man dagegen wieder in ein Areal, welches an die Landschaft um das Arboretum Eisenhüttenstadts erinnert, nur dass die Kleingärten fehlen. Beiden Städten ist übrigens auch gemeinsam, dass es einst eine Fähre gab. Dunaújváros hat jetzt aber mittlerweile südlich der Stadt seine Donaubrücke, Eisenhüttenstadt überbrückte dagegen zunächst einmal den Oder-Spree-Kanal bei Fürstenberg, während die Oderbrücke noch ein Ding der Zukunft ist.
Während im Stadtteil "Technikum" die Rotarmisten noch mit der Waffe in der Hand am Erker vorrücken, steht im Sportzentrum der Stadt die Vertreterin einer ausgesprochen bürgerlichen Sportart in Stein gemeißelt.
Beiden Städten am meisten gemein ist natürlich die Fixierung auf das Stahlwerk. Eisenhüttenstadt bietet dabei entscheidend die schöneren Silhouetten. In Dunaújváros muss man dagegen schon weit an den Stadtrand oder auf ein Hochhaus oder den Wasserturm, um ein Gebäude zu erspähen, dass dem Gasometer unserer Stadt doch sehr ähnlich sieht. Der Werkseingang aus dem Jahr 1955 wurde für die ungarischen Stahlarbeiter dagegen bestechend monumental inklusive einem eindrucksvollem Fresko des ungarischen Maleraltmeisters Endre Domanovsky umgesetzt. Letzteres zeigt bis heute recht farbig, wie Metallurgen- und Bauernvolk zusammenkommen: Im mittleren Bereich des durch die Säulenstruktur zum Triptychon gegliederten Wandbildes reicht eine fesche Bäuerin mit weißem Kopftuch und fast flehend wirkendem Blick einem wie es scheint lächelndem Stahlwerker einen Laib Brot. Inwiefern die Bauern von dieser Verbindung profitieren, wird jedoch nicht so recht deutlich. Insofern erscheinen sie in einer asymmetrischen Konstellation als Zubäcker für die Industriearbeiter, die ihnen aber vielleicht ein paar Schwerter zu Pflugscharen umschmiedeten (nicht im Bild). Dagegen nimmt sich die bausteinerne Werkszufahrt in Eisenhüttenstadt an der B112 in ihrer Abstraktheit nahezu demütig aus.
Sowohl in Sztálinváros wie in Stalinstadt liegen zwischen eigentlichem Werk und Stadt eine Übergangszone. In Sztálinváros wurde diese als Wald ausgelegt, der die Abwinde und -gase des Werkes etwas vorfiltern sollte, bevor sie in die Stadt der Metallurgen Einzug halten. In Eisenhüttenstadt war dies kaum notwendig, da man gleich alles nach Nordost über die Oder in den polnischen Bruderstaat wehen ließ. Das ließ Raum für weite Sportanlagen, die sich auch in Dunaújváros finden. Die Schwimmhalle der ehemaligen Sportstadt Ungarns ist landesweit berühmt und mittlerweile mit Rutschgelegenheiten u.ä.ausgestattet. Also ganz wie daheim. Der Fußballverein der Stadt war einmal relativ erfolgreich und krebst heute in irgendeiner unbekannten Liga herum. Also ganz wie daheim.
Am Rande der Städte gelingt bzw. gelang sowohl hier wie da die Ansiedlung anderer Industrien, als der Metallverarbeitung. Eine Papierfabrik hat Dunaújváros dazu auch noch. Wuchtiger ist jedoch die Hancook Reifenfabrik auf der grünen Wiese, die nach Auskunft lokaler Experten fruchtbare Ackerkrume in problematischen Industrieboden verwandelt und deren Genehmigung wirtschaftliche Interessen mit der üblichen Argumentationslinie gegen landschafts- und naturräumliche ausspielte.
Nicht nur in der Busproduktion fand sich im real existierenden Sozialismus das Ikarusmotiv (inklusive manchem, der sich als Sonnengott wähnte). Aber selbst in den Stalinstädten dieser Welt fanden sich Akteure, die lieber den Kontakt zum Boden hielten und das, was die Erde treibt, mit prüfendem Blick betrachteten. Daraus werden dann manchmal neue Volkshelden, manchmal nur Bauernopfer. Ob der bronzene Knabe in der Badehose vor der Schule im Stadtteil "Technikum" die Hand zum Schutze oder zur Fokussierung vor seine großen Augen führt, ist mir leider nicht eindeutig erkennbar.
Zu ergänzen sind schließlich folgende Ähnlichkeiten:
- Die Donaustahlstadt hat auch ihr Fürstenberg: Dunaupentele.
- Sie hat zudem eine Art Ziltendorf: Rácalmás.
- Sie besitzt ein unsinniges Einkaufszentrum namens Parkcenter (vgl. hierzu das Citycenter).
- Sie besitzt die in Mitteleuropa obligatorischen Discounter und Ramschläden: Aldi, Plus, Vögele, dm, Rossmann...
- Es gibt einen - wenn auch sehr kleinen - sowjetischen Ehrenobelisken.
- Die jungen Menschen zieht es nach dem Schulabschluss gern in die Hauptstadt zum Studieren und Großstadt leben. Zum Wochenende fahren sie aber gern mal zurück nach Hause.
Verkehrshistorisch gesehen ist eine zusätzlich sympathische Gemeinsamkeit, dass auf beide Städte Strassen Nahverkehrsbusse des Typus Ikarus 280 herumkurvten bzw. herumkurven, welche mit schönen Kunstledersteppverkleidungen im Schwenkgelenk, teilweise Gepäcknetzen und schließlich den für Kinder nie erreichbaren Haltwunschknöpfen über den Falttüren Erinnerungen an die Fahrt von der Leninallee zur Wendeschleife im V.WK aufwerfen. Und wenn dann gar ein Ikarus 39 vorrüber brummt, führt dies bei Kennern des Busverkehrswesen zu Herzschlägen, die denen derjenigen Philatelisten vergleichbar sind, die einen seltenen Plattenfehler in der Kiloware aufstöbern.
Beide Städte haben ein Städtisches Museum und Dunaújváros dazu noch ein Institut für zeitgenössische Kunst inklusive eines ganz akzeptablen Cafés und man hat den Eindruck, dass ohne diesen Treffpunkt das intellektuelle Klima dieser traditionell doch eher proletarisch ausgerichteten Stadt ähnlich trocken wäre, wie das in Eisenhüttenstadt. Die in Dunaújváros verwirklichte Fachhochschule mit einem architektonisch sehr eindrucksvollen Alt- und einem auf europäischen Hochschularchitekturniveau befindlichen Ganzneubau tröpfelt in dieser Hinsicht zusätzlich das eine oder andere Quentchen interessierte Jugend in die Stadt.
Auch verfügen beide Stahlstädte über ausuferende Garagenkomplexe, in die sich Vati gern am Sonntag zum Bierchen und Wartburgwaschen zurückzog. In Dunaújváros bilden sie heute eine Art informellen Raum zur subkulturellen Entfaltung. In Eisenhüttenstadt stehen sie über weiter Strecken leer und werden auch gern mal abgerissen.
Und schließlich: In beiden Städten gabe es einen von Thomas Neumann inszenierten Kongress der Futurologen.
Einen gravierenden Unterschied gab es in der Stadtgeschichte jedoch und der ist forsttechnischer Natur: Während für Stalinstadt gerodet wurde, was die Axt hergab, pflegt Dunaújváros denn Anpflanzmythos, denn dort wo sich heute Stadtteile wie das Technikum, Belváros und Dunasor mit schöner Vegetation in den Wohnhöfen darbieten, fand sich dereinst kaum eine Krüppelkiefer zum umsäbeln. Dass der damalige ungarische Minister für Schwerindustrie einen Kasten Bier pro gepflanzten Dutzend Jungpflanzen versprach, ist dagegen blanker Unsinn und kann nur einer stalinstadtverdorbenen Phantasie entspringen.
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