Ein Vorteil der Multioptionsgesellschaft sind zweifellos die unzähligen Wirkungs- und Entfaltungsmöglichkeiten, die sie dem Einzelnen bietet. Wer heute und hier halbwegs im Besitz seiner geistigen und körperlichen Kräfte ist, findet enorm viele Türen, vom Hagro-Getränkemarkt in der Robert-Koch-Straße über die Pforten der Bürokomplexe in den Weltmetropolen bis hin zu palmbewedelten Hütten an Südseestränden oder schindelgedeckten in den Hochgebirgen. All diese lassen sich theoretisch aufstoßen und die Räume dahinter mit dem eigenen Leben erfüllen. Und das ist nur eine Seite des Würfels der Optionen. Eine andere ist der virtuelle Raum des World Wide Webs, in dem man mit wenigen Mouseclicks öffentlich sichtbar ganze Wohnkomplexe herbeiträumen oder in Grund und Boden verdammen kann.
Raum ist im frühen 21sten Jahrhundert für die Gesellschaftsgruppen mit einem Sozialstatus ab etwa dem mittleren Eingruppen eine relative Größe geworden. Man sieht es unter anderem darin bestätigt, wie die Kinder der Stadt über den Erdball der Welt verstreut leben, lieben und lachen und noch andere Dinge tun. Der Raum "Eisenhüttenstadt" bleibt ihnen als Ausgangspunkt und Erinnerungsraum, also als Nukleus und Prägestempel. Global und lokal treffen sich zumeist wenigstens kognitiv. Was in der Regel entfällt, ist der Zwischenraum, das an einem Ort über längere Zeit verbleiben. Das nächste Flugzeug geht bestimmt, die nächste Herausforderung wartet um die Ecke und wer heute noch in London seinen Studium abschließt, macht kurz Urlaub in Südafrika und ist morgen in Lausanne für ein, zwei Jahre, bevor dann Tokio lockt oder eine Promotion in Tübingen oder eine Liason in Krakau. Insofern ist der Erfolg von Netzwerkplattformen wie Facebook nicht zuletzt darin begründet, dass man das Unstete der geographischen Verortungen des Lebenslaufes durch eine stabile Verortung im Web kompensiert. So bleibt man auch ohne permanente Postanschrift adressierbar.
Dem relativen Raums steht die absolute Zeit entgegen. Zwar leben nicht wenige Kosmopoliten mit ihrem Springen durch die Zeitzonen oft jenseits verlässlicher Tag- und Nachtrhythmen und verstehen es, mit geschickter Reiseplanung die 24 Stunden eines über ein Datum definierten Tages eventuell sogar auszudehnen (oder einzuschrumpfen). Der Tag selbst bleibt aber jedem ein enges Korsett und die Zahl der zu Verfügung stehenden Tage als Möglichkeitszeitraum ebenso. Obschon die Virtualisierung und das Multitasking dem symbolischen Handeln bzw. dem Geist kleine Spielräume und Gleichzeitigkeiten ermöglicht, bleibt auch der sprunghafteste Weltenbummler und Blogger aller Kontinente am Ende doch körpergebunden und entsprechend nur zu einem Zeitpunkt an einem Ort, mag letzterer auch mehr oder weniger beliebig sein.
Von den vielen offenen Türen kann man in der Realwelt immer nur eine durchschreiten. Im selben Moment fallen viele andere zu. So versteht man von der Vielfalt der theoretisch gegebenen Möglichkeiten in der konkreten Lebenspraxis nur sehr wenige zu nutzen. Entsprechend verschieben sich die Rahmen der Aufmerksamkeit. Es ist in der Beschäftigung mit Themen wie in der Beschäftigung mit Menschen: Ab einer gewissen Komplexität vermag man nicht allem und allen, dem und denen man gern gerecht werden will, gleichermaßen gerecht zu werden. Kaum stößt eine andere Stadt oder ein anderer Mensch mit Nachdruck ins Blickfeld des Moments und schon rückt der eben noch zentrale Bezugspunkt an die Peripherie oder auch über den Tellerrand der Wahrnehmung hinaus.
Die räumliche Distanz und mehr noch die notwendige Entscheidung, die Torte der Tageszeit so anzuschneiden, dass die größeren Stücke anderen Phänomenen zugute kommen, lassen sich als hoffentlich nachvollziehbare Erklärung für die abnehmene Frequenz der Beiträge in diesem Weblog anführen. An Stoffen mangelt es dagegen nicht.
Da wäre beispielsweise der wuchtig-wütende Artikel eines nicht unbekannten enfant terrible der Eisenhüttenstadt, Martin Heyne, in einer Blickpunktausgabe aus dem Juni, die dort als eine Art Anzeige für ein Buch Werner Rupperts erschien und sich in einer erstaunlichen Radikalität und Direktheit gegen Bürgermeister Rainer Werner richtet.
Fast als direkte Entgegnung auf die dort dargestellte Wahrnehmung der Stadt als verlorenem, von innen und außen aufgegenem Ort mit einer unfähigen Stadtführung ("Wann haben Sie das letzte Mal das Gefühl gehabt, die Stadt LEBT!") lässt sich die aufwendige städtische Imagekampagne lesen, auch wenn beides sicher nur zufällig so zeitnah publik wird.
Die Slogans
- "Zukunft Eisenhüttenstadt - wir sind dabei",
- "willkommen im wachstum"[sic!, darunter versteckt sich auch die bedenkliche Generalvollmacht: "Grundsatzentscheidungen für Unternehmensansiedlungen werden durch den Bürgermeister getroffen."],
- "aufstiegschancen ohne ende",
- "neuer glanz in unserer hütte",
- "ganz groß für generationen",
- "applaus für spitzenleistungen",
- "wir sind waldmeister"
blitzen in vermeintlich modischer Kleinschreibung tatsächlich beinahe trotzig von der generalüberholten Website der Stadt. Und über all dem steht: "[Hütte hat] Viele Eisen im Feuer" und dahinter der Bürgermeister, der in der Kampagne vielleicht auch einen professionell polierten Rettungsring für sein ganz offensichtlich und nicht nur bei Martin Heyne angeschlagenes eigenes Image zu greifen versucht:
"Wir sind uns der vielen Vorteile und Vorzüge unserer Stadt oftmals gar nicht bewusst", erklärt Bürgermeister Rainer Werner bei der Präsentation der Kampagne. (Märkische Oderzeitung, 25.06.2009)
Aber den Nachteilen durchaus. Die Idee des Stadtmarketings ist sicher eine richtige: Es geht darum, positive Referenzpunkte besonders auch für die Einwohner selbst zu schaffen. Der Tropfen Wermut liegt allerdings in der Frage: Warum erst jetzt? Spätestens seit der Umfrage zu "Place Identity und Images" des Projektbüros "EisenhüttenStadt 2030" ist das Problem der negativen Selbstwahrnehmung auch wissenschaftlich ausgeleuchtet und dokumentiert. Spätestens seit 2004 waren die Ergebnisse der Umfrage bekannt. Und da diese eigentlich nur expliziert, was vorher schon unterschwellig jedem in der Stadt spürbar war, kamen die Resultate nicht sonderlich unerwartet. Die Reaktionszeit auf den Absturz der Stimmung in Eisenhüttenstadt war also leider relativ langsam.
Ohne Zweifel: Die Kampagne des Berliner Kreativbüros Merlin wirkt solide professionell und ausgewogen originell. Wie viele Eisenhüttenstädter sich allerdings tatsächlich mit einer "Waldmeisterschaft" dort identifizieren, wo nebenan der Stadtrückbau neue Aufforstungsflächen hinterlässt, muss sich noch zeigen. Wenn der Naturraum ehemaligen Stadtraum übernimmt und Urbanität reduziert, ist das nicht zwingend etwas positives. Genauso hätte man auch die Grundfläche Eisenhüttenstadts auf die zurückgehende Zahl der Einwohner projizieren und daraus den Slogan: "Platz da! Demnächst noch mehr Raum für jeden Einwohner!" schmieden können. Oder: "Beton geht, grün entsteht!" Oder: "Parkraummangel ist bei uns kein Thema. Ihr WK VII." Oder statt Waldmeisterei etwas schlüpfrig lallend: "Viel Holz vor Hütte." ...
Dennoch ist natürlich bei aller Kritik zu begrüßen, dass man hier den Schritt wagt. Leider bleibt die Widersprüchlichkeit, die sich sowohl aus der Geschichte als ausdrücklich "erste sozialistische Stadt Deutschlands" angelegtes Ensemble wie auch aus den stadtgesellschaftlichen Beschädigungen und Selbstfindungsproblemen, die von den 1990ern eigentlich bis heute anhalten, ergibt, außen vor. So haftet dem in dem Kampagne enthaltenen Glückseligkeitsversprechen nicht nur ein kleiner Stich Potemkin an.
"Und irgendwie sei Eisenhüttenstadt schon allein durch seinen Name als Marke etabliert, findet Bürgermeister Rainer Werner." (Märkische Oderzeitung, 02. Juli 2009)
Genau hierin liegt das Kernproblem: In puncto Negativstigma spielt Eisenhüttenstadt in einer Liga mit Bottrop oder Haßloch. Man sagt als "Marken-Botschafter" in der Welt noch immer nicht mit allzu stolz aufgeplusterter Brust, aus welcher Stadt man stammt. Sondern flüchtet sich in Rätseleien wie: "Thomas Heise hat dort mal einen Filmstoff gefunden." oder, wenn man es derber mag: "Früher war sie nach einem extraordinären Blutsäufer benannt." Meistens: "Ich komme aus der Nähe von Berlin."
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