Aber hallo - was muss ich denn da heute im SPIEGEL lesen?! Es ist schon ein Wahnwitz mit dieser Informationsgesellschaft, die den modernen Menschen mit Lesestoff um Lesestoff überhäuft, so dass man entweder so wie der Bronx-Bewohner Patrice Moore endet oder sich nur mit mit einigem Abstand durch den Probeabostapel durcharbeiten kann. Die Verzögerung ist mitunter enorm und manchmal stößt man erst nach Stunden, Tagen, Monaten oder gar Jahren auf eine relevante Meldung. Beispielsweise auf diese:
Wer SPIEGEL online manchmal aus Zufall anklickt, weiß, dass nicht jeder Meldung aus dem Umfeld des neben Stern, Focus, NBI und OK! vielleicht bekanntesten deutschen Nachrichtenmagazins überbordende weltgeschichtliche Bedeutung zukommt. Anders dieser Bericht über die Brachialentstalinisierung der "Sowjetzone", der aus regionalem Anlass durchaus die Aufmerksamkeit der Eisenhüttenstädter fesselt. Aber der ist ja auch gedruckt erschienen.
Was war da los? Im SPIEGEL (Ausgabe 49, 29. November 1961, S. 53f.) liest man: "Die Parteispitze ließ ihre Untertanen lediglich wissen, es handele sich um Maßnahmen in bezug auf die in der Periode des Personenkults Stalins erfolgten Verletzungen der revolutionären Gesetzlichkeit und der daraus entstandenen schweren Folgen." Daher wurde auch der viereinhalb Meter hohe Bronze-Stalin "um 2.30 Uhr am Dienstag" durch "Pioniere der Nationalen Volksarmee" vom Podest geholt und "der nächsten volkseigenen Schrottsammelstelle entgegen" gefahren. Seine Spur verliert sich wohl im Schmelzofen.
Allerdings bedaueren die Autoren (und nicht nur sie), dass der "mitteldeutsche Landesherr", "wache Opportunist" und "Diktator" Walter Ulbricht unangetast blieb, rief er doch einerseits 1953 Josef Wissarionowitsch Stalin zum "größten Menschen unserer Epoche" aus und trat in puncto Personenkult - "nur noch vom albanischen Landesherrn Enver Hodscha übertroffen" - laut SPIEGEL und teilweise allgemeiner Wahrnehmung zwar nicht direkt in aber doch ganz nah an die autoritären Fußstapfen des überzeugten Schnauzbartträgers und Sohns der ansonsten vor allem für seine Musikhochschule bekannten georgischen Stadt Gori. So erwies sich der SED-"Oberherr" Ulbricht auch nach dem XXII. Parteitag der KPdSU nicht unbedingt als Chruschtschowianer, was der Artikel mit u.a. mit einem Beispiel aus der Eisenhüttenstädter Umgebung belegt:
"Gleichzeitig rügte die SED-Bezirksleitung Frankfurt/Oder einige Lehrer, die das Ulbricht-Porträt in verfrühtem Optimismus aus ihren Klassen entfernt haben."Mal sehen, was die Weltgeschichte des 20. Jahunderts in der nächsten Ausgaben auf dem Stapel über den "Partei-Zaren im Ostberliner SED-Hauptquartier" berichtet. Der "Propaganda-Substitut" Horst Sindermann wird schon einmal mit einer Art Drohung zitiert; "Walter Ulbricht hat noch nie kapituliert". Aufmerksamere Beobachter der deutschen Geschichte wissen allerdings, dass sich nicht einmal ein Jahrzehnt später auch in diesem Fall die Phrase davon, dass es für alles ein erstes Mal gibt, mehr oder weniger bewahrheitete.
Ein besonders pikantes Detail dieser SPIEGEL-Ausgabe soll nicht verschwiegen werden: Der auf der Illustrationsfotografie vor dem schnauzbärtigen Bronze-Stalin posierende spitzbärtige "allzeit ergebene Schüler des verstoßenen Georgiers" blickt ausgerechnet auf eine Anzeige für das "Geschenk des Jahres", den Philishave 800, "dessen gelenkige Scherköpfe sich jeder Form automatisch anpassen". Inwieweit hier eine versteckte Anspielung auf die Begrenztheit das Methodenspektrum stalinistischer Führungspolitik - "Richtiger Bart wächst in Wirbeln, nicht in Reihen. Darum kann man ihn nicht einfach wie ein Kornfeld mähen." - kann nur vermutet werden. Aber dafür, dass die Anzeige in Wahrheit gar nicht die "Freude jedes Mannes über einen Philips Rasierer" sondern ein durchaus Sozialismus-konformes, aber zu Ulbricht oppositionelles Denken verkörpert, gibt es zwei Hinweise. Einerseits liest man von "Schersieben" mit dem "neuartigen Gegenschliff"(!!) und andererseits steht deutlich über dem Philips-Markenzeichen der Slogan "Fortschritt für alle". Demokratischer Sozialismus eben.
Für die Pragmatiker und den Politbüromitgliedern erscheint übrigens versteckt auf der Folgeseite ein sehr konkreter Wink, der auch das im Artikel erwähnte Schwedter Jugendforum etwas harmonisch hätte gestalten helfen können:
"Wenn es mal heiß hergeht, wenn alle gleichzeitig reden - dann ist es höchste Zeit für ein Gläschen Escorial Grün 56%: Im Nu wirkt er ausgleichend und manches "Problem" [sic!] löst sich von selbst. Deshalb sollten Sie ihn auch bei Besprechungen immer parat haben, den aromatischen, hochprozentigen Escorial Grün 56%!"Wer weiß, wohin die DDR zu dieser Zeit hingedriftet wäre, wenn man diesen subtilen Hinweisen mehr Beachtung (und sich öfter mal einen Escorial Grün 56% ein-) geschenkt hätte...
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