Es ist gemeinhin schwer vorstellbar, dass man sich in diesen schon herbstkühlen aufziehenden Nächten nach einem Thomas Bernhard-Band sehnt, um die eigene Stimmung zu heben. Hat man sich aber durch Reinhard Jirgls Deutschland-Ziegel "Abtrünnig" gekämpft, könnte es sein, dass eine solche Sehnsucht durchaus Raum greift. Selten wurde Misanthropie derart intensiv in deutsch-deutsche Form gegossen, in dieser kaltgeschleudert und danach einer Tontasse gleich splitternd auf den Boden der (realen und geträumten) Tatsachen geworfen, so dass man sich vielen großen und kleinen Bruchstücken gegenüber sieht. In diesen Scherben zu lesen, ist Arbeit - literaturwissenschaftlich übrigens eine sehr lohnenswerte und fruchtbare. Der "Roman aus der nervösen Zeit" ist dekonstruktiv im buchstäblichen Sinn, erzwingt unterschiedliche Lesegeschwindigkeiten und -richtungen und geht stellenweise durchaus auf direkte Konfrontation zum Leser.
Die dabei ineinander gestürzten Themen, die Lebensläufe, Lebenskreuzungen, Lebensbrüche sammeln sich dagegen erstaunlicherweise oft in weitgehend erwartbaren Bahnen. Es finden sich einige überraschende Wendungen, aber in der Gesamtheit kumuliert das Buch typische Motive, oft auch recht schlichte Stereotypen als Mittel zum Zweck, die jedem, der seit 1990 ein paar Jahre Privatfernsehen gesehen und/oder in Berlin gelebt hat, halbwegs vertraut erscheinen dürften. Das heißt nicht, dass die Sujets in der Kombination nicht reizvoll wären. "Abtrünnig" ist ein Post-Einheitsroman, den man gerade in diesem Jubiläumsjahr zur Hand nehmen kann, um an ihm eine persönliche Rückschau aufzuspinnen. Was dabei über weite Strecken bleibt, ist der Eindruck, dass die elaborierte Verweigerung im Stil in eine andere Richtung als die Handlung strebt. Letztere scheint über weitere Strecken die vorliegende, schachtelige Form nicht unbedingt zu erzwingen und die Form selbst unterstreicht das Auseinanderfallen von Identitäten in der Welt nach 1990 mitunter ein wenig zu grob und aufgetragen. Insofern wirkt das Buch - was vermutlich wieder konsequent dem Ansatz dieser Form und dem Hauptthema entspricht - nicht ausbalanciert, schwankt vielmehr worttrunken zwischen ausgesprochen albernem Kalauer und wirklich erschütternder Tiefe im Halbsatz. Das Herz, dieser einsame Jäger, scheint mitunter Florett schwingend im Panzerwagen durch den gewilderten Hain des frühen Berliner Jahrtausends zu fahren und verpasst sich dabei ab und an selbst einen gehörigen Schmiß - so ließe sich das Lektüregefühl vielleicht beschreiben.
Dies alles würde ich für mich behaltenen, träte nicht sehr früh im Buch ein Protagonist mit Wurzeln in Frankfurt/Oder auf, dem es gelingt auch Eisenhüttenstadt ins Spiel zu bringen. Denn gleich zu Beginn im Kapitel "Geburtstage-Schmutzige Menschen" verbrennt dieser als Grenzschützer Tätige einige der wenigen ihm verbliebenen Brücken, um sein Leben auf die kleine Rolle des Selber-Behelfsbrücke-Seins zu reduzieren: Der junge Witwer lernt auf einem eher verzweifelten Ausflug in ein Café in Słubice eine junge Ukrainerin kennen, die den Weg nach Deutschland sucht. Er tanzt mit ihr, glaubt ihre Geschichte und hilft in einer anstehenden Nachtschicht und hohem Einsatz ihr ("dunkelbraune Augen überwölbt von schwarzen fein geschwungenen Brauen, das Gesicht ernst u bleich wie ein Wald nach langem Winter") und ihrem Bruder ("1 hochgewachsener Bursche mit Bürstenhaar") über den Fluß. An dieser Stelle, leider, leider, stolpert der Roman in eine topographische Unsicherheit, deren Bemängelung man vielleicht als kleinlich auslegen mag, die dem Kenner der Region aber als unangenehme Irritation auffällt, vergleichbar mit einem dieser winzigen Filmfehler, bei denen während eines Schnitts ein Keks vom Tisch verschwindet oder hinzukommt, ohne dass Nicole Kidman die Schachtel überhaupt anrührt ("Eyes Wide Shut", ca. 48:00-51:00). Übersieht man es, ist alles gut. Merkt man es, bleibt ein unangenehmer Makel, denn die Logik wurde nicht absichtlich, sondern nachlässig gebrochen.
So ist die Bahnstation, auf der Reinhard Jirgl den Grenzschützer das Geschwisterpaar absetzen lässt, mir nicht so recht logisch ermittelbar. Nachdem die Geschwister an einer nicht spezifizierten Stelle die Neiße durchwateten - unklar bleibt auch, wie sie die ca. 40 Kilometer von Słubice nach Kosarzyn bzw. ans Neißeufer in der Nacht bewältigten - sammelt der Protagonist sie mit seinem Jeep ein. Er wird von einem Kollegen verfolgt, den er aber vom Fahrdamm zu drängen vermag. Dann setzt er die Geschwister an einem nicht benannten, wohl aber beschriebenen Haltepunkt der Bahn ab:
"Weitab in 1 Dorf an der Bahnstation für die Regionalzüge setze ich Valentina & ihren Bruder ab. Aus wolkenlosem Himmel sickert blaues Morgenschimmern; der Frühzug würde bald kommen, Schulkinder & Arbeiter nach Guben, Eisenhüttenstadt od in die andere Richtung nach Frankfurt bringen. Hier, inmitten apathisch Wartender, aus Nacht-u-Schlaf Gerissner, würden die Beiden nicht auffallen. Gebe Valentina Geld (:aufmerksam beobachtet von ihrem Bruder, unentschieden zwischen Mißtrauen & Gier); und sage der Frau, daß ich sie suchen werde, später in Berlin.....[...] Die beiden stellten sich auf den Bahnsteig unter die Reisenden in Richtung Frankfurt, 2 fahle Steine im Menschen Dammm..... Dann ließ ich den Motor an, kehrte um in meinen Abschnitt an der Grenze. Im 1. Morgenschimmern auf dem schmalen Bahnsteig entschwanden die beiden Gestalten rasch aus meinem Blick." (Jirgl, Reinhard: Abtrünnig. Roman aus einer nervösen Zeit. München: dtv, 2008, S. 35)
Abgesehen von der treffend beschriebenen Atmosphäre auf den morgenlichen Regionalbahnsteigen Ostbrandenburgs bleibt die Überlegung, von welchem Dorf die Rede sein könnte. Stimmig von der Lage zur Neiße wären Coschen oder Wellmitz. Allerdings fährt der Zug dort nicht entweder nach
Guben, Eisenhüttenstadt oder
Frankfurt/Oder sondern entweder Richtung Guben oder Eisenhüttenstadt, Frankfurt/Oder. Alternativ - und im "weitab" zur Not begründbar - könnten auch Ziltendorf oder Wiesenau gemeint sein. Die nicht stimmige Reihenfolge der Orte in der Nennung "Guben, Eisenhüttenstadt" ließe sich aus dem Adrenalinspiegel der Situation erklären.
Schwer nachvollziehbar bleibt jedoch, wieso - und wie unbemerkt nach dem Vorfall mit seinem Kollegen - er den nicht ungefährlichen Schlenker nach Norden genommen hat, an Eisenhüttenstadt vorbei oder durch die verschlafene, aber nicht tote Stadt hindurch. Letztlich irritiert noch, dass er augenscheinlich bei der Abfahrt noch einen Blick auf den Bahnsteig werfen sollte, was rein räumlich vielleicht in Neuzelle vorstellbar wäre, sofern er auf der östlichen Seite des Bahnsteigs abgefahren wäre. Hier jedoch stimmt die Richtungszuweisung wieder nicht. ... So also gibt man sich während des Lesens einer Irritation an einer Stelle hin, die ein Großteil der Leser dieses Romans nicht einmal als besonders auffällig registriert haben.
Letztlich ist es müßig, hier nach einer Auflösung zu suchen (man könnte auch Reinhard Jirgl einfach schreiben und fragen). Wenn jedoch jemand aus unserer Leserschaft einen Lösungsvorschlag für dieses unfreiwillige Rätsel im Buch parat hat, bleibt natürlich die Kommentarfunktion für Spekulationen jedweder Art das Mittel der Wahl. Zumal nach dem kleinen Redesign, das dem Blog ein strengeres, kantigeres Auftreten geben soll, um im
Kampf der Brandenburger Blogs um die Aufmerksamkeit der Blogosphäre Boden gut zu machen, Lektüre und Interaktion im Blog mehr Freude denn je bereiten soll.
Hinsichtlich Reinhard Jirgls "Abtrünnig" (eine Rezension des Titels gab es u.a. vor drei Jahren auch i
m Freitag) haben wir hoffentlich zureichend unsere Dokumentationspflicht für in der Literatur aufgefundene Erwähnungen Eisenhüttenstadts erfüllt. Da wir uns zwar bemühen, aber es nicht schaffen, alle Bücher der Welt zu lesen, sind wir für Hinweise zu weiteren Werken, in denen Eisenhüttenstadt literarisch, filmisch, künstlerisch verhackstückt, gepriesen oder einfach erwähnt wird, äußerst dankbar. Auch hier bietet sich die Kommentarfunktion an. Oder die
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