Eis schmilzt in der Schale, vom Nebentisch starren blutunterlaufene
Augen herüber, und man hat solche Angst... O ihr Götter! Gift möchte
man nehmen, Gift!
- (Mikahil Bulgakov)
Nicht nur unser Leser Andi Leser wundert sich, warum der sonderbare Artikel von Frank Kaiser und Matthias Wendt zum (Ab)-Wahlkampf zwischen Martin Heyne und Rainer Werner (vgl. hier) nicht mehr auf der Website der Märkischen Oderzeitung verfügbar ist. Bei Google-News findet sich noch ein Rudiment eines Satzes, jedoch auch kein funktionierender Link mehr:
Warum sich die Märkische Oderzeitung entschloss, den Beitrag ziemlich still und heimlich offline zu stellen, erzählt sie nicht. Vielleicht konnte Martin Heyne erfolgreich seiner Bloßstellung entgegen treten. Vielleicht gefiel Rainer Werner sein Facebook-Foto nicht. Vielleicht wollten die Autoren nicht mit diesem Eintrag in den Suchmaschinen gefunden werden. Vielleicht hat der Behemoth den Text verschluckt. Eigentlich ist es aber nicht so schlimm, denn Janet Neiser liefert uns heute einen geeigneteren und weitaus aufschlußreicheren Ersatz. Sie hat nämlich die eigentlichen Kontrahenten ausgemacht und das Diskussionsduell zwischen dem amtierenden Bürgermeister Rainer Werner und seiner Herausforderin Dagmar Püschel im i-Punkt besucht. Dabei war sie offensichtlich nicht die einzige. Full House hieß es, wo das Publikum einen Royal Flush erwartete und bestenfalls eine High-Card-Lösung bekam. Als Pokerstars sind beide Akteure aber auch nicht unbedingt bekannt. Und Ballkönigin ist Dagmar Püschel bei dieser Veranstaltung auch nicht geworden. Zu Glück, denn als Belohnung dürfte sie - so herzlos kann Bulgakov sein - mit dem Meister zusammenwohnen. Die daraus entstehenden Verwicklungen will man sich wirklich ausmalen.
Zwei Zitate des Eisenhüttenstädter Amtsinhabers fallen im Text besonders auf und aus dem Rahmen. So beschrieb er sehr treffend und angsteinflößend sein Verständnis von wirtschaftlicher Entwicklung:
"Alles, was Arbeit schafft, ist uns willkommen."
Man ahnte es und liest es nun schwarz auf weiß. Das Entsetzen ist groß, schließt dies doch auch potentiell die großflächige Ansiedlung von Giftmülldeponien, Tierkörperverwertungsanlagen und Bombenabwurfplätzen genauso ein wie Sweat-Shops, Niedrigstlohnproduktion und die Fortsetzung des Discounter-Irrsinns. Einen Pförtner braucht man immer. Was Rainer Werner anscheinend nicht versteht, ist, dass Arbeit nicht gleich Arbeit ist, dass zwischen Job und Beruf zu Recht ein kilometerbreiter Unterschied liegt. Dass ins Gewicht fällt, ob man für die Grundsicherung oder die Selbstentfaltung oder zum Wohle der Mitmenschen tätig ist. Und dass die Anbetung des Arbeitsplatzes um jeden Preis sogar schädlich für die Stadtgesellschaft ist. Wer seinen Lebtag hinter Scanner-Kassen oder in Burger-Bratstuben verbringt und dabei einerseits sieht, dass sein Kontostand nur minimal und äußerst kurzfristig ins Haben strebt, andererseits aber auch, dass keine andere Option bleibt, ist nur in den seltensten Fällen noch als positiv gestimmter Impulsgeber für die Stadtentwicklung zu gewinnen. Ein freier Mensch schon gar nicht. Der rennt nicht einmal sonderlich oft mit einem Lächeln durch die Magistrale. Der riskiert nicht das bisschen, was ihm bleibt und geht in den Betriebsrat. Der versteht vielleicht erst spät und doch noch eher als der Bürgermeister, wie sehr solche Tätigkeiten als gesellschaftliches Sedativum wirken. Selbst wenn man wollte, kann man sich nach dem Kassensturz nachts um halb zwölf bestenfalls auf den Heimweg, aber keinesfalls mehr in politische Mitbestimmung begeben.
Womöglich ist dies gar nicht so unwillkommen, denn einmal auf der glitschigen Bahn des rhetorischen Ungeschicks, präsentiert sich Rainer Werner einem bürgerlichen Engagement äußerst verschlossen. Jedenfalls wenn es um den Stadtumbau Ost geht:
Einen "Häuserkampf" befürchtet Werner, wenn wie von Dagmar Püschel vorgeschlagen, die Bürger intensiver in die Entscheidungsfindung zum Abriss einbezogen werden - beispielsweise mithilfe der AG Stadtumbau, in der bislang die beiden Wohnungsunternehmen, die Versorger und die Stadtverwaltung agieren. Damit würde die Akzeptanz für gewisse Entscheidungen steigen, sagte sie. Der Bürgermeister konterte, dass man in Anarchie lande, wenn der Stadtumbauprozess nicht objektiviert stattfinde. Einzelbefragungen werde es nicht geben, so Werner. "Keiner ist erfreut, wenn er vom Abriss betroffen ist." Zudem sei es ja nicht so, dass der Bürger nicht informiert werde, sagte er und verwies er auf Fortschritte, die bereits im Stadtbild gemacht wurden.
Aha, der Bürger, der ein Interesse an der Erhaltung oder Mitgestaltung seines Stadtraums hegt und den Anspruch erhebt, dass seine Stimme angehört wird, findet hier seinen Meister, der ihn gleich zum Sendboten der Anarchie erklärt. Man weiß nicht genau, wie umfänglich Rainer Werners Lektüreerfahrung mit Pjotr Kroptokin ist und woher er seine fundierte Kenntnis des politischen Konzepts der Anarchie bezieht, die Idee der "gegenseitigen Hilfe" ist ihm aber deutlich entweder nicht vertraut oder im Kern absolut fremd. Fast ist man froh darüber, keine Peter-und-Paul-Festung in Eisenhüttenstadt zu wissen, in die renitente Mieter bei Protest schnell umziehen dürfen. Die Praxis des Eisenhüttenstädter Stadtumbaus geht da geschickter vor: Sie ignoriert solche querstrebenden Interessen einfach und reißt - immer den argumentativen Holzhammer aus Sachzwang und Alternativlosigkeit schwingend - ab, was einmal auf dem Abreißbrett beschlossen wurde. Das löst das Problem dahingehend, dass die Betroffenen umziehen müssen und dies bei Nichtgefallen mit dem Vorgehen der Wohnungsbaugesellschaften, denen sie in Eisenhüttenstadt zwangsläufig wieder begegnen müssen, bevorzugt in eine andere Stadt tun. So wird man seine Volands los. (Oder gerade die nicht.) Da wird nicht mehr gestört und statt des Würfelhauses kann ein weiterer Markendiscounter entstehen - "Alles, was Arbeit schafft,.."
Dass es um die Wohnungssituation in Eisenhüttenstadt nicht unbedingt nur zum Besten bestellt ist, zeigt auch ein weiterer Artikel aus der Märkischen Oderzeitung, wiederum von der momentan in sehr guter Form auflaufenden Janet Neiser. Für den Text wurden Gymnasiasten zu ihrer Sicht auf Eisenhüttenstadt befragt. Deutlich wird u.a., dass die erklärtermaßen familienfreundliche Stadt hinsichtlich der Interessen der Jungerwachsenen einen blinden Fleck besitzt. Das darf sie ruhig, denn so wie es aussieht, wird sich auch dieser Jahrgang bald in anderen Teilen der Republik wiederfinden:
Auf die Frage, ob sie hierbleiben wollen, schallt es aus fast allen Mündern: "Nein." Aber selbst wenn sie bleiben würden, für die Jugendlichen sei es "ganz schwer, einen Weg in die Selbstständigkeit zu finden", mischt sich Lehrerin Sonja Edel in die Diskussion ein. Das Mietniveau hier sei so hoch. "Es ist fast unmöglich, eine kleine Wohnung zu finden", betont sie.
Die jungen Wilden finden keine Heimstatt. Dafür heißt man dann die begüterten Senioren willkommen. Leider auch nicht konsequent sondern zu großen Teilen in Richtung Inselfriedhof derart aus dem Stadtbild hinausgeschoben, dass man am Rathaus nicht über Rollatoren stolpern muss. Auch eine nicht unbedingt glückliche Planung. Familienfreundlichkeit ist vielleicht zu sehr am Werbefernsehidealbild der Kleinfamilie ausgerichtet und vernachlässigt mitunter die, die noch keine eigene oder keine eigene mehr haben. Oder nur eine ziemlich kaputte. Auch so etwas gibt es in Eisenhüttenstadt.
Ansonsten muss man nicht noch einmal darauf hinweisen, dass die vom Amtsinhaber gelobten äußeren Fortschritte im Stadtbild, die er sich als Pluszeichen in die Bilanz setzt, vorwiegend darauf beruhen, dass er quasi geschenktes Geld zweckgemäß ausgibt, sich sein persönlicher Verdienst also durchaus im Bereich des Überschaubaren bewegt. Man muss auch nicht weiter ausführen, dass eben diese sonnengelben Straßenzüge der Nationalen Bautradition der DDR zwar nett anzuschauen sind, aber nicht automatisch bei jedem Einwohner für Euphorie sorgen. Man muss allerdings darüber staunen, dass Dagmar Püschel angesichts der vielen Zielscheiben, die sich der Amtsinhaber um den Hals hängt, nicht zum goldenen Schuß des zwingenden Arguments ansetzt. Vielleicht entspricht diese Bissigkeit im richtigen Moment nicht in ihrem Naturell. Vielleicht reicht es dann aber auch nicht und sie verliert aus Mangel an Profil die Wahl am Sonntag. Selbst angesichts der ungleichen Wahlkampfmittelverteilung:
Auch zu ihrem Wahlkampf wurden beide Kandidaten befragt, genauer gesagt zu den Kosten. "Das kostet richtig Geld", sagte Bürgermeister Werner. Er habe Agenturen engagiert. Finanziert werde das alles privat, von der SPD und Sponsoren, aber nicht aus städtischen Mitteln. Dagmar Püschel präsentierte eine konkrete Zahl. 2000 Euro stünden ihr zur Verfügung. Die Plakate habe der Landesverband der Linken gesponsert.
die Dagmar Püschel angesichts der Geschütze, die Rainer Werner in die Materialschlacht wirft, bestenfalls die Taktik einer
Guerrillera übrig läßt, könnte man die so einfältige wie autoritäre und vor allem durchsichtige Programmatik Rainer Werners gerade vor solchem Publikum wie im i-Punkt mit dem Kaffeelöffel aushebeln, wenn man sich nur mal ein Herz fasste und aufs Ganze ginge. Dafür scheint die Herausforderin an dieser Stelle aber einfach zu beherrscht zu sein.
Letztlich - auch dies wurde eigentlich schon oft genug betont und ist jedem vernunftbegabten Menschen in den Wohnkomplexen mehr als bewusst - hängt die Zukunft der Stadt nur soweit am gewählten Bürgermeister, wie ihm die Bürger das Feld überlassen. Er ist entgegen mancher Annahme kein Alleinherrscher, sondern steht eigentlich im Dienste aller Bürger - auch derer, die ihn nicht gewählt haben. Die Stadt ist nicht sein Eigentum, auch wenn er sie gern mal leichtfertig katzbuckelnd einem Stahlmilliardär als Bonus zum Werk
dazuschenken möchte (obendrein als "Perle", was nun wirklich nicht stimmt: es ist eher eine Murmel, wenn auch eine mitunter schöne). Und diese Bürger können permanent auf das Rathaus einwirken und wenn sie dort nicht durchdringen, durchaus auch andere Wege beschreiten. Sie müssen einzig ihr Rückgrat durchdrücken und sollten dies wenigstens dann tun, wenn andere ihres zu sehr biegen.