"Der Zusammenbruch der Stahlindustrie von 1970 an kostete Zehntausende Arbeiter und Angestellte den Job. Doch die Stadt schrumpfte sich buchstäblich gesund..."
Da lässt man einen Freitag die Märkische Oderzeitung verschnürt im Postfach, weil man in der Frankfurter Allgemeinen nachliest, ob die (gesund)geschrumpfte Stahlstadt Pittsburgh ein Modell für die schrumpfende Stahlstadt Eisenhüttenstadt sein kann (Antwort: Überhaupt nicht.) und schon verpasst man den vielleicht interessantesten Artikel der Woche. (Oder erscheint er erst heute? Mal sehen, was der Bahnhofsbuchhandel hier tief im Süden Deutschlands bietet, dort, wo die spannenden Kampagnen dieser Republik heißnadelgestrickt werden, bevor sie in Brandenburg die Kaltmangelung erwartet..)
Die beiden bedeutendsten Journalisten, die Eisenhüttenstadt in den letzten Jahren beschrieben - Frank Kaiser und sein Vorgänger in der MOZ-Lokalredaktion Andreas Wendt - haben sich gemeinsam mit dem Casus Bürgermeisterwahlkampf beschäftigt, sich vom viel zu selten gewürdigten MOZ-Fotografen Gerrit Freitag ein
Facebook-Foto des amtierenden Stadtoberhaupts aus dem Archiv suchen lassen, vermutlich
Brandenburg aktuell gesehen und die Geschehnisse in einen kleinen Artikel eingefasst:
Kampagne aus München spitzt Wahlkampf an der Oder zu.
Martin Heyne selbst wird in Eisenhüttenstadt sicher nicht mehr glücklich, denn auch ähnlich zum RBB-Beitrag bekommen die "Aktion Sonnenschein" und der Rest der Polizeiakte des Müncheners ihren Absatz. Er hat sich Gefahr gegeben und kommt in ihr, was Eisenhüttenstadt angeht, aufgrund seiner Vergangenheit und dank der medialen Aufbereitung um. Womöglich ist Martin Heyne dies aber nicht allzu wichtig. Rainer Werner dagegen darf auch in dem bedauerlich schlichten Artikel der Märkischen Oderzeitung noch einmal seine Verdienste aufzählen und erwartungsgemäß finden sich die üblichen Fakten:
"Mit 70 Millionen Euro wird die unter Denkmalschutz stehende Innenstadt derzeit aufpoliert, im Industriegebiet in Nachbarschaft zum Stahlwerk entsteht eine 630 Millionen Euro schwere Papierfabrik, die Hunderte von Arbeitsplätzen bringen soll. "Es wird komplett geleugnet, was in den vergangenen Jahren geschaffen wurde", erregt sich Werner."
Die Stadt lebt zugegeben leider hauptsächlich von Arbeit und Konsum, eine glückliche Stadt aber nunmal nicht von Prosperität allein. Dass die denkmalgeschützten Teile der Wohnkomplexe erhalten werden, zählt zur Pflichtaufgabe, die der Denkmalschutz einfach grundsätzlich einfordert. Darüber, ob die Politur, von der besonders die lokalen Wohnungsbaugesellschaften profitieren, in dieser Form von jedem als notwendig angesehen wird, gab es auch schon die eine oder andere Diskussion und nicht immer einen eitel sonnengelben Konsens.
Was sich hier auf Rainer Werners Habenseite tummelt, ist demnach einerseits die reine Pflichterfüllung und andererseits eine umfängliche Förderfinanzierung des Landes für einen Wellpappenhersteller, der seine Marktposition mit denkbar geringen Eigeninvestitionen an einem nahezu geschenkten Standort ausbaut.
Die Aufgabe des Bürgermeisters ist bei solchen Unternehmungen vor allem, zuzuge- und ansonsten nicht im Weg zu stehen. Man kann Rainer Werner an dieser Stelle nichts vorwerfen, aber das umfängliche Schulterklopfen erscheint doch mehr als übertrieben. Das wäre, als würde man in Erstaunen ausbrechen, weil die Kassiererinnen im Netto-Markendiscounter das per Aufnäher verkündete "Ich bin freundlich", tatsächlich mittels Grüßen und Lächeln in die Tat umsetzen. Seine Aufgabe professionell auszufüllen gehört zu den Mindesterwartungen, die man als Kunde oder Bürger haben darf.
Die Erfüllung der Grundaufgaben, die ein Bürgermeisteramt mit sich bringt, hat Rainer Werner - manchmal strittig, manchmal solide, mitunter fragwürdig - eingelöst. Dies sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass am Ende wenig mehr als Stadtverwaltung stattfindet.
Die von Wolfgang Kil häufig zitierte und im Rathaus sicher auch bekannte Aussage des tschechischen Journalisten Dan Hruby: „Sich eine Stadt ausdenken zu wollen, ist wie der Versuch,ein künstliches Lebewesen zu erfinden.“ ist kein Freibrief, jeden übergeordneten Gestaltungswillen ins Pragmatische der Tagespolitik auslaufen zu lassen. Umso mehr gilt dies, wenn nicht die Raumordnung, sondern die Stadtgesellschaft Kern bürgermeisterlichen Schaffens ist. Der Umgang mit der Polis - also die eigentliche Politik - unterscheidet sich maßgeblich vom Oikos, das Leitbild nicht nur des Rainer Werner'schen Stadtverständnis' zu sein scheint.
Während letzteres vorwiegend auf die richtige Entscheidung im richtigen Moment setzt und sich bei den damit befassten Akteuren schnell zu jenem paternalistischen Selbstverständnis ausbildet, das Martin Heyne vorrangig kritisiert, fokussiert der erste Aspekt den Dialog.
Wenn man Lewis Mumfords Diktum "Häuser machen eine Siedlung, Bürger machen eine Stadt" - das sich übrigens reibungslos auf den ent-urbanisierenden Charakter der in den Abrissegebieten geplanten Einfamilienhaussiedlungen Eisenhüttenstadts anwenden lässt - an die lokalen Gegebenheiten anpasst und meint "Fassadensanierung und Investitionen machen einen gute Bilanz, Dialog ein gutes Miteinander", dann stößt man schnell in die Leerstelle, die Eisenhüttenstadt so abweisend erscheinen lässt.
Es fehlt eine Hälfte im Städtischen, nämlich das Stadtgesellschaftliche, und da der aktuelle Bürgermeister in den letzten zwei Jahrzehnten hier wenig Impulse gesetzt hat und sein aktuelles Wahlprogramm wenig in dieser Richtung enthält, darf man ihm an dieser Stelle sicher nicht zuviel zutrauen. Sein aktuelles Wahlwerbevideo ("Schöne Brandenburgische Heimat. Stadt und Stahl") ist schon etwas weiter als nah an der Realsatire und fast erwartet/befürchtet man, dass der "eine, der aus dem Werk kam" nicht bei seinem Wandern durch die blühenden Diehloer Berge auch noch im Voll-Playback zu singen anfängt und eine Abordnung von Stahlarbeitern dazu rhythmisch klatscht, während Matthias Platzeck als Sympathiemagnet und damit Günther Jauch der brandenburgischen SPD ein weiteres Mal gute Miene zum peinlichen Spiel machen muss (wie z.B. im Stadtfestvideo der MOZ).
Warum muss Volksnähe eigentlich immer in Bilder der Volksmusikhitparade gekleidet sein? Diese groteske Präsentation ist nicht nur eine Beleidigung jedes denkenden Menschen, sondern zeigt auch, warum Rainer Werner eben keiner für alle ist (und dass die Präsentationskompetenz der lokalen Medienproduzenten noch nicht in jedem Fall im 21sten Jahrhundert angekommen ist).
Das Wahlvideo wie der Slogan "Es geht um Eisenhüttenstadt." sind deutliche Zeichen dafür, dass kein Gestaltungs-, sondern ein reiner Imitiationswille herrscht, der sich dabei kaum auf der Höhe der Zeit zu halten vermag, geschweigedenn irgendetwas an Zukunftsprogrammatik enthält. Rainer Werner ist es bisher nicht gelungen den Stallgeruch der frühen 1990 loszuwerden und auch das merkt man der Stadt sehr an. Dies ist allerdings nicht die Hauptsache.
Wichtiger und seinem Amt angemessener wäre es, wenn das Motto hieße: "Es geht um die Menschen in die Eisenhüttenstadt." und meinte: auch um die, die nicht den herrschenden Mustern entsprechen. Es ginge um das Verständnis, dass nicht hauptsächlich die Idylle oder der Wunsch danach dominiert, sondern darum, dass Positionen auch jenseits der Ansichtskartenperspektiven, die im Wahlclip erschreckend nah an der Wachturm-Ästhetik vorbeischrammen, ihren Platz in Eisenhüttenstadt finden. Die Herausforderung wäre die Gestaltung einer Stadtgesellschaft, die selbst Querulanten wie Martin Heyne integriert und nach seiner Fasson leben lässt, anstatt ihn multimedial auszugrenzen.
Wie verengt allerdings das Verständnis der Materie bei vielen Beteiligten ist, zeigt auch die kleine Nebenbemerkung der journalistischen Meinungsführung Eisenhüttenstadts: "das nicht schlecht dotierte Amt des Bürgermeister" - Als ob es ums Geld ginge.