Neben der ohnehin nicht ganz einfachen Entscheidungsfindung für Bundestagswahl am 27. September sind gerade die Wahlberechtigten Eisenhüttenstadts zusätzlich aufs Höchste gefordert und die Politikfreie Zone an der Eisenhütte ist wenigstens in diesem Punkt keine mehr. Auch optisch sind die Laternen und Mittelstreifen der Hauptstraßen eng bestückt mit Kampfansagen und Wahlversprechungen, die mitunter ("Geld für Deutsche" bzw. "Reichtum für alle") derart plakativ sind, dass sie in ihrer den Verstand beleidigenden Dummdreistigkeit eher als Aufrufe zum Wahlboykott erscheinen. Aber der politische Mensch lässt sich selbst von Wahlwerbung nicht klein kriegen. In Eisenhüttenstadt ohnehin nicht, denn nicht nur Burger King ruft die "Angry Weeks" aus, sondern auch ein Kampagnenfeuerwerk, dass sich durch seine primäre Ausrichtung auf den bisherigen, langjährigen, einzigen Nachwendebürgermeister Eisenhüttenstadts konzentriert. Rainer Werner für die Zukunft von Hütte (Genitiv-Puristen hätten lieber ein "für Hüttes Zukunft" gesehen, aber Sprachpedanten sind in Städten wie dieser ohnehin selten wohlgelitten) oder Werner in Rente - so rotiert das Personalkarussell hauptsächlich um eine Personalie.
Die Herausforderin Dagmar Püschel kommt dagegen mit einer vergleichsweise zurückhalteneren Webpräsenz daher, zeigt schön im Header das Gartenfließ mit Seniorin und Hund, präsentiert sich dazu mit recht nüchterneren Plakaten und mit einem so naheliegenden wie schon von Obama für die nächste 30 Jahre besetzten "Wechsel"-Ansatz als Brustdruck auf dem T-Shirt.
In Eisenhüttenstadt allerdings wäre es wirklich einer in seiner Grundsätzlichkeit fast analog zu Obama. Allerdings waren Vater und Sohn George Bush in der Addition nur 12 Jahre Präsidenten der USA. Rainer Werner führt Eisenhüttenstadt im 19ten Jahr. Das lässt dreierlei Schlüsse zu: 1. Rainer Werner ist ausgesprochen zäh und durchsetzungsstark. 2. Rainer Werner ist ausgesprochen beliebt. 3. Die Eisenhüttenstädter sind in dieser Sache sehr genügsam. Vermutlich ist es eine Mischung aus allen drei Gesichtspunkten in bei Punkt 1 und 2 - so der Eindruck von der Straße - jeweils verwässterter Form. Also: relativ zäh, bei manchen beliebt, vielen schnurzpiepegal, da sie andere Sorgen/Gedanken/Interessen als Lokalpolitik haben.
Da aber der Amtsinhaber u.a. dank der Holzhammerkampagne "Werner in Rente" mehr Gegenwind denn je zu spüren bekommt, es also erstmalig in der jüngeren Stadtgeschichte nicht zwangsläufig zu einer - wie jemand salopp und etwas unschicklich bemerkte - "abgekarteten Bartenwahl" kommt, trifft es sich für Rainer Werner eigentlich ganz gut, dass der überaus und parteigrenzend übergreifend beliebte Matthias Platzeck seinem Parteigenossen den Rücken stärkt und auf den Großaufstellern zur Seite steht:
Das Plakat will etwas anderes vermitteln. Matthias Platzeck - hier immer noch verehrt als Deichgraf - überragt den Eisenhüttenstädter auch optisch, soll also zeigen, dass das Land Brandenburg (verkörpert durch den Ministerpräsidenten) der an den Rand gedrückt stehenden Eisenhüttenstadt (verkörpert durch den Bürgermeister) den Anschluss an die Mitte der Gesellschaft zu wahren hilft bzw. dazu bereit ist. Das geht aber nur, wenn die Wähler mitziehen und entsprechend ordnet man an: "Rainer Werner wählen!" Dies ist nicht so sehr im Befehlston gemeint, wie es erscheint, sondern der Wahrnehmungsforschung geschuldet, die ermittelte, dass man bei der Umstellung der Aussage vom Vorschlag ("Wählen Sie doch wieder mal den Bürgermeister.") zur Anordnung ("Wählt!) die eine oder andere Stimme eines Unentschlossenen herbeizwingen kann. Hinter den beiden Herren in ihren maus- bzw. steingrauen Anzügen läuft auf mittlerer Unterleibshöhe ein Stadtstreifen ab, der noch mal zeigt, wie begrenzt die Stadtbilder auf Stahl, sanierten Zuckerbäckerstil, Fürstenbergs Sonnenseite und die Magistrale ist. Originell ist es nicht, aber um Originalität geht es nach dieser langen Amtszeit nicht. Sondern ums Solide.
Natürlich lässt das Wahlprogramm Rainer Werners (PDF) so manche Leerstelle und als nicht ganz nah Mitrennender fragt man sich auch, warum die Müllverbrennungsanlage, die sicher eine Handvoll dieser höchstprioritären Arbeitsplätze in die Stadt bringt, nicht in den üblichen Erfolgsbilanzen, sondern erst durch eine beißende Anzeige im Blickpunkt so richtig bekannt wurde. Sicher überschätzt sich der Bürgermeister mitunter in seinem tatsächlichem Einfluß auf die Entscheidungen zum Stahlstandort, die eher von Konzernkalkulationen als von dem emsig lobbyierenden Verwalter der Wohnstadt neben dem Werk abhängig sind. Sein Schärflein liegt vermutlich am Ende der Hierarchie, die über Landes- und Bundespolitik einen gewissen Restdruck auf und vor allem Anreize für den Globalplayer, der jeweils auch das Werk bei Eisenhüttenstadt im Portfolio hat, zu konzentrieren vermag. Wirklich unangenehm ist aber die sonnengelbe Proklamation eines "Wir-in-Hütte"-Gefühls mit neuer Solidarität und Gerechtigkeitssinn. Das erinnert in der Sprache schon an Zeiten, die vor der Amtszeit Rainer Werners liegen und damals dabei denkbar falsch. Auch heute exkludiert "Wir-in-Hütte" mehr, als es einschließt. Wer sich ab und an in der Stadtbevölkerung bewegt, merkt, dass es das eine "Wir" nicht gibt, sondern viele vereinzelte Interessengrüppchen, die vor allem verbindet, dass sie sich nicht in den öffentlichen Diskurs einbringen, weil sie es für wenig sinnvoll erachten. Kleinstädte sind immer scheußlich für die, die sich gegen die Verwaltungshoheit stellen, weswegen die Lokalzeitungen auch überwiegend sehr handzahm schreiben, es sei denn, der König taumelt schon. Momentan kann man nicht sicher sein.
Was Eisenhüttenstadt vielleicht eher benötigt, als einen "Wechsel", ist eine Öffnung, eine dialogorientierte Öffentlichkeit, die auch den Disput annimmt und durchsteht, ohne dass im Anschluss lebenslange Animositäten das persönliche Verhältnis trüben. Was fehlt, ist eine sachlich geführte, sachbezogenen Diskussionskultur jenseits schwachbrüstiger Schlagworttiraden, bestenfalls halbherziger Imagekampagnen mit geringem Identifikationspotential und einem Hinbiegen der Lage, wie es gerade in die Argumentation passt. Allerdings hat man in der ehemals ersten sozialistischen Stadt Deutschlands mit einer auf ein Miteinander gerichteten Kommunikation traditionell wenig Erfahrung und seit 1990 sind diesbezüglich Fortschritte zwar nicht ganz aus-, aber doch eher überschaubar geblieben. Das liegt übrigens nicht unbedingt in der Stadtverwaltung allein begründet, sondern vielmehr Teil des Naturells sehr vieler Eisenhüttenstädter und lässt sich über Nacht auch nicht beseitigen. Man läse nur eben sehr gern als Nahziel "Mehr Dialog auf Augenhöhe zur Gestaltung von Perspektiven schaffen." als das schon fast bizarr anmutenden Mantra "Es gilt, neue Arbeit in die Stadt zu holen."
Es gibt mehr Arbeit denn je, allerdings in anderer Gestalt, als es sich die aktuelle Politik in der Breite vorstellt. Es wird wohl noch ein bis zwei Legislaturperioden dauern, bis man einsieht, dass die Fetischisierung der Erwerbsarbeit, die eigentlich eine Fetischisierung des Einkommens und damit des Mediums Geld ist, in einem gesellschaftlichen Kontext, in dem Erwerbsarbeit nur in seltenen Fällen als sinnstiftend empfunden werden kann, eher nicht förderlich für die Gesellschaft ist. Andere Werte werden davon überlagert und die Verfasstheit der Stadtgesellschaft ist einer davon.
Rainer Werner begrenzt die stadträumliche Facette dieses Aspekts auf "die Rekonstruktion unserer Innenstadt", was u.a. wohl bedeutet, dass die vielen quer in den Stadtraum gepflügten Brachen keine Nutzungsaussicht erhalten und die Fragmentierung der Wohnkomplex auch längerfristig hingenommen wird, und dass Fürstenberg den Fürstenbergern überlassen bleibt und ein behäbiger Kiez mit mäßiger Attraktion sein wird - es sei denn, ein Wasserwanderer legt kurz zum Auftanken beim Bollwerk an.
Bedauerlich ist ebenfalls, dass die angekündigte "neue Kommunikationsstrategie" nur das Flächendenkmal Eisenhüttenstadt nach außen vermarkten soll. Warum eigentlich eine neue Kampagne? Für diejenigen, die sich für diese Art von Architektur und Städtebau interessieren, ist Eisenhüttenstadt längst kein Geheimtipp mehr. Architekturtouristen muss man nicht mit Kommunikation locken, sondern mit einer adäquaten Aufbereitung der baulichen Besonderheiten. Allen anderen wird Eisenhüttenstadt auch mit üppiger Werbung bestenfalls für drei Tage im August als Stadtfestgaudi ein Ziel sein, wie es auch Elsterwerda oder Ludwigsfelde mit vergleichbarem Angebot wären/sind. Oder sie fahren durch nach Neuzelle und erinnern sich - O-Ton 2009 - an dieses "gräßliche DDR-Nest", das "eigentlich schon in Polen liegt", von dem sie aus dem Reisebusfenster nur Aldi, Netto und Lidl auf der einen Seite und den grauen, leeren WK I auf der anderen gesehen haben. Architektonisch sind Hoyerswerda und Schwedt nicht minder reizvoll/reizlos als Eisenhüttenstadt. Wer die Feinheiten goutiert, braucht eher vor Ort sachgerechte Führungen und Veranstaltungen. Keine Kampagne. Für die Bewohner der Stadt, die im Rahmen solcher Exkursionen immer ein wenig wie Zootiere im Safaripark der DDR-Architektur wirken, benötigt man aber auch Punkte der Identifikation. Die liegen nicht vorrangig im Charakter eines Flächendenkmals.
Für die Aufbaugeneration, deren Leistung abseits jeder Frage nach dem ideologischen Rahmen sicherlich zurecht als "persönliche Lebensleistung" im Wahlprogramm Rainer Werners besondere Beachtung findet, ist die persönliche Bindung an die Stadt sicherlich gegeben. Aber schon die Generation danach fand weitgehend besetzte Plätze und Deutungen vor. Die heutige Generation sieht sich weniger räumlich eingeengt, als von dem Mangel an Fixpunkten zur Teilhabe am Stadtleben. So wird alles schnell zur überhohen Schwelle und ein Nicht-Ort wie das City Center zum Nachmittagstreffpunkt. Wer so aufwächst, ordnet seine Lebensumwelt vielleicht nach Werten wie Vorstellbalkonen und Parkflächen.
Vielleicht ist das sogar für jeden Einzelnen legitim. Für die Stadtgesellschaft ist die Begrenzung auf etwas Stadtfest-Eskapismus und ansonsten einer dauernden Konfrontation mit einem Stadtraum, dessen Entwicklung sich nicht absehbar und auch im Sanierungsgebiet nicht wirklich positiv erfahrbar entwickelt, begrenzt. Was in der Innenstadt zu sehr fehlt, ist eine tatsächlich Belebung und Ausnutzung des Raumes. Nicht selten werden, auch das kein Vorwurf sondern eine nüchterne Feststellung, recht enge kleinbürgerliche Ideale umgesetzt, die sich von denen der vorstädtischen Fertighausanlagen kaum unterscheiden und den Zaun - gedacht oder gesetzt - als Abgrenzung zum Nachbarn und zur Welt auch hier als Handlauf halten wollen. Es ist nichts falsch an einem solchen Leben. Nur findet es in einem Raum statt, der eigentlich für andere Lebensformen angedacht war. Vielleicht entwickeln sich hier Nutzungsvarianten, die als hybride oder neue Formen den Möglichkeiten dieser Stadtstruktur gerecht werden. Aber dies braucht Zeit und erfordert auch, es auszuhalten, mit Dingen im öffentlichen Raum konfrontiert zur werden, die zunächst einmal durch das Raster des eigenen Weltbilds fallen. Ideal wäre sogar eine gewisse Neugier gerade solchen Dingen gegenüber. Zu beobachten ist Derartiges leider nur sehr selten.
Das Leben in der Stadt erscheint im Wahlprogramm von Rainer Werner bedauerlicherweise insgesamt meist kurzsichtig ökonomisierend betrachtet. Dort dreht es sich um "preiswert, günstig" - welch eigenartige Dopplung - "Wohnen". Die Selbstverständlichkeit wird zum Besonderen erhoben und das, worum es eigentlich geht, ausgeklammert. Warum nicht "in einer Atmosphäre wohnen, die eine glückliche Interaktion zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft ermöglicht".
Es ist schwer vorauszusehen, ob Dagmar Püschel diese - zugegeben nicht immer jedem anderen genauso aus dem Herzen sprudelnden - Vorstellungen einer den Stadtraum stärker betonenden Lokalpolitik teilt.
Auch ihr Programm ist pragmatisch gehalten, dabei weniger aufgeplustert als das des Bürgermeisters, der aber auch schon ordentlich Vorlauf in diesen Dingen besitzt. Immerhin fordert sie unterstützenswerter Weise die kostenfreie Nutzung der Stadtbibliothek für Kinder und Jugendliche, wobei parallel die an sich im ostdeutschen Vergleich recht gut aufgestellte Bibliothek selbst noch ein wenig stärker skandinavisiert werden könnte. Längere Öffnungszeitung und die Aufstockung des Medienetats - damit lockt man vielleicht nicht alle Mallrats auf die Leseterrasse, aber immerhin böte man einen zentralen öffentlichen Lern- und Begegnungsort.
Fünf Euro für das Phrasenschwein (und fünf Euro von mir für den ersten Teil des Satzes) müsste Dagmar Püschel in jedem Fall für die grauenerregend platte Formulierung "in Zeiten knapper Kassen" einzahlen, denn pleonastischer geht es nicht. Es gibt wohl niemanden in der Eisenhüttenstädter Stadtverwaltung diesseits des Jahres 1989, der schon einmal Zeiten voller Kassen erlebt hat und so ist es, einzelne Ecken Südwestdeutschlands einmal ausgenommen, landauf und landab. Öffentliche Kassen sind immer knapp und so wird es bleiben. Von den zehn Euro, die jetzt zusammen gekommen sind, könnte man jetzt ein Taschenbuch für den Bibliotheksbestand erwerben und wenn Dagmar Püschel das jetzt liest und einverstanden ist, dann machen wir es auch. Versprochen.
Was mich angesichts der "knappen Kassen"-Formulierung so kirre macht, ist die dahinter stehende Flucht hinter das Argument des Sachzwangs, häufig um Kürzungsmaßnahmen zu rechtfertigen. Hier verwendet man die Phrase ausnahmsweise einmal positiv gemeint. Sie leitet die Forderung der Kandidatin nach einer stärkeren Bürgerbeteiligung ein. So sollen die Einwohner der Stadt vielleicht in Zukunft mit entscheiden, ob sie das Geld der Stadt lieber für Silbermond auf dem Stadtfest oder das Drehkreuz des Tiergeheges ausgeben wollen. Nur benötigt diese Forderung das Knappheitsargument gar nicht. Dass auch hier Fallstricke festerer Schnürung lauern und Schwarmintelligenz mitunter eher den Schwarm als die Intelligenz betont, muss an dieser Stelle nicht erläutert werden. Die Idee im Abstrakten ist erst einmal eine Annäherung an das strengdialogische Idealbild einer Stadtgemeinschaft, wie sie uns vom Blog naturgemäß vorschwebt. Was uns vom Blog wenigstens zur Hälfte noch auszeichnet, ist, dass wir in der Causa Bürgermeisterwahl keine Stimme haben, als die in diese kleinen Bermerkungen eingeschriebene. Eine eventuelle Belastung, am 27sten September verkehrt gestimmt zu haben, lässt sich so gut umgehen. Es ist schwer zu sagen, ob Rainer Werner, analog zur "Rainer Werner, wer denn sonst?"-Kampagne (PDF), wirklich der Mann der Zukunft ist. "Rainer Werner steht für Vertrauen von Investoren, für Solidarität und Gerechtigkeit." Auch diese Aussage kann und will nicht jeder in Eisenhüttenstadt unterschreiben. Wo die Pro-Kampagnenführer ein "überzeugendes Zukunftsprogramm" sehen, lesen andere nur die Bestätigung des Status Quo.
Einer der - nicht unbedingt wesentlichen - Nachteile Dagmar Püschels ist, dass sich ihr Name nicht übermäßig geschmeidig in kurzatmige Wortwitze umwandeln lässt. Immerhin aber hießen die bestgeformten Stoßstangen der Automobilgeschichte Dagmar, auch wenn man mit solchen Parallelen eher kaum im Bürgermeisterwahlkampf zu Eisenhüttenstadt punkten kann. Andererseits trifft sich in den Lindenallee traditionell die lokale Tuning-Gemeinde zum Sehen und Gesehen und Gehört werden. Selbst wenn so gut wie nie ein entsprechend gerüsteter Chevrolet Bel-Air o.ä. unter den ausgestellten Modellen ist - ein Feingefühl für solche abseitigen Fakten müsste bei dieser Zielgruppe in jedem Fall vorhanden sein.
Heute (Sonntag) war in den Lindenallee allerdings zunächst einmal ein Fernsehteam des RBB zugegen, um die Herausforderin es Eisenhüttenstädter Erwin Teufels (nach dem Merkmal: Souveränität und Dauer im politischen Amt) zu interviewen und die Rückseite ihres Wahlkampftrikots zu filmen.