Jetzt – erst jetzt – haben wir die Tendenz. Denn es brauchte tatsächlich ein paar mehr Eindrücke, damit sich das kaleidoskopische Prinzip der Deutschlanderschließung heraus entwickeln konnte, dass dann, wenn man die Berichte, Bilder, Videos in der Gesamtheit betrachtet, durchaus etwas Repräsentatives gewinnt. So wächst eine schöne Querschnittserhebung zur Stimmungslage der Bundesrepublik im Sommer 2009 zusammen, die am Ende vielleicht sogar eine andere Publikationsform verdient, als das zweifellos hochinteressante Tagebuch unter www.wahlfahrt09.de.
Mittlerweile findet sich auf der Seite noch ein originaltönender Nachtrag von der Jubiläumsmontagsdemonstration. Die Wahlfahrer selbst fahren allerdings momentan irgendwo nahe der Bodenseemetropole Konstanz herum, also in einer Region, die vielen ehemaligen Eisenhüttenstädtern nicht nur bekannt, sondern auch neuer Lebensort wurde. Ansonsten entspricht das Hochrheinische in etwa dem Gegenpol zur ostdeutschen Provinz und gehört wohl zu den Ecken des Landes, von denen der Hoyerswerda-Forscher Felix Ringel in der aktuellen Ausgabe des gedruckten SPD-Think Tanks perspektive21 schreibt:
„Fast möchte man zynisch behaupten, dass für das bisschen Solidarzuschlag die fast 2 Millionen Menschen, die nun fernab der ostdeutschen Heimat die Ballungszentren West mit Arbeitskraft, neuen Ideen und hierzulande ausbleibendem Nachwuchs stärken, recht billig erkauft sind.“
Man könnte die Rechnung sicher auch anders schreiben. Und dass der diesjährige Stadtfest-Peugeot nach Rottenburg am Neckar fährt , ist aufgrund des Einzelfallcharakters auch nur bedingt Beleg für die sehr interessante These, die sich aktuell in der ZEIT über die Raumentwicklung in Ostdeutschland liest:
„Wenn man den Ort schneller verlassen kann, erhöht sich die Bereitschaft eine Arbeit im Süden oder Westen oder im Ausland anzunehmen; doch aus jungen Pendlern werden schnell wieder Sesshafte, aber eben nicht mehr im Osten.“ Dazu gibt es ein schönes Foto aus einem aufgegebenen Eisenhüttenstädter Autoverkauf.
Der Infrastrukturauf- und –ausbau Ost asphaltiert demnach mehr die Pisten für den Exodus, denn dass er die erhofften Investition anzieht.
An Felix Ringels Beitrag mit dem schönen Titel „Willkommen in Hoytopia“ ist allerdings weniger die Feststellung, der einzigartigen Schrumpfung, die nicht nur, aber besonders die Schwerindustrie-orientierten Planstädte der DDR durchgängig erfasst hat (vgl. dazu auch die Wahlfahrt-Eindrücke aus Halle) spannend. Interessanter sind seine Überlegungen zu möglichen Perspektiven für diese Räume im Hier und - Entschuldigung - Hoyte.
Es ist klar, dass der unmittelbare Postsozialismus genauso wenig mit dem bundesrepublikanischen Marktwirtschaftsmodell zu tun hat, wie die aktuelle Förderwirtschaftsordnung. Es mag Regionen in den fünf östlichen Ländern geben, die aus sich heraus lebensfähig sind. Die Lausitz und Ostbrandenburg zählen aber eher nicht dazu, sondern überleben auf ihrem aktuellen Standard, dank üppiger Bezuschussung. Die Investition in die Papierfabrik am Eisenhüttenstädter Ufer des Oder-Spree-Kanals ist genau genommen keine privatwirtschaftliche, sondern eine staatliche Investition, von der natürlich der privatwirtschaftliche Betreiber ganz gut und die Stadt hoffentlich auch ein bisschen profitiert.
Sie enthält bei genauerer Betrachtung der Situation visuelle Anspielungen auf die wichtigen Elemente des benannten Zustands: das sozialistische Mosaik (auf den Syntax des einzelnen Steinchens reduziert und der Semantik enthoben), ein pseudo-nationales Signet in unfertiger Ausführung, ein mit Fördermitteln gestalteter, wenig genutzter Freiraum, dahinter eine weitgehend leere Einkaufspassage, in die kein Händler bis auf den vietnamesischen Allround-Discount-Markt ziehen mag, hinter dieser wiederum ein Abrissblock und dazwischen Menschen, die Einkaufsbeutel tragen oder einen Hund baden. Und das alles im einen natürlichen Aufbruch signalisierenden Frühlingslicht. Eisenhüttenstadt, Ostdeutschland 2009 also.
Insgesamt muss man Felix Ringel sicher zustimmen, wenn er schreibt, „dass die Marktspielregeln nur wenig und meist zugunsten ortsfremder Kapitalgeber funktionieren.“
Selbst wenn sich einige Vertreter des ersprießlichen Handwerkerwohlstands der frühen 1990er Jahre in eine gediegene mittelständische Existenz gerettet haben sollten, bleibt die ostdeutsche Gesellschaft nach wie vor im Vergleich zur Westdeutschen ganz anders strukturiert: Die sozio-ökonomische Nivellierung der DDR-Gesellschaft, die die Wohlstandsspitzen mächtig zurückschnitt und auch dem Lumpenproletariat die Lumpen durch pflegeleichte Polyamid-Textilien ersetzte, hallt nicht nur zwischen den verlassenen Plattenbauschluchten nach. Der Aufbau einer zureichenden Rücklage, die nicht nur die Teilhabe an einer Warenwelt, sondern auch Investition in das eigene Gemeinwesen ermöglicht, ist in den letzten 20 Jahren nur wenigen gelungen. Und die es könnten, waren lange damit beschäftigt, sich erst einmal mit der fremden Kultur und ihren Sitten und Gebräuchen zu arrangieren.
Das Bewusstsein für eine ostdeutsche Identität entsprang und entspringt dagegen in der Regel anderen Schichten, die mit Salem eher Stephen King als ein Bildungsideal assoziieren und sich auch weniger mit den Lebensgeschichten der Wittelsbacher als der der Witt auskennen. Man sollte die kulturelle Kluft, die sich in gängigen sozialen Codes, im Habitus und auch in akzeptierten Lebensperspektiven nicht unterschätzen. Gerade in der ostdeutschen Lebenswirklichkeit scheint die Angleichung weiter entfernt denn je: Nicht mehr die DDR-Kultur ist vorrangiger Fixpunkt, sondern eine – mitunter etwas sehr deformierte – Hybride aus von vorrangig westdeutschen Medien vermittelten Leitbildern, einer nachschwingenden Prägung durch die Sozkultur geprägten Nachhall und einem eigenartig gemischten Lebensumfeld, in dem vor erst wenigern Jahren aufwendig sanierte Turnhallen verfallen, weil die Schulen, zu denen sie gehören, aus Schülermangel geschlossen und mitunter bereits abgetragen sind.
Die Schulhofgestaltung des Fürstenberger Gymnasiums in Eisenhüttenstadt wäre der perfekte Skateboardpark mit frischen, glatten Oberflächen aus diesem Jahrtausend, über die sich mittlerweile schon wieder zentimeterdick das Moos erstreckt. Es ist eine Welt, in der die Idee des Privateigentums genauso wie die der Öffentlichkeit häufig nur in einer Vulgärform bekannt ist.
Was fehlt, sind Stimmen, die diese soziokulturelle Gemengelage nicht vorrangig als Markt interpretieren. Man sollte ihre Repräsentation auch nicht unbedingt einem Medium aus dem Hause Hubert Burda überlassen.
Daher ist der dokumentarisch gerichtete Ansatz der 09ner Wahlfahrer sehr begrüßenswert. Auch Felix Ringels kleiner Text führt in diese Richtung, bleibt aber, da er in perspektive21 erscheint, eher Teil des Metadiskurses der ostdeutschen Deutungseliten. Sympathisch ist der positive Ansatz allemal, selbst dann, wenn er noch einmal die wohlbekannte städtebauliche Qualität Hoyerswerdas herausstreicht. Er hat ja auch Recht: Was die DDR-Moderne angeht, ist Hoyerswerda fast noch interessanter als Eisenhüttenstadt, wo eher die Früh- und Übergangsphase, also die Brüche in der DDR-Stadtplanungsgeschichte eine Architekturreise rechtfertigen. „Ironischerweise wurde das Zentrum der zweiten sozialistischen Planstadt der DDR […] aufgrund von ökonomischen Zwängen, politischen Streitereien und materiellen Missständen nie fertig gestellt.“ - auch das ist ein typisch ostdeutsches Phänomen: Im Herzen alle Planung blieb eine Leerstelle. Man könnte ergänzen: Der Rückbau ergänzt das Freiraumangebot und führt so eine Traditionslinie weiter.
Dass es manchen Planstadtgesellschaften selten bis nicht gelingt, diese Räume sinnvoll zu nutzen, unterstreicht noch einmal die Vermutung, dass ein produktives Gefühl von Öffentlichkeit nicht gegeben ist. Andernorts – so in Halle-Glaucha – bemüht man sich. Vielleicht ist die Anwesenheit von jungen, kreativen Menschen, die noch nicht so haarscharf auf zweckrationales Handeln und Konfliktvermeidung ausgerichtet agieren, einer der Faktoren, die in der Praxis über die Ausprägung der stadtgesellschaftlichen Entwicklung stärker bestimmen, als die in Sachzwängen und eher schmalen Handlungsrahmen eingebundenen professionellen Stadtentwickler.
Zurück zu Felix Ringel und seinem Hoyerswerda: Er interpretiert den Schrumpfungsprozess als Umschwung der Moderne in ihr Gegenteil, was auch immer das sei. Eine postmoderne Lebensstruktur, die z.B. ich eher herauf ziehen sehe, entspräche mehr einer Dekonstruktion der Moderne, also einem Ausstieg aus den Ordnungsvorstellungen der Moderne. Da geht es weniger um die Frage, ob „man in Hoyerswerda in Zukunft noch [wird] küssen können?“ , sondern viel dramatischer darum, ob und wie man für die Transferregionen einen Lebensstandard erhält bzw. neue Standards zu entwickeln versucht, die sich maßgeblich von denen in Rottenburg, Heppenheim oder Esens unterscheiden müssen. Ich glaube – im Gegensatz zu Felix Ringel – nicht, dass die Entwicklung in Ostdeutschland ein Muster „bald Alltag des gesamten europäischen Kontinents werden“ wird. Hier konstruiert man sich eine Vorreiterrolle, die suggerieren soll, dass man doch irgendwo den Anschluss hält, und wenn es durch die Rolle der Avantgarde des Shrinking und Wrinklings der Städte ist.
Viel Avantgardistisches ist jedenfalls in Eisenhüttenstadt bisher nicht zu entdecken und auch aus Hoyerswerda hört man diesbezüglich wenig. Dafür agiert man deutlich zu zurückhaltend, profitiert besonders im Rahmen des Stadtumbau Programms viel zu gut von Transferleistungen und Förderprogrammen. Und – das ist sicher das Entscheidende – dazu möchte das Gros der Menschen in ihrem Leben doch ui sehr einer Ruhe und Normalität folgen, die von der westdeutschen Mittelstandsgesellschaft herüber leuchtet. Alles schön im Rahmen und an Morgen denken. Die Menschen von Hoyerswerda und anderswo wollen nicht Avantgarde sein, sondern unauffälliger Durchschnitt – was übrigens sowohl in der DDR wie in der alten Bundesrepublik das Generalrezept für einen reibungsarmen Lebenslauf galt. Der Nagel, der heraussteht, wird eingeschlagen, lautet ein nicht verkehrtes Sprichwort. Die bundesrepublikanische Gesellschaft bot selbstverständlich mehr Freizügigkeit in der Entwicklung. Dennoch galt und gilt weithin abweichendes Verhalten nur dann als akzeptabler Lebensentwurf, wenn es sich irgendwann rechnete, also zur Einkommensquelle wurde. Wer Geld damit verdient, ist auch als Mario Barth oder Cindy aus Marzahn anerkanntes, sogar prominentes und bewundertes Mitglied der Gesellschaft. Wer zu seinem privat Vergnügen im Stile eines Helge Schneiders im Stadtpark troubadiert, wird früher oder später vom Ordnungsamt vertrieben und erarbeitet sich bestenfalls eine Bekanntheit als irrer, bunter Hund.
Hoyerswerda verfährt zugegeben mit Projekten wie Die 3.Stadt oder der Malplatte in der Tat deutlich offensiver mit den Themen Rückbau und der Schrumpfung Eisenhüttenstadt, wo die Wohnungsbaugesellschaften fast autoritär, jedenfalls nahezu bar jeder reflektierenden Begleitung ihre Abriss- Sanierungsprogramme möglichst leise herunter spulen. Aber die Bevölkerung Hoyerswerdas als „Avantgarde im eigentlichen Sinne des Wortes“ zu bejubeln, nur weil es sie in puncto Schrumpfung besonders mächtig beutelt, lässt sich irgendwie auch schnell als Zynismus auslegen. Und – bei allem Respekt vor dem individuellen Ansatz – einen, der sich für das Bürgergeld starkmacht, findet man mittlerweile auch in jeder Stadt.
Abgesehen davon ist die Fragestellung „Wie gestalten Menschen Leben und Gemeinwesen, wenn sie nicht mehr Teil des Systems der Lohnarbeit sind?“ unzweifelhaft die, an der sich Politik in Ostdeutschland orientieren muss. Die „Politikfreie Zone an der Eisenhütte“ – das ist wirklich eine garstige Überschrift – erklärt sich vielleicht auch daraus, dass die Diskrepanz zwischen den über die medial vermittelte Politik ausgerufenen Leitbildern einer Leistungsgesellschaft, und den konkreten Möglichkeiten Leistung zu erbringen, zu groß ist, um überhaupt noch einen Bezug zwischen den Erklärungen und dem eigenen Leben herstellen zu können. Auch hier gibt es Parallelen mit der späten DDR. Die in der DDR sozialisierten Generationen weisen dabei sogar oft ein außerordentlich ausgeprägtes Arbeitsethos auf – je älter desto größer. Daraus erklärt sich auch die Verbitterung weiter Kreise, die nach 1990 einsetzte, als sie erfuhren, dass ihre Arbeitskraft keinen Wert hat und das, worin sie sie bisher eingebracht haben, schon gar nicht. Es gibt kein richtiges Leben im falschen.
Die (in Ostdeutschland) verbliebenen Nachwendegenerationen haben dagegen zur Arbeitswelt zu großen Teilen eine deutliche Distanz. Sie kennen Jobs, keine Berufe, denn Berufe gibt es nicht mehr, wohl aber ab und an auszufüllende, nicht selten prekäre, Beschäftigungsverhältnisse, die notwendig sind, um eine Teilhabe an der Konsumgesellschaft auf minimalem Niveau zu gewährleisten. Mit dem in der selben Ausgabe der perspektive21 ausdrücklich begrüßten Deutschlandplan eines Frank-Walter Steinmeiers, der von vier Millionen neuen Arbeitsplätzen (binnen 12 Jahren) träumt, können sie wenig anfangen. Ihre Träume sind andere. Gut, die 6000 neuen Arbeitsplätze, die der Steinmeier-Exeget Günter Baaske für Brandenburg dank den erneuerbaren Energien entstehen sieht, werden sich füllen lassen. Und kompensieren vielleicht die üblichen Freisetzung an anderen Stellen ein wenig. Das Kernproblem wird aber nicht berührt.
Ökonomisch notwendig sind viele der in Ostdeutschland anzutreffenden, staatlich alimentierten Beschäftigungsformen nicht. Oftmals dürften die künstlich konstruierten Arbeitsbeschäftigungsplätze tatsächlich in der Summe teurer sein, als eine bedingungslose Auszahlung der Bezüge. Es spricht also wenig dagegen, das von Felix Ringel im Anschluss an Wolfgang Engler und einem namentlich ungenannten „Ideengeber aus Hoyerswerda“ entworfene EU-Projekt „bedingungslose Grundsicherung“ in einer dieser aufgegebenen ostdeutschen Städte auszuprobieren. Der Anthropologe aus Cambridge hat dabei natürlich die wissenschaftliche Feldstudie vor Augen:
„Wie organisieren diese Experimentalgesellschafter ihr Zusammenleben? Was probieren sie in den Bereich[en] Architektur und Städtebau, Soziales und Kultur, Bildung und Wissenschaft, Infrastruktur und gesundheitliche Versorgung, Pflege und Gemeinsinn, Wirtschaft und Politik aus? Wie ändert sich ihr eigenes Selbstverständnis? Welche neue Spezies Bürger reift in einem solchen Umfeld heran?“
Die Option der „Menschenversuche“ (die Überschrift ist ebenfalls etwas unglücklich, der schrecklich spontanen Mündlichkeit sei dank!) liegt offensichtlich wieder auf dem Tisch. Wenn man mit der Konserve der Pandora jongliert, sollte man aber möglichst eine wieder zu deckelnde zur Hand nehmen. Irgendwann gab es nämlich in Hoyerswerda (und anderswo) eine Form von spontaner Selbstorganisation, von der sich wohl niemand eine Neuauflage wünscht...
Bei aller Skepsis ist es offensichtlich, dass eine Eisenhüttenstadt nicht auf Dauer aus Erding finanziert werden kann. Das wollen weder die Eisenhüttenstädter noch die Erdinger. Es ist auch klar, dass ein Erdinger Modell in einer Eisenhüttenstadt nicht so gut geht, wie ein Erdinger Weißbier. Sprich: Dass man jemals eine sozio-ökonomische Formation erreichen wird, die analog zum westdeutschen Modell funktioniert. Man könnte nun – so ähnlich hat es Thomas Kralinski einmal in einer anderen Ausgabe von perspektive21 angedeutet – die Region entsiedeln, die letzten Eisenhüttenstädter also nach Erding exportieren und sie in den dortigen Arbeitsmarkt einzugliedern versuchen, während man an der Oder die Stadt zuschließt und der Natur überlässt. Auf dem Gelände des WK VII macht man damit aktuell ganz schöne Erfahrungen. Auch das wollen weder die Eisenhüttenstädter noch – schon gar nicht – die Erdinger. Es würde auch nicht gut gehen.
Eine typische ostdeutsche Politik müsste sich also um einen Mittelweg bemühen, der die Arbeits- und Leistungsgesellschaft nicht an die größte Glocke hängt, andere Werte in den Mittelpunkt rückt und sich – nun wird der Kreis ins Quadrat genommen – dabei eine Form der Finanzierung ausdenkt, die zwar keinen allgemeinen Luxus garantiert, aber doch ein Überleben auf einem Niveau, das den Raum und die Zeit für ein entspannt-aufgeklärtes, produktives Öffentlichsein lässt. Das gerade ein Publikationsorgan einer ehemaligen Arbeiterpartei einen Beitrag, der in diese Richtung tendiert, veröffentlicht, ist eine kleine ironische Fußnote, die sie mit der Deutschlandplan-Euphorie natürlich erst einmal wieder durchstreicht. Vielleicht könnte sich die SPD-Brandenburg dennoch demnächst als Vorreiter einer Politik für eine Gesellschaft mit dem Schwerpunkt jenseits der primär die Konsumkultur stützenden Erwerbsarbeit auch als Partei wieder für die Region interessant und wählbar machen. Möglicher Koalitionspartner wäre dann das Sprachrohr der postmateriellen Leitkultur: Die Piratenpartei. Die Zusammenführung der Digital Boheme mit dem abgefallenen Proletariat – das wäre die Herausforderung. Sie nennen es Arbeit. Meist ist es eine ohne Festanstellung und oft ohne richtigen Lohn. Hier wie dort.
Im eher Wahlfahrt-verdrossenen Weblog politplatschquatsch (bzw. der readers-edition) bekommt die kurze Stahlwerkserinnerung, die die Wahlfahrer Jens Christian Kage und Ulrike Steinbach während des kurzen Wahlfahrt '09-Aufenthaltes in Eisenhüttenstadt aufnahmen, das Prädikat "etwas abgestanden".
Wir würden sie dagegen als solide bezeichnen. Natürlich erschüttert der 2 Minuten 30-Clip weder Erdkreis noch Stadt. Er sammelt vielmehr einen kleinen, authentischen Splitter Eisenhüttenstädter Oral History auf und konserviert ihn auf einer Videoplattform. Als solcher ist er in jedem Fall sehenswert und soll an dieser Stelle kurz seine Erwähnung und hypertextuelle Verknüpfung finden: WAHLFAHRT09 Hochofen EISENHÜTTENSTADT.
Man muss nicht so bitter reagieren, wie die politplatsch-blog gewordenen Mailingliste "platform for multi-sensual arts, politics and sordid humor" ("Sehenswertes oder Interessantes aber hat Deutschland den Recherchen des
ost-westdeutschen Journalistenteams zufolge derzeit nicht zu bieten") oder der Spiegel Leser und Kommentator mapau ("Leider bedient der Artikel das Klischee der ehemals sozialistischen Vorzeigestadt, mit Einwohnern die den alten Zeiten hinterher hängen nur zu gut. Man kann Menschen auch Motivation und Hoffnung nehmen, in dem man Ihnen einredet das alles schlecht ist."), wenn man sich vor Augen führt, was solch ein Projekt zu leisten im Stande ist: Zwei Tage in einer Stadt, mit der die Teilnehmer der Wahlfahrt zuvor so gut wie nichts zu tun hatten, lassen nicht mehr als einen subjektiven und meist oberflächlichen Blick zu. Man kann ein wenig die allgemeine Stimmung auf den Straßen - und zwar nur die eines sehr schmalen Zeitfensters - wirken lassen. Man nimmt - um im Bild zu bleiben - einen schnellen Abzug (=Cliché). Das Herausarbeiten differenzierter Geschichten ist bei diesem Schnappschuss- oder besser Sofortbild-Journalismus nicht umsetzbar. Darüber, ob die Ochsentour von 20 Städten in 50 Tagen sinnvoll ist, lässt sich sicherlich streiten und zwar am Besten nach Abschluss der Rundreise. Jedoch spricht zunächst wenig dagegen, es einmal zu versuchen.
In Bezug auf Eisenhüttenstadt ist die wahrnehmbare Oberfläche an einem August-Montag/Dienstag nunmal durch das gekennzeichnet, was in dem SPIEGEL-Artikel zusammenkommt. Dass die Überschrift "Politikfreie Zone an der Eisenhütte" eine unsinnige Zuspitzung ist, zumal mit dem ungeschickt mehrdeutigen und pejorativen Wort "Zone", setzt man als SPIEGEL-Online-Kenner mehr voraus, als dass man sich wundert.
Selbstverständlich bemüht sich die Kurzreportage gar nicht erst um Objektivität, die für solche Inhalte weder gewünscht noch aus diesem Kontext herum umsetzbar ist: Das Medium formt die Message. Der SPIEGEL weiß, was er drucken möchte und wie es auszusehen hat. Es sind in diesem Fall die Simple Stories, die buchstäblich auf der Straße liegen, sitzen, flanieren. Oder im "Hier Hair". Im Anschluss werden Eindrücke und - ebenso zugespitzte Zitate - einer bestimmten Dramaturgie folgend zusammengestellt, was dann unweigerlich in der Abenddämmerung über den Hochöfen am Ende der Lindenallee endet. Wer sich davon jedoch Motivation und Hoffnung nehmen lässt, hatte schon vorher keine. Zumal in diesem durchaus realitätsnahen Text eigentlich gar kein Anlass dafür gegeben ist. "Na man muss Optimist bleiben in dieser Stadt" - nichts spricht dagegen.
Medienkompetenz auf der Leserseite setzt nicht zuletzt voraus, dass man die Verarbeitungspraxis des Journalismus mitliest. Bei einer Publikation wie dem SPIEGEL und SPIEGEL online fällt das interessanterweise oft fast noch leichter, als beim Lokaljournalismus der Märkischen Oderzeitung. Wie interessant und sehenswert dieses (dargestellte) Deutschland ist bzw. ob man dem Artikel - wie mapau - nicht oder doch folgen möchte, lässt sich nicht absolut beantworten. Aber man kann nichts Mitreißendes erwarten und man kann auch keine Differenziertheit einfordern, wo es dem Beobachter partout nicht begegnen will. Politquatschpatsch und jeder andere Leser irrt, wenn er meint, dass das Land so tickt, wie auf www.wahlfahrt09.de oder SPIEGEL online dargestellt. Die Berichterstattung der Wahlfahrt '09 und von SPIEGEL online tickt so. Das Land tickt z.T. auch so. Es tickt aber auch ganz anders.
"Klar hat es wehgetan, als mein Ofen 4 demontiert wurde."
Die obige Aufnahme aus dem Bundesarchiv wurde ein reichliches Jahr zuvor am Namensgebungstag der Wohnstadt, dem 07.Mai 1953, so gegen 10 nach Vier fotografiert. Irgendwo vermutet die Bildbeschreibung des Fotos von Horst Sturm den Hochofen V im Bau. Wir bewundern eher die völkerverständigende Bedruckung des Kopftuchs der jungen Mutti im Vordergrund und weisen nebenbei darauf hin, dass die Fotografie den Buchstaben K enthält und damit ein formales Kriterium für den aktuellen Eisenhüttenstadt-Blog-Bildwettbewerb erfüllt.
Bildquelle: Bundesarchiv/Wikimedia-Commons (CC-BY-SA)
"Es war spätabends, als K. ankam."
Seit mittlerweile schon Jahren wird von allen Flickr-Eisenhüttenstadt-Fotografen schmerzlich das Einschlafen des berühmten Eisenhüttenstadt-Bildwettbewerbs bedauert. Nur sprechen sie es selten aus. Einen letzten Versuch gab es im November 2007 und zwar mit Aufnahmen des Stahlwerks. Dass die Resonanz nahezu bodenlos war, überrascht bei diesem Thema kaum: Eisenhüttenstadt und Stahlwerk, naheliegender und daher unattraktiver geht es kaum. Denn dem Menschen ist gemeinhin eigen, dass ihn nur das in der Ferne liegende wirklich reizt. Egal wo er spätabends auch ankommt und einkehrt: Sein Ziel wird nicht das Wirtshaus bleiben, sondern das Schloß des Grafen Westwest. Insofern muss die Themenwahl überraschen, das Ungewöhnliche, das Abseitige, das Unerwartete zum Gegenstand machen, um dort anzustacheln, wo sonst nur das Ennui der Sommerfrische auf dem Brandenburger Land in Stumpfsinn und manchmal Stadtfest gipfelt. Eine Papierfabrik in Eisenhüttenstadt - das wäre mal ein Thema. Aber für heute nicht das richtige.
Der gute Bildwettbewerb ist auch immer ein Weltbildwettbewerb, der anregt, das Ferne nicht in der Ferne zu suchen, sondern durch ein kleine Umstellung des eigenen Focus' eben doch im Selbstverständlichen. Insofern pirscht das aktuelle Thema etwas so Alltäglichem wie Herausfordernden hinterher: Dem Buchstaben K. Wir suchen Bilder aus Eisenhüttenstadt bzw. in deutlicher Relation zu Eisenhüttenstadt, in denen ein K wie Kaufland, Kamikaze oder Karl May zu entdecken ist. Eskapismus, Draufgängertum und Konsumkultur sind dabei nur Anregungen - alles geht, solang' ein K drin steht. Also K wie Kombinationsfreude.
Das Verfahren folgt der Tradition:
1. das Bild bei Flickr einstellen,
2. das Bild der Gruppe "ehst.bildwettbewerb" hinzufügen
3. das Bild mit dem Tag "K" kennzeichnen
4. die Bilder der aus der Gruppe und mit dem "K" ansehen und bei Gefallen "Zu Favoriten hinzufügen".
Das Bild mit den meisten Favorisierungen gewinnt. Die Laufzeit des Wettbewerbs ermitteln wir zur Abwechslung nach dem quantitativen Ansatz: Sie endet mit dem dreißigsten Bild. Zwei gibt es bisher und eines von diesen sieht so aus:
"Nice Try" - so würde die Bewertung der obigen Fotografie lauten, wenn wir ein Herz für schlechten Anglizismen hätten. Haben wir aber nicht und daher lautet die vorsichtige Voreinschätzung des Wettbewerbsbeitrags geradeaus und frei von der Leber weg: Nicht gerade der Usain Bolt unter den K-Fotos. Wer die Aufnahme trotzdem bei Flickr sehen möchte, folge bitte diesem Link. Origineller ist aber mit Sicherheit dieser Schnappschuß.
Das Eisenhüttenstadt-Blog ist uns in seinem Kern wenig anderes als ein Brennglas der völkerpsychologisch grundierten Diagnose einer Stadtgemeinschaft im Hagelsturm der globalkulturellen Einflüsse, die massen- und nischenmedialen Sturzbächen gleich das einstmals wohlgeordnete Leben der Einzelnen erfassen und überformen. Immerhin war die Mischgemeinschaft Eisenhüttenstadts beinahe 40 Jahre lang eine Zuwanderungsgesellschaft, immer auf den einenden Focus sozialistische Planstadt gerichtet, bis sich um 1990 der Prozess umkehrte und die einst zu einer Bevölkerungsgruppe verschmolzenen Lebenslinien, die sich aus Bitterfeld und Königsberg, aus Schlema und Eggesin in zumeist jungem Alter in die sieben Wohnkomplexe der Stadt fanden und banden, begannen auszufasern und sich zwischen Kanada und Australien und sehr viel in der Schweiz neue Anknüpfungspunkte zu suchen. Der selten so genannte Exodus Ehst. geht im 60sten Jahr der Stadt in sein zwanzigstes. Zwei Drittel Stadtaufbauzeit stehen 2010 nun mehr einem Drittel Schrumpfungsperiode entgegen.
Nun sind wir mit dem Oeuvre des Ur-Völkerpsychologen Wilhelm Wundts nicht derart auf Du und Du, dass wir extrapolieren könnten, wie er derartige Regressionserscheinungen des postsozialistischen Zivilisationsmenschen bewertet hätte. Ohnehin bewegt man sich in Eisenhüttenstadt eher selten in psychodiagnostischen Gefilden, obwohl dem subjektiven Eindruck nach mitunter der Primärkontakt mit Einheimischen gerade für dieses Betätigungsfeld eine große Bandbreite an Einsatzmöglichkeiten aufzeigt.
Ob eine aktuelle Beobachtung im Stadtbild vor diesem Hintergrund zu erklären ist - wer weiß das schon. Es ist aber offensichtlich, dass an prominenter Ecke quasi als Maßnahme einer sanften Psychologisierung des Stadtraums eine schöne Kombination der Tafeln 3 und 9 des berühmt-berüchtigten und dank Wikipedia sorgsam entzauberten Rorschach-Tests (vgl. auch den Beitrag "Ich sehe das, was du nicht siehst" in der gestrigen Ausgabe der FAZ) in den öffentlichen Raum eingebracht wurde. Erkenne Dich selbst - und zwar beim Vorübergehen zum Bahnhof.
"... wrote his own eulogy with cocaine hands
Heroin arms, Novocaine memories
Lost since dropped into room from pink mammaries
Off of the dome, shit I'm off of the phone
Off of the couch[!], off track..."
"[...] dass eine Verschiebung stattfindet, Techno und Rap[!], Pop, Glamour, Fun schieben sich vor das Ernstere. Zerstreuung, Abenteuer, Fantasy, Selbsterfahrung, Internet verbauen den Blick auf das Wesentliche, das wir eines Tages wieder benötigen, wenn viele dieser Phänomene ihre Anziehungskraft verloren haben."freuen wir uns natürlich umso mehr, in El-Ps schönem kulturpessimistischen Rumpler "Tuned Mass Damper" einen Titel nicht nur mit dem Thema Massenpsychologie heute sondern auch mit einem eröffnenden Reimschema gefunden zu haben, in das man das Wort "Rorschach-Test" relativ unauffällig hineinfließen lassen kann:
"I took this photograph soaking wet/ solved the Rorschach test / After an 8-ball cataract broken jazz bass frett"Das merkt niemand. Und die eingangs zitierte Beschreibung einer zum Glück nicht ganz Durchschnitts- aber doch auch in Eisenhüttenstadt möglichen Jugend am Abgrund des jungen neuen Jahrtausends - bzw. eines Durchschnittssamtags im Spektrum des alten alten - trifft nach wie vor halbwegs zu. Das hilft aber immer noch nicht bei der Frage, was man nun im roten Muster an der hellen Wand erkennt.
Für mich ist die Antwort klar: Der Rorschach von Wuthenow nimmt sich aus Versehen die Victoire von Carayon zur Brust, sie wendet mit wehendem Haar ihren Kopf zur Seite, zwingt ihn zur Heirat, die Fetzen fliegen, die Gesamtsituation läuft mächtig aus dem Ruder und am Ende färbt sich alles blutrot auf der weissen Weste und es hallt dieser von Fontane dahingefederte Dialog ihm nach:
Leider wird man nun nach der Ausdeutung mit dem Klecks Bild, den man sich mit dem Klecksbild machte, allein gelassen und sucht die umliegenden Wände vergebens nach einer erläuternden S-CON-Skala ab. Nirgends kann man die Höhe seines Egozentrik-Indexes ablesen. An keiner nahen Stelle findet man seine "MOR"-Werte.»Wat et is? Wat soll et sind, Kleener? En Steen is et; en doter Feldwebel.«
»Oh no, Baarsch. Nich stone. 't was something... dear me..., like shooting.«
»Schuting? Na nu.«
»Yes; pistol-shooting...«
Fazit: Wer sich hier auf eine Partie Rorschach to go einlässt, bleibt der Analyse zwar nah doch sehr unerklärt auf der Strecke. Und wenn er sich derart verstört dann gen Bahnhof mit einem Imbiss abzulenken versucht, fällt er nahezu sicher dem Wahnsinn anheim. Denn was er dort ausgehändigt bekommt ist ein Döner - und was ist ein Döner anderes, als ein Hammelfleisch gewordener Tintenkleckstest?
Da bleibt einzig passend wie nur was mit El-P zu schließen:
"And the answer that just eluded you my friend don't exist/Auch in dieser Fackel liegt eine Art Psychotherapie.
Unless we torch our own entrapments and exact our own scripts/
Tuned mass damper baby, yeah that's the shit"
The people of Eisenhüttenstadt, once Stalin's model Socialist city, wish that reunification had never taken place. Their anger could be critical in next week's election.
so las es der aufmerksame Beobachter der Weltpresse vor knapp vier Jahren im Independent, der sich von seinem Deutschland-Reporter Tony Paterson ein mächtig düsteres Eisenhüttenstadt-Bild im Advent der Bundestagswahl, die alles verändern sollte, liefern lies und titelte: Goodbye Gerhard: Old divides remain as Germany prepares to vote.
Demnächst geht es wieder um die Wurst namens Bundestag und die Butter der Wählerstimmen und -stimmungen, die sich die Partei gegenseitig vom Brot nehmen wollen. Dies allerdings, so der Eindruck, nicht unbedingt in Eisenhüttenstadt, das als weitgehend wahlkampffreie Zone die müßige Sommerlaune zwischen Kiesgrube und Kleingartenarbeit genießt, mal einen 87sten Geburtstag bei der Volkssolidarität dazwischen schiebt und den eigenen 60sten 2010 fester im Blick zu haben scheint, als die Pflugscharen der Kreuze vor der Urne, die auch diesen schmalen Acker der politischen Mitbestimmung durchfurchen könnten.
Immerhin: Wo Tony Paterson die sterbende Stadt sah, die in Arbeitslosigkeit und Bulldozerei(h)en im VII. Wohnkomplex zerbricht und zerbröselt, vermeldet das Fachblatt der Papierindustrie, BILD, dass dieser Tage die "nach Unternehmensangaben weltweit größte Altpapiertrommel" in die Papierfabrik eingesetzt wird.
Wo Tony Paterson den bitteren Geschmack der Resignation aufziehen sah, sitzt die Stammkundschaft nach wie vor, teils in Lederhose und teils ohne, beim Bierschaum vor dem Freiluftausschank des Hähnchen-Ecks und scherzt gelassen mit der ausschenkenden Bedienung, die die Herren vermutlich schon vom Bier aus dem Aktivisten 1959 kennt und mehr denn je im Griff hat.
Wo Tony Paterson den so unfreiwilligen wie schwarzen Humor des DDR-Alltags in eine pointenlose Ödnis der 2000er Jahr münden sieht, genießen drei Generationen von Rentnern beim fröhlichen Schwatz auf den Parkbänken der Insel die Gaben der Augustsonne und lassen vielleicht im Herbst den guten Mann/die gute Frau einen lieben Gott sein. Wer auch immer das am Wahlabend sein wird. Kreuz und gut. Wenn überhaupt.
Warum auch nicht: Der Stadt geht es ganz gut, alles blüht, der Stadtumbau erfasst selbst das Rathaus und nur eine kleine Schar sammelt sich mit bewundernswerter Ausdauer zum fünfjährigen Jubiläum der Montagsdemonstrationen vor dem Friedrich-Wolf-Theater. Sie trafen es an diesem Montag, obschon ungeplant, sehr glücklich, denn in direkter Sichtachse zum Standort dieses Jubiläumskonzerts campiert derzeit zentral-magistral in Rufweite zum Regionalbüro der Märkischen Oderzeitung die angekündigte Wahlfahrt '09, verkörpert durch ein Handvoll hoch motivierte, extrem neugierige und angesichts des engmaschigen Reiseplans bis zur Selbstaufgabe verwegene Journalisten. "20 Orte in 50 Tagen", dass klingt nach Italienreisen im Opel Ascona mit Dachgepäckträger in den 1970ern (Westdeutschland only) oder gemütlichem Interrailing (dito). In jedem Fall ist solch ein Pensum nur mit Wirtschaftswunderehrgeiz oder im jugendlichen Delir zu meistern und das ganz ohne tägliche Berichterstattung in Wort, Bild, Ton und Microblog.
"I didn't vote, now I'm rolling with the commies/but I never took lessons from no hip hop nazis/keep throwing darts 'cause the world is made out of plastic, made out of pigs" - Sole, Selling Live WaterDas "Live Water" der Wahlfahrt '09 kommt - soviel Indiskretion muss erlaubt sein - aus der Zapfstelle der Märkischen Oderzeitung. Die Inhalte dagegen von der Straße selbst. Der Rapper Sole dagegen liefert die einzige popkulturelle Anspielung auf den Akt des Wählens, der sich gerade beim Schreiben dieses Text assoziieren will. Zudem rotiert der inklusive doppelter Verneinung geäußerte tief pessimistische Ansatz in Bezug auf den Zustand der Weltordnung in eigenartiger Nähe zur eher düsteren Bewertung der gegenwärtigen Gesellschaft, die ein sehr rüstiger Senior mit Erfahrung in vier politischen Systemen beim Vorort-Interview zu Protokoll gab. Auch dies ist der Stoff, aus dem die Realitäten sind.
Was sonst noch am Wagen zum Wagnis vorbeikommt? Es steht, durch die Blume gesehen, ein Fragezeichen daneben. Und eines für den Ausruf! Vielleicht hinter der Hookline eines anderen Raptitels: Josh Martinez' "Tour is War":
"..don't know much/but know for sure/who's on tour/stays on tour!"
Wohl nicht recht ahnend, dass in Eisenhüttenstadt - der "quasi (odernahe[n]) Insel der Seligen" (taz, 2005(!)) die Geschichten und die fotogenen Ecken permanent und Hand in Hand die Straßen herunterschlendern, wirkte die Bauwagenbesatzung bei einer Stippvisite am Nachmittag vom wahrgenommenen Berichterstattungspotential der Stadt nicht gerade überrollt, aber doch deutlich herausgefordert. Bis zum Abend schien sich aber aus der Vielfalt der Eindrücke eine Linie herauszuziehen, die vorwiegend durch Verzicht und dem Griff nach dem Naheliegenden (Montagsdemo) gekennzeichnet war. Was sich davon tatsächlich eindrückte, wird wohl zu dieser Stunde in Schriftform gegossen. Was dabei an Text entsteht, liest man planmäßig alsbald auf der Website zur Tour und vielleicht in diversen Internetmedien. Was generell geplant ist,
Sämtliche relevanten Links sammeln wir vom Eisenhüttenstadt-Blog in jedem Fall in unserem Twitter. Der der Wahlfahrt '09 ist übrigens hier abzurufen.
Man greift vermutlich zu weit, wenn man sagt, dass die Bundestagswahl 2009 ein Thema ist, das auf den Märkten und in den Wohnstuben Eisenhüttenstadts geradewegs in ein Wellenbad der Erregung führt. Wer das Land besser führen sollte, ob das Charisma von Guido Westerwelle oder das von Horst Schlämmer, ob die Erfahrung von Angela "Davis" Merkel oder die von Frank "Walter" Steinmeier für das politische Leben der Bundesrepublik Deutschland wünschenswert sind, wird nicht bei jedem Grillabend in den Kleingartenkolonien an den Hängen der Diehloer Berge bis ins Morgengrauen debattiert.
Und auch die CDU-Nachwuchshoffnung Tabea Gies könnte ungestört von Autogrammwünschen die Lindenallee stundenlang hinauf und hinunter flanieren. Letzteres ist insofern in Ordnung, als dass die junge Familienpolitikerin und Wahlerfurterin eben aus der Thüringschen Landeshauptstadt kommt und vorerst nur dort kandidiert.
Für die Brandenburger Jugend und die selbsterklärt "neue Politikergeneration" ist eher Katharina Dahme von der Linken zuständig, die drei Tage vor der Bundestagswahl 23 wird. Ob sie, die laut Facebook-Profil gern Balzac und Dostojewskij liest und gern zum Feten in der Berliner Ankerklause geht, einmal nach Eisenhüttenstadt kommt, um den Eisenhüttenstädtern aus dem ruppigen Ruppert-Buch oder der neuen roten Bibel des Andi Leser die örtlichen Leviten der Politikverdrossenheit zu lesen und danach im Magnet beim Dancen die Wahlbarometer-Frage zu erörten, wissen wir nicht. So gut wie garantieren können wir aber die Anwesenheit der Wahlfahrt '09 in der nächsten Woche, die uns heute bat, uns für folgenden Text als virtuelles Sprachrohr herzugeben. Nichts lieber als das.
Liebe Eisenhüttenstädter,
wir sind zehn Journalisten und werden sieben Wochen vor der Bundestagswahl mit einer fahrenden Redaktion durch Deutschland touren und aus verschiedenen Städten berichten.
Unsere 1. Station wird Eisenhüttenstadt sein. Unsere fahrende Redaktion wird vom 10. – 12. August in Eisenhüttenstadt in der Lindenalle in Höhe Haus Nr. 15. stehen und tagsüber immer besetzt sein.
Kommt vorbei oder mailt uns vorher, was Eisenhüttenstadt bewegt.
Was nervt euch?
Worüber sollte mal berichtet werden?
Was ist toll an eurer Stadt.
Wir freuen uns auf euch und hier noch einige Infos über unser Projekt:
Was ist die Wahlfahrt09?
Hinter Wahlfahrt09 verbirgt sich ein mobiles Journalistenbüro. In der heißen Bundestags-Wahlkampfphase von Mitte August bis 27. September wollen wir mit dem Wohnwagen durch Deutschland fahren und quer zur üblichen Berichterstattung den deutschen Puls messen. Wir recherchieren experimentell, indem wir an zentralen Plätzen von Kommunen und Städten parken und buchstäblich auf der Straße recherchieren. Auf unserer Webseite www.wahlfahrt09.de berichten wir ab Mitte August multimedial über die Geschichten, die den Menschen wichtig sind.
Die dpa-Infocom und Spiegel Online werden regelmäßig Beiträge von uns veröffentlichen.
Einen ersten Eindruck vom Projekt bekommen Sie/Ihr auf unserer vorläufige Webseite. Hier könnt Ihr uns gerne Vorschläge für Orte machen, uns Geschichten erzählen, die es sonst nicht in die Medien schaffen, von Menschen berichten, die Ihr interessant findet und die man einmal besuchen sollte.
www.wahlfahrt09.de
Folgt uns auch auf Twitter unter: www.twitter.com/wahlfahrt09
Wir haben auch eine Gruppe bei Facebook. Wenn unsere Idee Euch gefällt, verbreitet uns bitte weiter:
http://www.facebook.com/home.php?ref=home#/group.php?gid=94696963326&ref=ts
Liebe Grüße nach Eisenhüttenstadt von Kathleen im Namen der Wahlfahrt-Crew
Die Stichwörter der Wahlfahrer zur Stadt lauten:
"Stadt ganz im Osten, erste Planstadt, demographischer Abbau, hält sich gut in Zeiten der Krise, weil Osten ohnehin krisenerprobt. Neue Papierfabrik wird eröffnet, Gazprom plant ein Gaswerk"Darin dürfte auch der biestigste Eisenhüttenstädter einen Hebel zum Dialog entdecken.
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