Neulich saß ich in ausgelassenster Sommerlaune mit einer jungen US-Amerikanerin auf einer Bank am Gleis 15 des Berliner Bahnhofs Lichtenberg. Die
Backpackerin wie sie im Reisehandbuch steht, war ganz verschwitzt von einem langen Marsch in voller Ausrüstung durch die Mitte der Hauptstadt und erzählte mir freudestrahlend, dass sie neulich von dem
Hedge-Fond, für den sie in London arbeitete, entlassen (genauer: gefeuert) wurde und nun die überraschend über sie hereingebrochene Freizeit dazu nutzt, die Restlaufzeit ihres EU-Visums mit der typischen Ganz-Europa-in-14-Tagen-Rucksack-Tour abzufertigen.
Lissabon, Lyon, Paris Brüssel und nun Berlin bekamen bereits ihre jeweils zwei Tage Tiefenerkundung. Berlin begeisterte die geschichtsfanatische Wanderin zwischen den Welten mit den üblichen Innenstadtattraktionen Dom,
the ugly TV-Tower, Checkpoint Charly und natürlich the Berlin
Wall, ohne
AG. Nun stehe Kraków auf dem Programm. So saßen wir, uns näher und näher kennenlernend, in der Hochromantik der Abendsonne des Weitlingkiezes auf dem Bahnsteig, warteten auf den Nachtzug nach Polen bzw. Kiev - je nach Kurswagen - und nachdem ich meine öde
Story, die mich im August dieser Jahre bestenfalls nach Lehde im Spreewald oder Eisenhüttenstadt führt, in wenigen Minuten herunter, meine Bahnhofsbekanntschaft aber nicht so Recht vom Hocker bzw. dem Drahtgeflecht der Bank gerissen hatte, setzte sich glücklicherweise eine nette Ukrainerin, ähnlich jung und ähnlich verschwitzt (und ähnlich attraktiv obendrein) gleich nebenan und trat für wenige Sekunden mit uns in einen Wortwechsel, was ausreichte, um sofort allgemeine Sympathien auszutauschen.
Der Moment hätte nicht besser gewählt sein können, denn erstens wurden uns die Themen für den
Small Talk knapp - Deutsche Supermärkte, Bänker aus München und die Prügelstrafe zu Singapur hatten wir schon durchgesprochen, postmoderne Diskurstheorien mochte sie nicht diskutieren und auch die große Debatte um nass- oder selbstklebende Briefmarken international konnte die mehr e-mail-lastige
iPhone-Nutzerin kaum aus der Reserve locken. Genauso wenig vermochte sie, die Chancen von Ditte Kotzian und Heike Fischer in Peking abzuschätzen bzw. eigentlich wusste sie zwar von Olympia aber nun so gar nichts vom deutschen Turmspringen.
Die Frage, ob sie denn glaube, dass die Stufenbarren-Spezialistin Kexin He tatsächlich bereits süße 16 - ganz wie bei
Billy Idol - sei, kühlte das Gespräch weiter herunter bis schließlich der Schwenk - man war ja gerade am
Holm - zur Gentrifizierungsdebatte um den Prenzlauer Berg, feinen Frost in die Wartehallenstimmung streute.
Nun ja, es war immerhin zu erfahren, dass US-Künstler gern in den Galerien der Ostküstenmetropolen von den besonderen Stimulanzerfahrungen durch die gebrochene Stadt Berlin berichten und diese in ihren Werken verwurschteln. Dies allerdings wurde mit weitaus weniger Wertschätzung formuliert, als sie dem deutschen Bier in der obligatorischen Hymne widerfuhr.
Zweitens wollte die junge Reisende, nachdem ich bereits mehrmals gefragt worden war, ob ich denn tatsächlich soviel Zeit hätte, um hier Gesellschaft zu leisten, was ich stets mit einem dahin gegrinsten
Certainly! konterte und es tatsächlich meinte, noch einmal schnell ins Hauptgebäude huschen, um letzte Vorbereitungen für die Nacht in einer
Couchette der mutmaßlich polnischen Staatsbahn zu treffen.
So schlug ich, der ich an die sicheren Seiten Berlins gewohnt, nirgends Arglist sehe und auch Parterre gern bei offenem Fenster schlafe, vor, die anderthalb Zentner Hand- und Rückengepäck in die Obhut der mit ähnlicher Bagage ausgestatteten jungen und wahrhaft treuherzig anmutenden Dame auf dem Weg in die Ukraine, zur Beaufsichtigung zu übergeben, damit wir beim Marsch durch die spalierstehende Lichtenberger Bier- und Schnapsgesellschaft alle Hände für eventuelles Abklatschen oder Schütteln frei hätten. Mein abgebrühte U-Bahn-Bekanntschaft führte mich aber so schnell wie deutlich auf den Boden metropolitaner Tatsachen zurück: "Are you kidding!? I'm from New York! I trust no one!" Und dann erzählte sie mir eine Räuberpistole aus der South Bronx, die dem, was man so
aus Eisenhüttenstadt liest, kaum nachsteht:
"In der Nacht zu Montag bemerkte ein Bewohner im Glogower Ring in Eisenhüttenstadt, dass Unbekannte Gegenstände gegen seine Fensterscheibe warfen. Aus Angst lief er zu seinem Nachbarn. Von dort aus hörte er Scheibenklirren und anschließenden Lärm. Nachdem es ruhig geworden war, wagte sich der Mann zurück in seine Wohnung und sah zwei Männer aus dem Fenster flüchten. Er stellte den Diebstahl seines Fernsehers und DVD-Spielers fest und verständigte die Polizei. Bei einer anschließenden Fahndung fanden die Beamten den Fernseher in der Nähe des Hauses wieder. Sie sicherten Spuren am Tatort. Der Sachschaden beträgt rund 550 Euro."
Der Glogower Ring als Fordham Road - wer hätte das vermutet. Ich schon ein bisschen, denn - erinnert - um 1991/92 habe ich in einer dort befindlichen, etwas improvisierten Tonträgerhandlung meine erste Rap-Kassette gekauft, die auf stärkest möglicher Rotation in meinem Kassettenabspielgerät lief - und denen der mir näher stehenden Bekannten ebenso. Es handelte sich um das epochale Album Sports Weekend: As Nasty As They Wanna Be, Pt. 2 der Miami Bassisten 2 Live Crew und war fast zu pornografisch, um für uns als Zielgruppe tauglich zu sein. Natürlich kam später Kool Keith ("Sex Styles"), in diesem thematischen Spektrum etwas verspielter, und sicher gab es von Necro ("The Sexorcist") noch mal einen Löffel Drastik oben drauf (Kaum zu glauben!), aber damals war es für uns so, als hätten wir gleichzeitig den ersten Draht zur globalen Hip Hop-Kultur mit diesem schmutzigen Magnetband und zwar direkt zu Fat "You gotta flow" Joe ("you gotta gotta gotta gotta let em know Joe"), also to an Ave called Trinity, und zum Fantasialand der Herrenmagazine geknüpft. Die Differenzierung der verschiedenen Schulen des Rap war, wie man sieht, zu diesem Zeitpunkt noch nicht so ganz unsere Sache und vielleicht lag es daran, dass Eisenhüttenstadt nie richtig Boogie Down wurde...
Immerhin aber hat die South Bronx jemanden wie die mehr als herrenmagazinfantasietaugliche Jennifer Lopez hervorgebracht, so dass man beim anstehenden Casting "Die Eine 2008" (intern auch bekannt als Miss EKZ) im September im Eisenhüttenstadts Shopping Mall City Center bester Hoffnung sein kann. Celebreties, mit dem Herkunftsmerkmal Eisenhüttenstadt gibt es tatsächlich sehr und viel zu wenige.
New Yorker ebenso. Die Reisende, die ich nach dem Sprichwort weder auf dem Weg Krakau hätte aufhalten sollen noch, nach der mir mitgebenen Grundfreundlichkeit hätte wollen, wurde irgendwo in Maryland geboren. Anders Henry Bergel:
"Auch Henry Bergel ist ein Kind des Ostens, wuchs in Eisenhüttenstadt auf und ging nach dem Mauerfall bis nach New York, um seinen Traum vom Hoteldirektor wahr werden zu lassen. Als das EKO Stahlwerk ihn zurückrief, weil es in dem Oderort Ratzdorf ein Europäisches Begegnungszentrum einrichten wollte, kehrte er prompt heim. Warum? „Ich bin ein DDR-Kind. Nach der Wende hat es mich gestört, dass es mehr und mehr nur noch um’s Geld ging und viele nur noch sich selbst sahen."
Seine Geschichte kann man im
Kulturland Brandenburg 2008-Buch "
Stoffwechsel. Brandenburg und Berlin in Bewegung" nachlesen.
Und neben verschiedensten Stoffen werden hierzulande transatlantisch auch Immobilien hin und her, im konkreten Fall hin, geschoben. Wie die Märkische Oderzeitung berichtet, ist die Eisenhüttenstädter Hauptpostfiliale demnächst sowohl funktional wie auch als Gebäude perdu. Der Postbetrieb wird durch einen umgeschulten Einzelhändler weitergeführt, was nicht immer schlechter sein muss, oft aber den Abschied von einer wunderbaren Kulturtechnik bedeutet: dem sauberen Handstempel. Nicht jedem angelernten Briefbearbeiter geht die Entwertung der Postwertzeichen derart präzise und klar vom Handgelenk, wie den in jahrzehntelangem Schalterdienst geschulten Damen und Herren, die ihr Fach von der Pike auf erlernten. Wenn dann die Zuschlagsmarke "Für die Jugend", die an den Sammlerfreund Jahrgang 1936 hinausgeht, verschmiert und geknickt durchs Briefzentrum wandert, ist aller Sammlerfreudentage Abend. Darauf kann der globale Wettbewerb selbstverständlich und wohlbekanntlich wenig Rücksicht nehmen. Da gilt es Sparziele zu erreichen und nebenbei Überschüsse zu erwirtschaften:
"Und sicher ist auch, dass die Deutsche Post nach dem höchstwahrscheinlich bevorstehenden Auszug aus den Räumlichkeiten an der Poststraße keine leerstehende Immobilie verwalten muss. Das tut dann ein Unternehmen aus Dallas im US-Bundesstaat Texas. Das Gebäude, in dem die Post nur noch Mieter ist, wurde dem Post-Pressesprecher zufolge bereits vor einigen Monaten mit rund 1300 anderen Immobilienobjekten an den Investor Lone Star verkauft. Das Gesamtpaket brachte eine Milliarde Euro ein."
So ist unsere Post in der Poststraße ein einsamer Stern unter 1300 anderen und die Deutsche Post AG hat ihn sicher nicht ohne Freude endlich aus ihrem prallem Objekt-Portfolio, das so sehr schlanker werden musste und wurde, gestrichen. Ihre pummelige Schwester die Deutsche Bahn AG hat es mit dem Eisenhüttenstädter Bahnhof vorgemacht und die Stadt Eisenhüttenstadt mit dem Hotel Lunik ebenso: Ehemals mehr oder weniger an öffentliche Institutionen angegliederte Liegenschaften werden mit großem Enthusiasmus in die treusorgenden Hand hoffnungsfroher Investoren übergeben, die dann große Pläne mit den kleinen Häusern schmieden. Am Ende bleibt eine leergeputzte tote Stadt, in der der Drogeriediscounter die Pakete vom Versandhaus ausgibt und sich der Rest Leben an "saisonal wechselnde[n] Dekorationen und trendige[n] Modenschauen" in einem stumpfsinnigen Einkaufszentrum erfreut und erschöpft. So richtig Abendland war Ostelbien sicher nie, aber wenn man möchte, kann man auch hier mit dem Spengler in der Hand viele Titanic-Symptome in die Weltentwicklung interpretieren. Muss man natürlich nicht. Aber ein wenig nervt den denkenden und fühlenden Menschen schon, wie die spätkapitalistische Ideologie der Zweckrationalität auf breiter Front alle sympathischen Elemente einer Zivilgesellschaft unter ihre Knute nimmt und dabei alles verramscht, was monetarisierbar ist...
Es gibt noch ein anderes Deutsches Haus, das in die USA gehört und das steht im schönen Greenwich Village in New York, New York, dort wo die freshen Globetrotter und Künstler von ihren Berlin-Erfahrungen schwärmen, und sieht so aus. Wer zwischen dem 19. September und dem 17. Oktober 2008 dort hinein geht, kann die Lücke füllen, die entstand, falls er Ines Hertels Eisenhüttenstadt-Porträts sowohl im Prenzlauer Berg wie im Städtischen Museum Eisenhüttenstadts verpasst hat:
Exhibition "Eisenhüttenstadt/Positions"
The small industrial town of Eisenhüttenstadt is the focus of an exhibition of photographs and texts by German artist Ines Hertel.
Interviews with locals supplement the images of people, residential projects and streets to provide a complete portrait of life in the shrinking city, which when conceived by the GDR was to embody the socialist principles of urban development.
Alle
Keywords vorhanden. Besonders "complete portrait of life in the shrinking city" klingt
catchy (früher: Katschi mit Kirschkernen) bis zum Kapitulieren. Und was man so aus der Erblast des "socialist principles of urban development" herausholt, wurde bereits oben angedeutet. Nach dem Ausstellungsbesuch kann man sich übrigens unweit in einer Pizzeria, die
im Namen an einen ganzen Großen der deutschen Kulturlandschaft erinnert, auf eine exzellente
Quattro Stagioni treffen, was dann auch wieder in Oswald Spenglers jahreszeitlich organisierte Geschichtsphilosophie passt. Und über die geträumte, die gebaute und die real existierende Eisenhüttenstadt und ihre Bewohner, wie Ines Hertel sie sieht, sinnieren. Und dann darauf dann ein Gläschen
Limoncello heben. Na denn Prosit!
Kommentare