"Was noch der integersten Musik nicht erreichbar ist, wäre zu erhoffen einzig von einer besseren Einrichtung der Gesellschaft..." (Theodor W. Adorno, 1975)
Betrachtet man die obenstehenden in einem Abstand von rund 100 Jahren formulierten Aussagen zur Musik, so kann man durchaus eine fortschreitendene Differenzierung der Sicht auf die Dinge vermuten. Betrachtet man dagegen den alltäglichen Umgang mit Musik, zeigt sich, z.B. am Samstagabend in der Lindenallee, das das eher abwehrende Musikverständnis von Wilhelm Buschs Herrn Knoll noch nicht ganz jede grundlagenfrei ist: Besonders automobil durch den Stadtraum transportierte Schallemissionen junger Musikgeschmäcker strahlen Tonkost noch in die oberen Etagen der anliegenden Wohngebäude - dies nicht immer zum Vergnügen der Beiwohnenden. Andererseits ist in der i-Podwelt endlich vollendet, was der Walkman versprach: die Permanenz der solitären Beschallung. Akustisch von der Welt abgeschottet kopfhörern sich die Menschen von klein bis groß durch ihren Alltag und jeder kopfhörert dabei für sich allein. Zwischen diesen beiden Extrempolen: dem punktuellen Hineinzwingen der Umwelt in den eigenen Musikkonsum und dem dauerhaften Heraustreten des eigenen Selbst aus den Klangphänomenen der natürlichen Umwelt pendelt das Musikhandeln des normalen Durchschnittsmenschen unserer Breiten und damit auch in Eisenhüttenstadt.
Was man als interessierter Stadtwahrnehmer aber nur in einem der beiden Fälle unmittelbar erfassen kann, ist, welche Musik die Menschen dieser Stadt so gern hören. Dabei fällt eindeutig auf, dass die Variante laut und (manchmal) schmerzvoll vorwiegend zum Habitus der jüngeren Hörergeneration gehört und deswegen als einzig analysierbare Quelle durchaus Verzerrungen beinhaltet, so dass man hieraus tatsächlich keine wirklichen Schlüsse kann, sondern nur Einzelphänomene erfasst. Die Magistrale mit kräftigen Bass durchzuschütteln ist übrigens das Anliegen der Jugend seit Erfindung des Subwoofers und man erinnert sich mit eher durchwachsener Freude an die Sommertage der mittleren 1990iger Jahre, in denen man eben auch nicht gediegen zur Bach-Arie "Ei! wie schmeckt der Coffee süße" sondern zur Geh-aufs-Ganze-Variante des Lebensgenusses im Stile des Oomph!'schen "Wie schmeckt dir mein Herz?" unter Missachtung grundlegender Bestandteile der StVO durch Stadt und Land donnerte.
Aber das war einmal und die Rammsteiner haben später die drei Jungs von Oomph! schnell mit noch banalerer "neuer deutscher Härte" (NDH) als deutsches Männleinwunder überflügelt, dass man es heute kaum glauben mag. An seltenen Frühlingstagen wagen sich übrigens noch Anhänger dieser mittlerweile beinahe vergessenen Facette einem scheuen Reh gleich auf die Lichtungen der Stadtmagistralen und man hört dieses Röhren als Ruf aus einer vergangenen Zeit. Der Platzhirschstatus gehört dagegen ganz anderen Bässen und - wie der Mensch nunmal so ist - fliegen die alten aus dem heruntergekurbelten Fenster und landen am Straßenrand der Populärmusikgeschichte.
Das Fundstück, welches Anlass für diesen kleinen Beitrag bietet und erstaunlicherweise jüngst und zur Weihnachtszeit in der Eisenbahnstraße aufzufinden war, hat zur Neuen Deutschen Härte sehr wenig Bezug, teilt aber mit diesem Stil immerhin den kurzzeitigen Allrounderfolg sowie die Tatsache, dass man die Klangkunst aus der Sicht der späteren 2000er Jahre als "hart an der Grenze" empfindet. Genau genommen stammt das wenigstens Kassettencover buchstäblich von jenseits der Grenze, wogegen das Beinkleid des abgebildeten Eurodance-Rappers Turbo B. dies nur übertragen ist (vielleicht auch nicht - die Märkte immerhin waren damals voll mit dieser Art von Textilien..). Hier trafen sich im modernen Modestil American Football (Raiders-Kappe) und Bahnradsport (Radlerhose), wobei ein junger Mann aus Pittsburgh, der aus irgendeinem Grund in die Fänge Frankfurter (Main) Tanzmusikproduzenten geraten war, das Scharnier zweier - besonders was den Faktor "Coolness" betrifft - so gegensätzlicher Sportarten bildete.
Solch eine Konstellation ist weniger eine zwingende Fortsetzung der Geschichte der gebürtigen Nordbrabanterin Caroline Müller, die es unter den Fittichen eines gewissen Dieter Günter Bohlens unter dem grandiosen Künstlernamen C.C.Catch sogar 1987 zu einer Veröffentlichung beim DDR-Tonträgerlabel Amiga (Reihe: Quartett) brachte, sondern deren extreme Zuspitzung. Heftigere Fälle, in denen an sich derart idiosynkratische Elemente zu einem nicht unbedingt harmonischen, aber kommerziell im höchsten Maße erfolgreichen Ganzen fügte, sind mir nicht erinnerlich.
Es verwundert also keinesfalls, wenn sich auch ein polnisches Kassettenlabel - anscheinend unter Federführung des nicht ganz unbekannten Marek Niedźwiecki - bereit fand, eine repräsentative Edition der größten SNAP!-Hits auf Compact Cassette zu bannen, die wiederum im kleinen Grenzverkehr ihren Weg nach Ostbrandenburg fand, um irgendwann im Jahr 2007 im Rinnstein der verlassenen Eisenbahnstraße raureifüberzogen ihrem funktionalen Ende entgegenzustreben.
Wir wissen nun also mit hoher Wahrscheinlichkeit, dass irgendjemand in Eisenhüttenstadt Aufnahmen des Eurotanz-Projektes SNAP! hörte und mit noch höherer Wahrscheinlichkeit - was ihm aus musikästhetischer Sicht wirklich niemand verübeln möchte - eines Tages nicht mehr hören konnte und wollte und sich - was man ihm aus abfallökologischer Sicht verübeln sollte - von dem Tonträger der Macht (bzw. "The Power") per Wurf an den Straßenrand trennte. Bevor Mutter Natur und der Väterchen Frost ihr Übriges tun und diesem kleine Element der Populärkultur den Garaus machen, soll es hier im Andenken an eine verrückte Zeit, in der der Rhythm selbst personifiziert als Dancer besungen werden konnte, ohne das die Leute entsetzt die Tanzfläche verließen, fotografisch am Fundort dokumentiert werden. Vielleicht dankt es uns die Kulturwissenschaft eines Tages...
Natürlich gab es auch nach dem Cult of SNAP! in puncto Kunstfertigkeit eher bescheidene Musikstückchen, die sich besser verkauften, als alles, was ein tiefgründigerer Komponist mit Herzblut je schreiben kann - man denke nur an "Schnappi - die Mördermucke".
Aber da das lustige Tanzmusik-Projekt noch weit vor Haddaway, 2 Unlimited und Kollegen als Soundtrack der frühen Wende-Teenager eine Art Initiationsklang in die persönliche Disco-Era (z.B. im Trockendock) darstellte, wird es für diese Generation einen ganz besonderen Stellenwert behalten. Selbst wenn der Turbo-Rap des Turbo B. mittlerweile eher unerhört klingt.
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