Der kleinen und sich immer mehr verkleinernden Stadt am östlichen Rande der Republik gelingt nicht jeden Tag der Sprung auf die Titelseiten der überregionalen deutschen Qualitätspresse. Auch heute nicht wirklich, aber ein wenig, denn als Hinweis auf das Feuilleton findet sich in der Süddeutschen Zeitung der Ortsname so deutlich und über die eigene Relevanz hinaus wahrnehmbar, wie in der Durchsage der ICE-Züge, die bei Einfahrt in den Berliner Ostbahnhof "Eisenhüttenstadt" als Anschlusszugziel verkündet, wie in den Stunden zuvor Hameln, Hanau und Hannover - lauter Sehnsuchtsorte derer, denen einst Westdeutschland eine unendliche Grenzzaunhöhe entfernt lag. Gardone, Gargnano und Limone kannte man zu dieser Zeit in der Regel nicht einmal dem Namen nach. Die zugängliche Welt entsprach für den Durchschnitts-Eisenhüttenstadt den Grenzen seines Heimatlandes und bestenfalls dem, was sich auf Ost-Südost um dieses gruppierte. "Urlaub und Freizeit in der DDR" gab es auf dem Zeltplatz zu Kagel und im Haus Gohr. Eisenhüttenstadt selbst hat es als Schwerindustriestandort nie zu sonderlicher Berühmtheit als Reiseziel gebracht und auch heute sind die wenigen Touristen im Ort eher solche mit einem sehr spezifischen Interesse an all dem Wunderlichen, was der Sozialismus als steingewordenes Lebensweltbild in den märkischen Sand pflanzte.
Die Süddeutsche Zeitung hat nun ihren Autor Burkhard Müller delegiert, sich einerseits die Stadt und anderseits - dies hauptsächlich - die im zu dieser gehörigen "Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR" dargebotene Ausstellung " Urlaub und Freizeit in der DDR" anzusehen sowie einen Bericht abzuliefern (Wie lang braucht man, um einen Grill zu bauen? In: Süddeutsche Zeitung, Nr. 68/2009, S. 11). Naturgemäß liegen uns die Stadteindrücke näher als der eigentliche Ausstellungsbericht und wie bei Feuilletonisten üblich, findet sich einiges an zitierenswerten Passagen eingängiger Reportageprosa:
"Ganz von vorn wollte man anfangen in "Stalinstadt", wie das Projekt ursprünglich hieß, auf jungfräulichem Grund, wo sich der Neue Mensch, der sich vor allem durch sein Verhältnis zur Produktion bestimmte, ohne Altlasten formen ließ."
So klingt die sozialistische Aufbruchstheorie durchschaut und auf den Punkt gebracht. Die Unberührtheit des Grundes ist allerdings mittlerweile dahin, ein paar Steinewerfer und Sympathisanten vor dem Asylantenheim versuchten Anfang der 1990er Jahre im allgemeinen Nachholtaumel an offener Xenophobie die Lücke zum Neo-NS-Pogrom und damit zu einer bewusst ausgeblendeten Phase deutscher Geschichte voller Altlasten zu schließen, versagten allerdings und glücklicherweise kläglich, da sie die für Massenausschreitungen notwendige kritische Menschenmasse nicht aufzuwiegeln vermochten und die allgemeine Stimmung im Land immerhin in diesem Punkt durchweg gegen solch grenzdebilen, volksdeutsch getünchten Steinschleuderblödsinn gerichtet war. Von 80 Millionen Hooligans konnte keine Rede sein, Aber 80 waren es in den feurigen Nächten wohl schon. Plus 80 Journalisten und Bildberichterstatter, die ein zweites Lichtenhagen witterten, aber keines serviert bekamen.
Die eigentlichen gesellschaftspolitischen Eisenhüttenstädter Altlasten sind jüngerer Natur, dafür aber als architektonisches Mal derart aufgestülpt, dass man ebenfalls seit den 1990ern wo nur möglich die billigste westdeutsche Schnellbauarchitektur als schäbigen Schleier zwischenhängte, als reichte das als Maske, mit der man den Anschluss an die Banalität dumpfer Konsumkultur schaffen könnte. Die Auffassung, dass man seit 1990 den Teufel mit einem Belzebub austrieb, wird nach und nach salonfähig. Und fruchtet besonders dort, wo man sich die Reste aus beiden Welten verbinden.
Die dazugehörigen jüngeren Altlasten, Ausdrucksmittel eines gescheiterten, hochgradig naiven Strebens nach dem schnellen Glück im kleinen Wohlstand begrüßen nun jeden, der vom Bahnhof die Beeskower Straße ins Stadtzentrum hinunter wandert. Die Scham ob der Tatsache, dass die Wahl Fußweg vom Gleißanschluß in den Stadtraum stadträumlich eine zwischen Not und Elend ist, ist groß. Fantasie, Willen und Möglichkeiten reichen aber offensichtlich nicht bis Potjomkin. Da ist die DDR dann doch sehr in die Ferne gerückt.
Denkmalschutz sei dank hatte das Wüten der Nachwendeinvestitionen in der eigentlichen Planstadt seine Grenzen und so kann Burkhard Müller heute schreiben:
"Architektur harrt aus, sie sorgt durch die Dauerhaftigkeit ihres Materials bis zu einem gewissen Grad für sich selbst und jeder begreift sie als ergaltenswertes Erbe; die Innenstadt (wenn man von einer solchen sprechen darf)[sic!] ist als Flächendenkmal geschützt und auch weitgehend renoviert, und so kommt der kühle.doch seiner Proportionen sehr sichere Klassizismus der späten Stalinstadt zu vorteilhaften Geltung."
Der Neue Mensch ist ein alter geworden bzw. dahingeschwunden und abgewandert, aber seine Häuser die stehen in voller Pracht und überzeugen das ästhetische Auge. Das ist doch immerhin was für die Stadt, die von Beginn an "peripher" war, "heute peripherer denn je". Dies gilt auch für das Verhältnis der hier Lebenden zur Produktion, der man aber immerhin an der Bahnlinie nach Frankfurt/Oder Höhe Vogelsang eine neue Kathedrale in zeitgenössisch-funktionaler Industriearchitektur an die Stelle eines Kiefernwäldchens setzt. Ein Funken Nostalgie ist enthalten, er zündet aber offensichtlich nicht so recht. Jedenfalls fallen bisherige mediale Ästhetisierungsversuche des Aufbruchs in Wellpappe, der wohl in einer mit längeren Armen bereits greifbaren Zukunft die zusammenschnurrende Stahlproduktion kompensieren sollen, weitgehend aus.
Das mag daran liegen, dass in der idealen totalautomatisierten Produktion weder der Neue noch der alte noch überhaupt irgendein Mensch eine Rolle spielen, abgesehen vielleicht von der des Beobachters vor dem Überwachungsschirm. Aber gerade das Thema Überwachung besitzt im hier und jetzt einen denkbar schlechten Leumund. Da aber auch das dank nutzergenerierter Medienwerte global sichtbare lokale alltagskulturelle Geschehen eher Bedauern als Bewunderung auslösen dürfte, erfreut man sich verständlicherweise, dass immerhin im Rückgriff auf die Objektkultur der DDR "in ihrer reinen und als solchen an den Rand gedrängten Form" noch irgendetwas bleibt, das an kulturellem Leben berichtenswert ist. Eine umfunktionierte Kindertagesstätte als Dreh- und Angelpunkt ist besser als nichts. Etwas Neues unter der alles verbindenden Institution Sonne, der der Jungpionierchor gern auf Deutsch und Russisch ein immerwährendes Scheinen wünschte, gibt es nach dem Ende der Geschichte ohnehin nicht mehr.
Wenn man dessen ansichtig von hiesigen lokalpolitischen Eliten so köstliche Argumente wie "Discounter haben ja auch Vorteile für die Bewohner" hört und trotz des bombastischen Überangebots an Billigem in dieser Stadt tatsächlich noch immer derartige Neubauten zulassen will - wenn auch mittlerweile etwas reguliert - dann mag man Burkhard Müller durchaus die etwas dürftige Pointe, dass man ihm im Dok-Zentrum als ägyptische Grabkammer anscheinend eine Nachtopfgalerie ans Herz legte, nicht nur verzeihen, sondern sogar als Erklärungsmotiv zur Lage des Ortes heranziehen: Das Bild des Zurückhaltens dessen, was ausgeschieden und also überwunden und vergessen sein sollte und zwar in der infantilsten aller möglichen Varianten, dem knallbunten Plastiknachtgeschirr, bestätigt sämtliche Vorurteile womöglich mehr, als selbst dem Autor bewusst ist. Man weiß, dass der Kern der Sache eher von geringem Gehalt ist. Aber immerhin gibt es einen solchen, wogegen die Gegenwart durch eine extraordinäre (buchstäblich) Leere auftrumpft. Auf dem aufgefurchten Gebiet des abgetragenen WK VII wartet wohl schon ein Netto-Markt auf seine Errichtung. Es geht stadträumlich eindeutig noch billiger als Plattenbau. "Die Zwänge wechseln, doch der Zwang bleibt." Wo der Kiefernweg zerbröselt, entsteht an der Karl-Marx-Straße auch wieder Raum für Franchise-Autoteilelieferanten oder - warum nicht - noch einen kleinen Einkaufsmarkt, der die begehrten Arbeitsplätze im Niedrigstlohnsegment verspricht. Dies hat ja auch Vorteile für die Bewohner - wie man hört, nur nie sieht. Besonders übrigens die Bewohner selbst. Der Dialog unter einem aktuellen Bild zum Thema lautet: "na dann nichts wie weg!" - "Ja das bin ich auch ...sobald meine Schule fertig habe...." Der Einwohnerschwund um 20.000, den man in der Süddeutschen angegeben findet, entspricht längst veralteten Zahlen. Auf 20.000 scheint schmerzhaft realistisch: "Dabei ist das Image der Region entscheidend, ob jemand in Eisenhüttenstadt bleibt und vorhandene Ausbildungsmöglichkeiten nutzt."(Märkische Oderzeitung, 19.03.2009)
Vielleicht stellt sich so langsam die Stadt insgesamt als ein DDR-Irrtum heraus. Ein einst notwendiger, aber zunehmend unpopulärer, der allmählich als Gesamtensemble zu einer Grabkammer wird, die in der Innenstadt ("wenn man von einer solchen sprechen darf") in den besten deutschen Neoklassizismus gefasst ist, den es abseits der Stalinallee gab und gleich daneben so gut als möglich geräubert wird. Die konsequente Musealisierung des ersten sozialistischen Stadtmausoleums könnte immerhin die nächsten Sommer vorm Balkon zur Illusion von "Urlaub und Freizeit in der DDR" werden lassen. Und passt dann zur Ausstellung, die in der Süddeutschen Zeitung durchaus als sehenswert eingeschätzt wird:
"[...] dass die Menschen früherer Zeiten in ihrer Zeit genau so lebendig waren wie wir heute."
Da hatte der Reporter Eisenhüttenstadt schon verlassen.
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