Der Kiez des V. Wohnkomplexes ist nicht mehr fiebrig, sondern eigentlich schon tot. Aktuell wird die Sichtachse in Richtung Krankenhaus geräumt. Beim letzten Spaziergang riefen sich die jungen polnischen Facharbeiter, die den Fenstern die Rahmen nehmen, erschrocken zu, dass jemand mit einer Kamera naht und zogen sich, aus welchem Grund auch immer, ins Innere des Gebäudes zurück.
Vielleicht wundern auch sie sich, warum die Deutschen halbwegs intakte Bausubstanz mit gar nicht so schlechten Wohnräumen niederreißen, so wie man in der DDR nicht verstand, woher die Milchseen und Butterberge in der BRD kamen. Und schämen sich, dabei mitzuwirken. Aber: It's the economy, stupid. Zudem verändert sich allgemein das, was man als Stadt definiert und Eisenhüttenstadt zeigt sich insofern an dieser Ecke als Stadt des Heute:
"Ich glaube, das herkömmliche Bild von Stadt läuft darauf hinaus, dass es so etwas gibt wie einen dicht bebauten Raum, in dem alle möglichen Funktionen sind und in dem man so etwas erleben kann wie ein Gefühl von Dichte. Das ist genau das, was wir Urbanität nennen, Aber die Städte, die es heute gibt, sind etwas anderes. Da gibt es zwar noch diese dichten Punkte, aber viele Funktionen sind ausgewandert. Sie sind entweder aufs ehemalige Land gegangen oder sie haben sich ins Internet verflüchtigt. Die Städte, in denen wir heute leben, gehen über in so etwas wie urbanisierte Landschaften, in denen man nicht mehr genau sagen kann, was jetzt noch Stadt ist oder schon Land."
Soweit Susanne Hauser, Kulturwissenschatlerin der UdK Berlin.
(Where Density Ends. In: Talking Cities. The Micropolitics of Urban Space. Birkhäuser: 2006, S.42) Im Eisenhüttenstädter Umbaugebiet des WK VII verhält es sich noch anders. Diese Landschaft ist nicht nur nicht mehr urban, sondern völlig entdichtet, sie ist Brache. Die Altenheime, die immerhin eine Art Nutzung hätten bedeuten können, liegen aus stadtplanerisch nicht nachvollziehbaren Gründen noch ein Stück weiter jenseits am Niemandsland und sind näher am Friedhof als an der Stadt selbst.
Auch der Stadtraum im WK V, der einen recht gelungenen Übergang zwischen der dichten und teilweise sogar urban wirkenden, wenn auch kaum belebten, Bebauung des II. Wohnkomplexes mit der umgebenden Landschaft als Konzept hatte, zerfällt. Funktionslos ist er über weite Strecken schon. Das Versorgungszentrum spielt keine Rolle mehr und ist im Prinzip abrissreif. Die Schule ist als Gebäude bis auf die üblichen Glasschäden noch intakt, aber ohne Zukunft.
Das Wohngebietszentrum fällt also komplett aus. Es bleibt ein kleiner, schmucker Transitraum für Fußgänger in Gestalt der Bertolt-Brecht-Allee, welcher in den wärmeren Jahreszeiten nach wie vor eine gewisse Aufenthaltsqualität bietet. Der Rest des Gebietes wird auf ein paar Wohnblöcke und dazugehörigen Parkraum komprimiert. Was wächst, sind die Zwischenräume. Und richtig: es gibt den Anger, der aber als Bierbar mit Spielautomaten für viele Bewohner kaum mehr Anziehungskraft besitzt:
"Cafés und ähnliche Treffpunkte git es mit Ausnahme des Angers nicht. Früher war das Lokal bei Frau A. wegen seiner Tanzveranstaltungen sehr beliebt, doch diese gibt es mittlerweile nicht mehr; und die Vorstellung, dort heute ein Bier zu trinken, empfindet sie als unpassend. Letztlich hält sie sich außerhalb ihrer Wohnung nicht mehr im V. WK auf. Freizeitaktivitäten und notwendige Besorgungen haben sich in andere Stadtgebiete verlagert. Mit der Reduzierung der Infrastruktur entstehen so für die Anwohner nicht nur längere Einkaufswege, auch das Wohnumfeld verliert alltägliche Kommunikationspunkte, büßt an Vitalität und Lebensqualität ein. Frau A. vermutet, dass sie nach ihrem Umzug nichts aus dem V. Wohnkomplex vermissen wird, stattdessen freut sie sich, wieder "alles beisammen" zu haben, "so wie früher im Fünften". (Gottschalk, Thomas: Eisenhüttenstadt - Ein Phänomen schrumpft. In:Berliner Blätter. Ethnographische und ethnologische Beiträge, Sonderheft 47/2008 S. 129-139, S. 133f.)
Frau A. ist sicher kein untypisches Beispiel und was die Stadtentwicklung betrifft, erweist sich der Patient V. Wohnkomplex als aktuell vielleicht größte Herausforderung, sofern man überhaupt noch den Ehrgeiz besitzt, hier etwas anderes als eine Handvoll freistehende Wohnblöcke vor freiem Feld anzubieten.
Ob die anstehende massive Entdichtung produktiv kompensiert werden kann, scheint fraglich. Möglicherweise hört die Stadt hier einfach auf, Stadt zu sein. Im besten Fall entstünde eine Art "urbanisierte Landschaft", die im Gegensatz zum Bezugsraum, den Susanne Hauser vor Augen hat und den es in dieser Region eigentlich nicht gibt, nicht Dörfer, Äcker, Felder und Wälder erobert, sondern in einer Umkehrung Wiese und Wald in die Stadt holt. Die Erwartung, freie Flächen mit Eigenheimen zupflastern zu können, wie es z.T. im VII. WK angestrebt wird, würde aufgrund der sozioökonomischen Situation jedenfalls sicher enttäuscht. In Hinblick auf Stadtraumqualität scheint eine innenstadtnahe Suburbanisierung mit Fertighäusern generell fragwürdig.
Dem toten Raum der Sukzessionsflächen steht in solchen Fällen der privatisierte Raum der Eigenheimparzellen gegenüber .Ein Mangel an öffentlichem Raum führt jedoch auch zu einem Mangel an Begegnungspunkten und engt die Entwicklungsoptionen für Stadtgesellschaft maßgeblich ein. Selbst wenn Bewohner wie Frau A. ihr Wohngebiet aufgegeben haben, sollte die Stadt an sich, sofern möglich und fähig, Gestaltungswillen zeigen.
Bislang sieht man von außen dahingehend wenig bis nichts und auch die Diskussion darum, wie sich die geschrumpfte und gealterte Stadt konzeptionell grundsätzlich neu denken lässt, vollzieht sich weitgehend unbemerkt von der Stadtöffentlichkeit entweder extern als soziogeographische Fingerübung an entfernten Lehrstühlen oder irgendwo in geschlossenen Räumlichkeiten der Stadtverwaltung. Es scheint ein wenig so, als fürchte man sich vor weiten Würfen und konzentriert sich, wie sich auch am Informationsblatt "bunt & komplex" (hier die aktuelle Ausgabe als PDF) nachvollziehen läßt, auf die Nahsicht. Das ist nicht verkehrt und muss auch geschehen.
Aber die sich vollziehende Transformation setzt weitaus grundlegender an. Eisenhüttenstadt war nie wirklich urban im strengen Sinne, aber es versprach ein gutes Leben unter Gleichen, d.h. wenigen, klar bestimmbaren Lebensstilgruppen. So ist die Stadt geplant und zu großen Teilen umgesetzt.
Die Gesellschaft ist derweil im postsozialistischen Zeitalter weitaus differenzierter und die Vorstellungen von einem guten Leben sind es ebenso. Die Herausforderung liegt nun darin, aus dem einem relativ fixierten Leitbild folgenden Stadtraum einen Raum zu entwickeln, der diesen Differenzierungen Rechnung trägt und eine positive Vielfalt von Lebensstilen zulässt. Hierzu bedarf es genauso Freiraum (im Übermaß vorhanden) wie auch Strukturen, die Begegnung ermöglichen (kaum vorhanden). Das sinnvollste Konzept liegt also aktuell darin, aus den und zu den offenen Flächen stimulierende Begegnungsräume zu gestalten. Dies könnten und sollten z.T. durchaus temporärer Natur sein. Vor allem sollen sie Bewegung ermöglichen und anregen.
Im WK V böten sich beispielsweise konkret Kultivierungsmöglichkeiten vom Sportplatz bis zum Wäldchen an. Angenommen, man würde das Versorgungszentrum tatsächlich unterpflügen, dann ergäbe sich als eine mögliche Lösung die Erweiterung der Stadtparkareals der Insel über die Grenzen der Insel hinaus gen Westen. Im Ergebnis stände an der Robert-Koch-Straße eine Grünachse, die ein Stückweit parallel der Innenhofachse der Karl-Marx-Straße fast bis zur Poststraße verliefe.
Auch im Bereich Kiefernweg könnte man die Bewaldung der Insel in aufgelockerter Form einfach "über die Straße" holen. Die Wege zum dazwischen Spazierengehen sind schon da. Problematischer wird es dagegen im Gebiet um die Semmelweißstraße. Aber dafür ließen sich ruhig mal ein paar Vertreter der Land-Art-Bewegung in die Stadt einladen. Denen fiele sicher etwas ein.
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