Der verlorengegangene Wohnkomplex
Aufgeregt rannte ich zu meinen Eltern, die so linientreu waren, dass sie sogar vor der Farbe Rot salutierten, zeigte ihnen den Bildband und fragte, wo denn zu finden sei, was dort abgebildet war. Sie reagierten sehr unwirsch und der Situation völlig unangemessen, in dem sie mir das Buch wegnahmen und sagten, ich solle lieber den Müll rausbringen. Auch später frühstückten sie mich auf meine nachbohrenden Fragen hin mit solchen Elternstandards ab wie “Sei still und iss deinen Pudding!” oder “Räum erst mal dein Zimmer auf! Der reinste Saustall ist das wieder!”
Also schnappte ich mir mein diamantenes Damenrad und fuhr Achten durch die Stadt auf der Suche nach jenen geheimnisvollen Winkeln. Irgendwo musste es diese Ecken geben, da war ich mir sicher. Ab und an begegneten mir auch einige Stellen, die so aussahen, als ob, aber sie waren den von mir gesuchten nur ähnlich, nicht aber mit ihnen identisch.
Mit der Zeit verband ich die gesuchten Örtlichkeiten mit Ideen von einer besseren Welt und die Suche danach entwickelte sich bei mir zu einer Art Besessenheit. Nachts träumte mir manches Mal, dass ich beim Müll herunterbringen zwischen den Sträuchern einen bisher verborgenen Trampelpfad entdeckte, der mich geradewegs in jenen verwunschenen Wohnkomplex führte. In der Schule erzählte ich meinen Mitschülern von dem versteckten Wohnkomplex und sagte ihnen, dass es dort sogar Geschäfte mit westlichen Produkten, BMX-Räder und Skateboards gäbe. Zum Beweis zeigte ich ihnen den Bildband mit den verblichenen Fotos. Sie glaubten mir und die Sache sprach sich wie ein Lauffeuer herum, so dass ich schon bald beim Direktor erscheinen musste. Der Rektor war außer sich vor Wut, nahm mir das Buch weg und schrie, dass es so etwas noch nicht gegeben hätte. Der versteckte Wohnkomplex sei ein missglückter Versuch gewesen, habe darum nie existiert und werde auch nie existieren. Dann zerriss er das Buch und drohte mir mit einem Schulverweis, wenn ich weiter “solchen Unsinn verbreiten” würde.
Der Wutversprecher des Direx‘ machte mich hellhörig und bestätigte mich in meinen Auffassungen. Am selben Tag nahm mich meine Deutschlehrerin, eine sehr patente ältere Dame, beiseite und klärte mich über die wahren Umstände des versteckten Wohnkomplexes auf. Als die Stadt in den fünfziger Jahren erbaut wurde, begann man mit der Errichtung eines vorbildhaften Stadtteils, in dem der neue Mensch heranreifen sollte. Alles war auf das harmonischste und nach neuesten Gesichtspunkten und Erkenntnissen gestaltet und für alles war gesorgt, denn die Bewohner sollten sich wohl fühlen. Schon bald fühlten sich die Bewohner so heimisch, dass sie ihr Zuhause nicht mehr verlassen wollten, nicht einmal, um zu arbeiten. Das gefiel natürlich niemandem von der Regierung und man versuchte, durch Argumentation, Wandzeitungen und Drohungen die Leute zum Arbeiten zu bewegen. Diese waren jedoch durch keinen Eingriff von außen dazu zu bewegen. Im Gegenteil: sie schirmten sich immer mehr von der Außenwelt ab und legten stattdessen kleine Gemüsebeete und Obstgärten auf den Rasenflächen an. Da beschloss die DDR-Regierung die vollständige Evakuierung und Zerstörung des Stadtviertels und die Errichtung eines herkömmlichen Wohnkomplexes mit langweiliger Zeilenbebauung und Wäscheplätzen dazwischen.
Und so kennen wir die Stadt heute noch. Nur auf höchst seltenen alten Ansichtskarten und bei Herbstnebel ist der verloren gegangene Wohnkomplex für Menschen mit reinem Herzen noch zu sehen. Auch sollen einzelne Reste, von Sträuchern überwuchert, im Innenstadtbereich (gemeint sind die Wohnkomplexe II und V) überdauert haben, z.B. die ehemalige HO-Gaststätte “Aktivist” oder der kleine Pavillon an der Kreuzung Friedrich-Engels-Straße/Poststraße.
(c) 6. August 2006 by Alf Artig
Schanzenrekord, "C'est la vie" und anderes, ein Reisebericht aus dem Jahre 2002
Zum Abschied kehren wir auf der Lindenallee ein. Auf den ersten Blick ist das "C’est la vie" ein Café im Neunzigerjahre-Kleinstadtchic. Auf den zweiten Blick auch. Aber es hat eine ganz eigene Note: Die großflächigen Fenster sind mit einer Art blauer Plastikfolie beklebt und erzeugen merkwürdige optische Effekte. Während sich der Gast seinem Sandwich mit Milchkaffee hingibt, gewöhnen sich die Augen an das penetrant blaue Licht im Raum. Verlässt man den Raum nach einer Weile, bekommen draußen der Himmel, die Häuser, die Menschen einen bräunlich-gelben Stich - ein sehr ostalgischer Ton. Als wir die Bedienung auf den Gelbstich-Effekt ansprechen, bestreitet sie, jemals etwas in der Art bemerkt zu haben. Aber vielleicht sehen Sie sich das selber einmal an.
Ein kleiner Reisebericht, der 2002 in taz erschien, den ich aber erst jetzt entdecken konnte. Er ist recht lesenswert und enthält so nette Details, wie den Schanzenrekord auf der örtlichen Sprungschanze (26,5 Meter, Lothar Büll, 1970er Jahre).
Bei dem für Eisenhüttenstadt zuständigen Regionalteil der Märkischen Oderzeitung führt heute offensichtlich der Praktikant die Redaktionsgeschäfte. Anders ist nicht zu erklären, wie es diese wundersame Geschichte der Hohen Neuendorferin Ingrid Sell und ihrer Tasche (mit Bild) ins Blatt schaffen konnte. Nun, es war so: Die Umhängetasche blieb bei einem Ausflug in der Oderregion zurück...
Also griff Ingrid Sell zum Telefonhörer und rief die Polizei in Eisenhüttenstadt an, in der Hoffnung auf Hilfe. Sie schilderte ihr Problem und wie der Ort ausgesehen hat, wo sie ihre Tasche vergaß. Daraufhin, erzählt sie, hätten sich die Beamten auf die Suche nach jemandem gemacht, der sich in der Gegend um Brieskow-Finkenheerd gut auskennt und anhand von Ingrid Sells Schilderungen wusste er, wo die Tasche sein musste: an einer Bank in Groß Lindow.
Nichts vom Inhalt hat gefehlt und alles war unversehrt. Dies ist wirklich einmal eine Meldung, die unterstreicht, dass nicht nur Sex und Crime (bzw. Regionalpolitik, Mißwirtschaft, Jugend- und Altersarbeitslosigkeit, Vandalismus, schönes Wetter oder ein Sack Reis in China), sondern auch der Verlust von Alltagsobjekten und deren Wiederkehr die Berichterstattung dominieren können. (Man hätte allerdings statt auf die Polizei auf einen in der Stadt beheimateten Experten für verlorene Gegenstände zurückgreifen können.) Auf diesem Niveau schaut der MOZ-Artikel aus wie eine Geburtstagsgefälligkeit für den Oberwachtmeister und auch das beigestellte Foto von Frau Sell mit Tasche lässt den Leser etwas ratlos mit der Frage zurück, ob dies tatsächlich ein gelungener Ausdruck der gesellschaftlichen (informierenden) Aufgabe der Regionalpresse ist... mehr: Rettungsaktion für eine Tasche
Eine weitere Kurzmeldung, nämlich zu einem Zechpreller in einem Eisenhüttenstädter Hotel, präsentiert uns das lokale Wurst- und Käseblatt (heute aber wirklich!) gleich dreimal, als ob diese dadurch interessanter werden würde. Wenn die Redaktion schon Betriebsferien macht, dann sollte man angesichts dieser Inhaltswüste vielleicht auf die Herausgabe des Regionalteils ganz verzichten. Mehr zur Zechprellerei unter dieser Überschrift: Gesuchter Zechpreller verhaftet Polizeibekannter Zechpreller verhaftet Gesuchter Zechpreller verhaf (sic!)
Die in einschlägigen Büchern der 1950er und 1960er Jahre zu findenden Stadtmotive Eisenhüttenstadts, die sich der Künstler aneignet und zu seinem Ausgangsmaterial werden lässt, verwenden eine Sprache der Fotografie, die sich eines utopischen Gedankens bedient. Sie verdeutlicht die Vorstellung der Einflussnahme architektonischer Gestaltung auf die Formung der Gesellschaft.
Während wir uns z.B. hier mühen, die Entwicklungen in Eisenhüttenstadt je nach Laune, Stimmung und Anwesenheit fotografisch zu erfassen, geht der in Cottbus gebürtige Thomas Ruff-Schüler Thomas Neumann (sh. auch hier) einen Schritt weiter (bzw. zurück) und verfremdet und filtert ältere Aufnahmen Eisenhüttenstadts in einer Form, die man von einem Ruff-beeinflussten Fotokünstler erwartet.
Die zehn im Netz abrufbaren Arbeiten der Bilder aus Utopia gefallen mir ganz gut, jedenfalls besser als bei der Einsicht in den erhältlichen Katalog (mehr hier, PDF), den es auch im Dokumentationszentrum zu kaufen gibt.
Die auf der Website anzutreffende Aussage "Das ist der Mann, der Eisenhüttenstadt durch den Code seiner Fotografien verändert" geht mir allerdings doch zu weit. Vielleicht würde sie zutreffen, wenn er seinem Lehrmeister nacheiferte und mal eine Fassade vor Ort mit seinen Arbeiten versehen würde. Dann aber bitte etwas gelungener als bei der in meinen Augen gescheitertem Arbeit Thomas Ruffs an dem wirklich unschönen Bibliotheksneubau der FH Eberswalde durch die späteren IKMZ- und Allianz-Arena-Architekten Herzog & de Meuron.
Zur Aufarbeitung der eigenen sozialistischen (Schüler)-Vergangenheit gehört auch der Aspekt der regelmäßigen Verleihungen von Auszeichnungen zu Zeugnisausgabe bzw. Fahnenappell, wobei die Anlässe dafür recht vielfältig waren: von allgemein gutem Lernen bis hin zur hervorragenden Ergebnissen bei der Sekundärrohstoffakquise in den Hausaufgängen und Kellerverschlägen Eisenhüttenstadts gab es tausend Gründe für die der fleißige Schüler bzw. die strebsame Schülerin in der realexistierenden sozialistischen Leistungsgesellschaft etwas an die Brust geheftet bekommen konnten. Die inflationäre Vergabe der Ehrenzeichen für besondere Dienste an die Ordensschüler zog offensichtlich eine gewisse Zurückhaltung bei der Urkundengestaltung nach sich, wie das folgende Dokument beweist:
Medaillienspiegel
heute: Die Stadt an der Oder-Neisse-Friedensgrenze
Vor etwa zwei Jahren ist Johannes Hansky (am 15.Juli 2004), Schöpfer des Eisenhüttenstädter Stadtwappens, gestorben und sein Eintrag im Eisenhüttenstadt-Wiki harrt auch noch einer würdigen Ausgestaltung. Was der allgemeine Betrachter des Eisenhüttenstadtwappens sicher nicht immer präsent im Hinterkopf mit sich führt, ist die Tatsache, dass Hannes Hansky, bevor sein Hochofen-Hochhaus-Tauben-Motiv 1973 offizielles Identifikationsschild der ersten sozialistischen Stadt auf deutschem Boden wurde, zunächst in den 1960er Jahren entsprechend motivähnliche Stadtplaketten für eine Umsetzung in bestem Böttgersteinzeug der Staatlichen Porzellanmanufaktur Meissen entwarf.
Eine solche - allerdings nicht unbedingt ein Hanskysches Original - fiel mir neulich in die Hände und fällt daher jetzt diesem Blog in den Datenbestand. Ich hätte sie vor der Bildreproduktion vielleicht noch ein bisschen besser abwienern sollen, aber ich kenne mich mit Porzellanpflege nicht so gut aus und dieses Kleinod zur Stadtgeschichte ist mir doch zu wertvoll, um hier fahrlässig bleibende Schäden hervorzurufen.
Die Rückseite zeichnet sich durch eine Abplatzung am Rand, einen etwas erzwungen gereimten Sinnvers und besonders durch das seit 1722 in Benutzung befindliche und von den Porzellanfreunden aller Länder angehimmelte Emblem der ehemals Kurfürstlichen Porzellanmanufaktur aus. So kreuzen sich die Schwerter unter einem Imperativ, den wir auch den aktuellen Bewohnern und Verwaltern gern in Herz und Seele geprägt sehen möchten: "Sorgt das die Städte dauern!" Bevorzugt natürlich unsere Heimatstadt.
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