Ich mochte so zehn oder elf Jahre alt gewesen sein, als ich einen Bildband über Stalinstadt in die Hände bekam, der bei meinen Eltern von anderen Bildbänden eingezwängt und ganz oben im Bücherregal stand. Der Bildband war vom Beginn der sechziger Jahre und die Aura der leicht verblassten und verfälschten Farben der Fotos nahm mich auf Anhieb gefangen. Neugierig blätterte ich die Seiten durch und entdeckte dabei Ecken, die ich nie zuvor gesehen hatte. Es waren Alleen zu sehen mit prächtigen Blumenrabatten, Bronzeplastiken und Brunnenskulpturen und Hausaufgänge mit hervorstehenden Wandreliefs und begrenzenden Pilastern, und die Häuser hatten Erker, Säulen, Ornamente, Wandmosaiks und prachtvolle Terrassen. Ich war völlig gefangen genommen von diesen märchenhaften Stadtansichten – obwohl ich doch in der selben Stadt wohnte, die auf diesen Fotos abgebildet worden war.
Aufgeregt rannte ich zu meinen Eltern, die so linientreu waren, dass sie sogar vor der Farbe Rot salutierten, zeigte ihnen den Bildband und fragte, wo denn zu finden sei, was dort abgebildet war. Sie reagierten sehr unwirsch und der Situation völlig unangemessen, in dem sie mir das Buch wegnahmen und sagten, ich solle lieber den Müll rausbringen. Auch später frühstückten sie mich auf meine nachbohrenden Fragen hin mit solchen Elternstandards ab wie “Sei still und iss deinen Pudding!” oder “Räum erst mal dein Zimmer auf! Der reinste Saustall ist das wieder!”
Also schnappte ich mir mein diamantenes Damenrad und fuhr Achten durch die Stadt auf der Suche nach jenen geheimnisvollen Winkeln. Irgendwo musste es diese Ecken geben, da war ich mir sicher. Ab und an begegneten mir auch einige Stellen, die so aussahen, als ob, aber sie waren den von mir gesuchten nur ähnlich, nicht aber mit ihnen identisch.
Mit der Zeit verband ich die gesuchten Örtlichkeiten mit Ideen von einer besseren Welt und die Suche danach entwickelte sich bei mir zu einer Art Besessenheit. Nachts träumte mir manches Mal, dass ich beim Müll herunterbringen zwischen den Sträuchern einen bisher verborgenen Trampelpfad entdeckte, der mich geradewegs in jenen verwunschenen Wohnkomplex führte. In der Schule erzählte ich meinen Mitschülern von dem versteckten Wohnkomplex und sagte ihnen, dass es dort sogar Geschäfte mit westlichen Produkten, BMX-Räder und Skateboards gäbe. Zum Beweis zeigte ich ihnen den Bildband mit den verblichenen Fotos. Sie glaubten mir und die Sache sprach sich wie ein Lauffeuer herum, so dass ich schon bald beim Direktor erscheinen musste. Der Rektor war außer sich vor Wut, nahm mir das Buch weg und schrie, dass es so etwas noch nicht gegeben hätte. Der versteckte Wohnkomplex sei ein missglückter Versuch gewesen, habe darum nie existiert und werde auch nie existieren. Dann zerriss er das Buch und drohte mir mit einem Schulverweis, wenn ich weiter “solchen Unsinn verbreiten” würde.
Der Wutversprecher des Direx‘ machte mich hellhörig und bestätigte mich in meinen Auffassungen. Am selben Tag nahm mich meine Deutschlehrerin, eine sehr patente ältere Dame, beiseite und klärte mich über die wahren Umstände des versteckten Wohnkomplexes auf. Als die Stadt in den fünfziger Jahren erbaut wurde, begann man mit der Errichtung eines vorbildhaften Stadtteils, in dem der neue Mensch heranreifen sollte. Alles war auf das harmonischste und nach neuesten Gesichtspunkten und Erkenntnissen gestaltet und für alles war gesorgt, denn die Bewohner sollten sich wohl fühlen. Schon bald fühlten sich die Bewohner so heimisch, dass sie ihr Zuhause nicht mehr verlassen wollten, nicht einmal, um zu arbeiten. Das gefiel natürlich niemandem von der Regierung und man versuchte, durch Argumentation, Wandzeitungen und Drohungen die Leute zum Arbeiten zu bewegen. Diese waren jedoch durch keinen Eingriff von außen dazu zu bewegen. Im Gegenteil: sie schirmten sich immer mehr von der Außenwelt ab und legten stattdessen kleine Gemüsebeete und Obstgärten auf den Rasenflächen an. Da beschloss die DDR-Regierung die vollständige Evakuierung und Zerstörung des Stadtviertels und die Errichtung eines herkömmlichen Wohnkomplexes mit langweiliger Zeilenbebauung und Wäscheplätzen dazwischen.
Und so kennen wir die Stadt heute noch. Nur auf höchst seltenen alten Ansichtskarten und bei Herbstnebel ist der verloren gegangene Wohnkomplex für Menschen mit reinem Herzen noch zu sehen. Auch sollen einzelne Reste, von Sträuchern überwuchert, im Innenstadtbereich (gemeint sind die Wohnkomplexe II und V) überdauert haben, z.B. die ehemalige HO-Gaststätte “Aktivist” oder der kleine Pavillon an der Kreuzung Friedrich-Engels-Straße/Poststraße.
(c) 6. August 2006 by Alf Artig
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Noch eine Ergänzung: Was der Frankfurter Allgemeinen Zeitung leider auch immer wieder unterläuft, sind dumpfe Übertreibungen und Ungeschicklichkeiten in der Rahmenbegleitung ihrer Artikel. So ...
Stalinstadt natuurlijk! Wer sein Niederländisch noch ein bisschen mehr mit einem Text über Eisenhüttenstadt üben möchten, kann dies hier tun: Alle Menschen werden Brüder...Kommentare (2)
Hallo Igor, irgendwie war Dein Kommentar in der Moderationsschleife hängen geblieben. In der Tat habe ich eine kleine Sammlung von Eisenhüttenstadt-Ansichtskarten, wobei sich alt auf die ...
Gern. Aber eigentlich ist es eine Symbiose (und dazu noch eine Win-Win-Situation): Du schreibst in Deiner kleinen Kammer die großartigsten Texte und ich habe etwas zu vermelden. Oder wie der große ...
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Das erinnert mich an die Aktion "1000 Bäume für Stalinstadt" aus dem Jahr 1955. Die Stadt war damals gerade im Aufbau begriffen und die Brachflächen zwischen den Baustellen erzeugten einen ...
Liebe Leseriche & Leserienen! Lieber Ben! Was haltet Ihr davon, den Platz des Gedenkens mit seinem hochaufragenden Obelisken und den Grabplatten zum Motiv des Monats November zu machen? ...
Eisenhüttenstadt ist eine Subventionsfalle! Ich möchte nicht wissen, wie viel Geld schon in diese stadt gepumpt wurde. Erst wurde das EKO mit öffentlichen EU-Mitteln saniert, um es an USINOR zu ...
Die offizielle ddp-Pressemeldung zur Ausstellung hat es bis in die ZEIT bzw. den Tagesspiegel geschafft.Kommentare (2)
Es sind übrigens bereits 4 Bilder bei Zooomr, allerdings ist das Angebot noch derart "BETA", also schwierig handhabbar, dass flickr bislang einfach mehr Freude bereitet. Der Vorteil bei Zooomr: ...
Zudem muss man natürlich zugeben, dass es mehr als zehn Unterschiede (schon genetisch) zwischen dem (laut Hermann Kant Okarina-Spieler) Generallismus "Koba" Dschugaschwili und dem amtierenden ...