Es war vielleicht nicht der beste Zeitpunkt, eine Debatte über die mangelnde oder mangelhafte mediale Repräsentation Eisenhüttenstadts am Vorabend des 09. Novembers 2009 anstoßen zu wollen. Denn wenigstens quantitativ ist Eisenhüttenstadt momentan in den deutschen aber auch internationalen Leitmedien präsenter denn je. Den thematischen Ausreißer bildet sicherlich das Interview mit dem Fußball-Experten Hanns Leske, der in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in einer kleinen Passage erzählt, wie man in der Saison 1967/68 den Aufstieg von Stahl Eisenhüttenstadt mit wahrhaftig unsportlichen Mitteln verhinderte.
Die meisten anderen Artikel beschäftigen sich weitgehend mit Eisenhüttenstadt als Artefakt und/oder Museum, in jedem Fall Erinnerungsraum und Projektionsfläche für die DDR. Die Reportage von Maria João Guimarães in der portugiesischen Zeitung Público erscheint unter diesen als ganz besonders Kleinod, denn einerseits erfährt man selten etwas über eine Sicht auf Eisenhüttenstadt aus diesem Blickwinkel und andererseits entspinnt sich im Kommentarbereich zum Text eine spannende Diskussion, die - soweit das die nur oberflächlich verstehende Lektüre zulässt - sich zu einem bitteren Wortgefecht zwischen Kommunismusbefürwortern und - laut- bzw. schreibstärkeren - Gegner entspinnt. Die Autorin hat zudem in Erfahrung gebracht, dass Stalinstadt anscheinend im Volksmund auch Leninstadt geheißen hat. Uns interessiert natürlich, was ihr an der Stadt auffiel: Die Eckpunkte der hier geschilderten Stadtwahrnehmung sind die Plattenbauten, a maioria foi destruída depois de serem abandonados pelas pessoas que lá viviam - also verlassen und zerstört und die Leere auf den Straßen. Die Stimmen der von ihr befragten Passanten harmonieren mit dem Novemberniesel: Aufgegeben, vergehend, alternd, perspektivarm. "É como num navio a afundar; os ratos estão todos a fugir." - Ein sinkendes Schiff, von dem die Ratten fliehen, so beschreibt Tony Serowy seinen Wohnort. Andererseits finden sich Stimmen der Heimatverbundenheit, der Identifikation und Bindung mit der Stadt. Der Weg führt die Besucherin geradewegs und folgerichtig ins Dokumentationszentrum der Alltagskultur der DDR, in die Frage nach der Musealisierung der Stadt und zu Andreas Ludwig, der immerhin ein klein wenig Portugiesisch zu parlieren versteht. Und das ist für Maria João Guimarães ein durchaus erwähnenswertes Detail, vielleicht um Eisenhüttenstadt dann auch noch anders mit Portugal zu verknüpfen. Ein weiteres bemerkenswertes Detail ist, dass auch sie gleich Joachim Bessing die Burger King-Filiale in Eisenhüttenstadt als zentrale gastronomische Einrichtung wahrnimmt: "e que é aliás o único restaurante visível" - das einzige Lokal in Sichtweite. Damit hat Eisenhüttenstadt wohl auf Dauer ein neues, eigentlich fragwürdiges Wahrzeichen. Gibt es noch andere?
"Und die Plattenbauten, natürlich. Mobile Telefone wählen sich ins polnische Netz ein, auch mit dem Radioempfang ist es nicht so einfach."
Jennifer Wilton führt die Liste für WELT und Berliner Morgenpost auf der Recherche nach dem "süßen Duft der DDR" fort. Sie findet selbigen natürlich auch im Dokumentationszentrum, dessen Leiter sie einerseits nicht ganz korrekt als "Museumsdirektor" und andererseits irritierend respektvoll als "Herrn Ludwig" bezeichnet. Und mehr noch in der Musterwohnung. Für die in diesem Zusammenhang dort entstandene Bildstrecke, die der Zeitschrift Sybille zur Ehre gereicht hätte, lohnt der Besuch der Textvariante in der Morgenpost, denn nur dort ist sie zu finden. Abgesehen davon wirkt die Kontinuität bestimmter Stadtmerkmale in der Fremdwahrnehmung eventuell tatsächlich nur auf sehr Eingeweihte überraschend und ich habe Joachim Bessing jüngst unrecht getan. In jedem Fall etablieren sich diese Bilder (polnisches Telefonnetz, leere Straßen, verfallende Plattenbauten, Burger King, DDR) mittlerweile recht intensiv und vielleicht auch auf Dauer. Hier ließe sich ein guter Hebel für eine selbstironisches Stadtmarketing jenseits des platten "Wir sind Waldmeister" ansetzen. Aber ob Eisenhüttenstadt im Spiel mit der Fremdwahrnehmung so auf's Ganze gehen will?
Einen kleinen Bruch, nicht im Bild, aber im Ansatz, bietet der hervorragende Artikel der jungen Journalistin Thalia Gigerenzer (Jahrgang 1986) für den die Frankfurter Allgemeine Zeitung heute im Feuilleton eine ganze Seite bis auf eine Anzeige des Rowohlt-Verlages freiräumt. Letztere ist auch erwähnenswert, denn sie würdigt Imre Kertész, der heute 80 Jahre alt wird, und zwar mit dem schönen Zitat "Sie wissen, ich liebe Camus' Satz, das Glück ist eine Pflicht. Darin versuche ich mich..." Wenn das mal nicht ein positives Motto auch für das Stadterleben ist. Allerdings zählt die "Pursuit of Happiness" nicht unbedingt traditionell zum deutschen Sammelsurium an Lebensleitbildern...
Die an der University of Chicago geschulte Autorin begibt sich zunächst einmal erfrischend erfahrungsoffen auf die Suche nach Eisenhüttenstadt und lässt sich und ihre Leser etwas Erstaunliches entdecken:
Wer in Eisenhüttenstadt, dieser einst „Ersten Sozialistischen Stadt Deutschlands“, nach dem Weg fragt, wird von den Einwohnern an Punkten entlanggeführt, die es nicht mehr gibt. „Gehen Sie an der alten Schule vorbei, und biegen Sie am Sowjetischen Ehrenmal rechts ab“, sagen sie. Aber dann führt der Weg nur an verlassenen Fabriken, Denkmälern und ehemaligen Gaststätten entlang, und einige der Bauten, an denen man sich orientieren sollte, sind längst abgerissen."
Der alte Schulhof - laut Liedgut der DDR, "der schönste Platz, den's für mich gibt", was sicher nicht jeder, der dort sein Butterbrotpapier wegwarf unterschreiben würde - der Schule 1 existiert glücklicherweise noch, gleichwohl das Ehrenmal. Im Kern und den Weg vom Bahnhof zur Magistrale vor Augen ist die Beschreibung aber so stimmig, wie sie in die Dramaturgie des Artikels passt. Die Transformation ergreift die realen Räume, verformt das, was die DDR errichtete.
Aber wie sieht es mit den Erinnerungsräumen aus und mit der Abbildung derselben in den Heimatmuseen? Heimat war in der DDR, so die Autorin, nicht die Natur, sondern der internationale Sozialismus - also durchaus etwas Avantgardistisch-Globales - sowie die gebaute Welt. Dies ist trotz der in dieser Beziehung relativistischen Grundschulhymne "Unsere Heimat" ("unsere Heimat sind auch all die Bäume im Wald.") nicht verkehrt, obschon die individuelle Konstruktion von Heimatbildern erfahrungsgemäß von den Bildern der Fibeln und Staatsbürgerkunde-Lehrbüchern deutlich abweichen konnte. Das Eindrucksvolle an Eisenhüttenstadt als einer geplanten sozialistischen Stadt mit einer relativ homogenen Ausgangsgeneration, die gemeinsam in und mit einem verbindenen Projekt lebte und eigentlich bis heute lebt, ist ihre geschichtliche Eindimensionalität. Daraus erklärt sich auch die Sonderstellung Eisenhüttenstadts, diese Geschlossenheit der Bilder und Identifikationspunkte, auf die man stößt, sobald man mit Vertretern der Gründergeneration ins Gespräch kommt.
Wenn Thalia Gigerenzer meint, dass die "Stadt wortwörtlich mit den Händen der Einwohnern aus den Trümmern des Weltkrieges errichtet wurde", dann ist das Wort "wortwörtlich" selbstverständlich eines zuviel. Denn im Gegensatz zu anderen Städten begann die Planstadt nicht mit Trümmerbeseitigung, sondern mit einer Rodung, also mit Pioniergeist statt einer Konfrontation mit dem Vernichtungskrieg. Die Stunde Null ist in der ersten sozialistischen Stadt auch stadtgeschichtlich eine solche. Der Platz des Gedenkens markiert in der Planstadt die einzige Ausnahme der Erinnerung an die Zeit vor 1949, war aber als Platz der Deutsch-Sowjetischen-Freundschaft am Ende ebenfalls weitgehend gegenwartsorientiert. Das Zusammenwachsen mit den Nachbarorten Schönfließ und Fürstenberg gelang auch nach dem Zusammenschluß 1961 nur bedingt, so dass beispielsweise das STALAG nie als etwas thematisiert wurde, was mit der Planstadt und ihrer Geschichte zu tun haben konnte. Die Siedlungsgrenzen sind bis heute klar und mit dem Abriss des VII. Wohnkomplexes auch wieder eindeutig markiert. Dieses Bild des Flächenabrisses dürfte es übrigens auch sein, das den Eindruck der "verkommenden Plattenbauten" prägt. Denn überall dort, wo selbige einer Sanierung unterzogen wurden, glänzen sie zwar mit in der Regel pastellner Unauffälligkeit, aber nie mit baulichem Niedergang.
Welche Heimatlichkeits-Spuren die selten sonderlich geliebten Plattenbauten in den Erinnerungsräumen der Eisenhüttenstädter hinterließen, ist schwer abzuschätzen. Die entpersonalisierten Taktstraßen des industriellen Wohnungsbaus dürften aber schon allein aufgrund der ästhetischen Abweichung von den harmonischen Planstadtstrukturen weitaus weniger Identifikationspotential besessen haben, als die "Arbeiterwohnpaläste", die freilich ihre Palasthaftigkeit zumeist nur im Zeitenblick der 1950er und 1960er Jahre tatsächlich einlösen. Es sind vergleichsweise aufwendige, z.T. schön durchdachte Wohnungen, aber wirkliche Paläste malt man sich am Ende doch anders aus. Der Text aus der FAZ läuft wunderbarer Weise weniger zur Wertung denn in eine These, die da lautet:
"Stärker als an anderen Orten in Ostdeutschland zeigt sich in Eisenhüttenstadt, wie lokale Geschichte von der Geschichte der DDR überformt und daraus nicht zu lösen ist."
Die Formel dahinter liefert die Autorin allerdings selbst mit: Der Satz ist wahr, "da die Stadt vor der DDR keine eigene Geschichte hat."
Die rückwärts gerichtete Identifikation der Gründergeneration mit der Stadt, ihr im Stadtmuseum durch die Exponate intensivierter Erinnerungsraum, ergibt sich vor allem aus dieser Geschichtslosigkeit zweiten Grades. Dies wird von Außen nicht selten als unzulässige Verklärung eines Unrechtsregimes gewertet. Ein solches Bewertungsmuster übersieht allerdings die individuelle Komponente, nämlich, dass wir es hier nicht mit einer Wahl zwischen Ideologien, sondern dem lebenslangen Versuch, das eigene Leben zu leben zu tun haben, einem Rückblick auf die eigene Jugend und ein in der individuellen Wahrnehmung großartiges Projekt voller Hoffnung.
Da die Stahlstadt nahezu bis 1989 wuchs, erweitert wurde und all die Nachlässigkeiten und Lücken als Provisorien einer Aufbaustadt gerechtfertigt werden konnten, wurde die Situation der DDR, wurden die Stagnation, Erschöpfung und auch Repression in Eisenhüttenstadt (im breiten Stil) weniger intensiv als andernorts erlebt. Öffentlich erfuhren die Verdienste der Aufbaugeneration ihre zureichende Würdigung. Das spezifische Heimatgefühl in Eisenhüttenstadt ergab sich nicht zuletzt aus dem engen Verwobensein von Stadt und Bewohnern. Mittlerweile stirbt diese unmittelbare Erfahrung mit ihren Trägern aus. Sie wirkt aber merklich auch in den Nachfolgegenerationen nach. Insofern ist es gar nicht notwendig, im Heimatmuseum Heimatgefühl nachträglich zu erzeugen, wie es Thalia Gigerenzer als Aufgabe solcher Einrichtungen definiert. Es reicht für das Städtische Museum zu, die Geschichte der Stadt - mit allen Widersprüchen - zu dokumentieren und damit einen Raum anzubieten, den diese Generation mit ihren Erinnerungen und Identifikationen füllen kann, ohne gleichzeitig allzu derb mit Begriffen wie "Unrechtssystem" in ein Legitimationsdilemma ihrer individuellen Biografie gestürzt zu werden.
Diesen Sturz erfüllt die Stadtentwicklung im Jetzt nämlich schon von selbst. Eisenhüttenstadt nach 1989 musste - im Gegensatz zu den Städten, die alte Wurzeln als vorsozialistische Bezugspunkte ausgraben konnten - ein zweites Mal von Null beginnen, denn seine Geschichte war hochgradig sozialistisch kontaminiert und damit als Identifikationsrahmen denkbar ungeeignet. Dazu kommt, dass sich der Stadtumbau, der Bevölkerungsrückgang, die geschlossenen Betriebe nur schwer als positive Entwicklung wahrnehmen lassen. So wie in Rückblicken auf der DDR der grundsätzliche Webfehler des Systems und seine Folgen oft auf sämtliche konkrete Ereignisse, Lebensformen und Individuen über Gebühr verallgemeinert und ausgeweitet werden, so extrapolieren nun nicht wenige Vertreter der frühen Eisenhüttenstadt-Generationen bestimmte Negativfolgen des Postsozialismus zu einem Gesamtbild der aktuellen Gesellschaftsordnung. Die Multioptionsgesellschaft bot den meisten von ihnen bisher noch weniger Optionen als die DDR. Gerade in dieser Stadt fehlen Beispiele, die als Lichtblicke der wahrgenommenen kalten Dekonstruktion des Lebenswerkes vieler Eisenhüttenstädter entgegen wirken. Ein Heimatmuseum, das ihre Errungenschaften und damit Teile ihrer Biographie in gewisser Weise wenigstens durch die Dokumentation bewahrt und damit auch anerkennt, wird so zum willkommenen Zufluchtsort, zur materialisierten positiven Erinnerung. Ein bestimmter Zweig der Geschichtsschreibung und Museumspädagogik mag dieses Verständnis eines Museums als zutiefst verkehrt bewerten. Für eine sich deintegrierende Stadt wie Eisenhüttenstadt kann es aber ein willkommenes Bindemittel sein.
Die Rundum-Musealisierung Eisenhüttenstadts, wie sie momentan beinahe herbeigeschrieben wird, wäre allerdings des Guten zuviel. Denn zwei Dekaden nach dem Ende der DDR sind hier Menschen aufgewachsen, denen der Erinnerungsraum DDR kein konkreter mehr ist, die eigene Orientierungspunkte benötigen. Schaut man sich allerdings an, was die letzten 19 Jahre so in den Zeitenlauf der Stadtgeschichte eingepflockt haben, findet man auf der Haben-Seite kaum etwas, von dem man sich Dauerhaftigkeit wünscht. Auch das mag ein Grund sein, warum die Erinnerungen an die Zeit vor 1989 in Eisenhüttenstadt so dominant bleiben. Als Alternative steht eine zumeist schmerzhafte Transformation, aus der bisher jedenfalls keine wirkliche Perspektive entstand. Damit zeigt sich auch 20 Jahre nach dem 9. November 1989 ein gravierenderes Problem, als manche Theoretiker des Zusammenwachsens (besser wäre (gewesen): gemeinsam werden) wahrhaben möchten.