„Ich spürte, dass die Stadt voller Leben, voller Engagement, aber auch voller Reibung ist“, begründet er, warum ausgerechnet hier und nicht in Eisenhüttenstadt oder Schwedt, die anfangs auch zur Auswahl standen, sein Forscher-Camp aufgeschlagen wurde.
Felix Ringel ist Anthropologe, Doktorand am Department of Social Anthropology der University of Cambridge und bekannt wie ein bunter Hund. Letzteres schreibt die Super Illu und bezieht es auf die sozialistische Planstadt Hoyerswerda. Wenn allerdings die Super Illu so etwas schreibt, dann reicht das bunte Hundeleben weit über die industriell errichteten Wohnkomplexe sozialistischer Wohnstädte hinaus. Wenn es um den besonderen Blick - wir nennen es bekanntlich gern auch Stadtwahrnehmung - geht, dann ist der "Menschenforscher" (Super Illu), der sich für Monate dahin traut, wo sich das gemeine deutsche Feuilleton im Normalfall höchstens einen halben Tag umschaut, zum Liebling der Leitmedien erwachsen, die in einer Verzückung über den Anthropologen in Ostdeutschland rapportieren, als würde die europäische Ethnologie (oder auch die Volkskunde) gerade erst erfunden. Die ostdeutschen Presseerzeugnisse zeigen sich erstaunlicherweise noch etwas faszinierter. Gestern war dann aber die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung mit ihrem Bericht an der Reihe, den sie ganz anspielungsreich Im Dschungel der Platten betitelt. Die Feldreportage zu den Feldstudien liest sich ganz flott und beginnt mit einem Bild, das dem entspricht, was sich der antizipierte Leser am Fuße des Taunus so in etwa unter Ostdeutschland vorstellt:
Der Tag ist grau, kalt weht der Wind, es regnet in Strömen, und dieser Platz hat auch schon bessere Zeiten gesehen. Aus zerbrochenen Gehwegplatten wächst Moos, auf bröckelndem Putz sind Hakenkreuze, „No pasaran“ und „Venceremos“ geschmiert. Die Fenster dreier umliegender Läden sind mit Spanplatten vernagelt, ein „Asia Shop“-Schild hängt schief herab, und auch der „Plus“-Markt hat endgültig aufgegeben.
Wir, die wir das Beste (und die Reste) aus beiden Welten kennen, sehen dagegen, dass man sich den Eindruck auch in Eisenhüttenstadt hätte holen können. Wo liegt nun der im Eingangszitat aufgewühlte Unterschiede, der "Antilopen-Felix" (Hoyerswerderaner Volksmund) in die Oberlausitz lockte, anstatt ans Oderufer? Waren es die Aspekte "voller Leben", "voller Engagement" und "erstaunlich wenig Resignation", der Hoyerswerda zu einem Sch'tis'schen Erweckungsort macht und Eisenhüttenstadt womöglich, wenn es darum geht, diese Eindrücke einzulösen, zu einem Ort, durch den man sich höchtens vom Stalker führen lassen will?
Eine eindeutige Antwort liefert der Artikel natürlich nicht. Aber es könnte durchaus sein, dass die Nachwende Hoyerswerda noch ein wenig stärker gebeutelt hat, als die gerettete EKO-Wohnstadt. Wer so abstürzt und sich auch in völliger Unkenntnis 1. im Umgang mit Asylbewerbern und 2. im Umgang mit der Weltpresse selbst auf Jahrzehnte als deutsches Synonym für postsozialistisches Barbarentum etabliert, hat im Jahr 20 nach dem Mauerfall vielleicht wieder in einer Form zu sich selbst gefunden, die eine produktive Verortung des Selbst in der eigenen Umwelt ermöglicht. Bzw. Überlebenswillen. Dies nur als Vermutung. Und sie sind daher im Falle Felix Ringels dankbar und froh, jemanden gefunden zu haben, der zuhört und somit auch Teil dieser Positionierung wird. Daher stammt sicher auch die Freude über die breitenmediale Aufmerksamkeit, die der Anthropologe mit seinem Forschungs-Camping in die Stadt bringt.
In Eisenhüttenstadt waren Brüche und Reibungen zwar ebenfalls vorhanden. Mit dem Erhalt des Stahlwerks ergab sich jedoch eine größere Kontinuität, die vielleicht den einen oder anderen Sturm ins Wasserglas blies, aber andererseits zum Mangel an dem geführt hat, was der "Menschenforscher" in Hoyerswerda vorfindet:
„Hier herrscht erstaunlich wenig Resignation. Dafür gibt es viele Menschen, die etwas bewegen wollen“
Obwohl Resignation womöglich gar nicht das richtige Wort ist. Indifferenz trifft es oft wohl besser. Man freut sich über ein besonderes Fest im August und schimpft darüber, dass irgendwelche nicht übermäßig talentierten Sprühköpfe ihre Dreibuchstabenidentität in die Fröbelring-Passage malen, hinterfragt aber nicht, wie es eigentlich kommen konnte, dass die Passage selbst totsaniert und zu zwei Dritteln leer in der Stadtlandschaft steht. Man sucht das ganz normale Leben, bei dem man vor allem seine Ruhe hat und in dem Helge Schneider auf der Freilichtbühne zu einem zentralen Kulturereignis wird. Das ist nicht weiter verwerflich, könnte aber dabei helfen, zu erklären, warum die Stahlstadt, deren Hauptidentifikatoren in Gestalt der Aufbaugeneration zunehmend davonstirbt, aktuell weder ein intaktes, noch ein reizvolles Selbstbild besitzt. Vielleicht ändert sich etwas, wenn Arcelor-Mittal tatsächlich ernst macht und im Zuge der aktuellen Wirtschaftslage den hiesigen Standort zur Disposition stellt. Angeblich liegen alle Optionen auf dem Tisch. Wie hoch in einem solchen Fall die Protestwellen schlagen würden, ist kaum vorhersehbar. Vermutlich würden sie sich aber überregional flacher verlaufen, im Sande einer Zeit, in der so viele alles opfern müssen und in Osteuropa ganze Länder (aktuell: Lettland) vor dem Bankrott stehen. Obendrein wurde im Vergleich zur Situation vor 15 Jahren die Belegschaft deutlich eingedampft. Und natürlich wünscht man solch bitteren Kältereiz keiner Stadt. Aber mehr Stadt wünscht man sich und fragt sich, woher sie kommen könnte.
Die Zeiten des Industrieproletariats sind endgültig vorbei. Daran ändert keine Papierfabrik am Kanalufer etwas. Eine ausgewiesene Arbeiterstadt ins postindustrielle Zeitalter zu führen - diese Aufgabe teilen die Bürgermeister von Hoyerswerda und Eisenhüttenstadt, die einen schon eine Weile sehr akut, die anderen etwas weniger brutal. In Hoyerswerda möchte man gern einen 27-jährigen Akademiker aus Cambridge auf diese Stelle setzen. In Eisenhüttenstadt setzt man wohl auch dieses Mal wieder auf Kontinuität.
Zum Material eines Bürgermeisters zählt auch der Stadtraum mit seinen Licht- und Schattenseiten sowie den Brüchen dazwischen. All dieses vernünftig zu ordnen ist bekanntlich schwieriger, als die Betrachtungen desselben auf eine These hin zu fixieren. Dennoch kann man die Träumerei einiger "Hoywoys" schon verstehen, denn offensichtlich verkörpert Felix Ringel vieles, woran es im Osten Deutschlands oft und gerade in der Lokalpolitik fehlt: Jugend, Souveränität, Charisma, Optimismus und Ernsthaftigkeit. Und er hat die Themen seiner Zeit nicht nur erkannt, sondern macht sie auch zu den seinen:
"Die Überalterung, Abwanderung und die Frage ,,Wie gestaltet manÜbrigens gab es auch einmal in Eisenhüttenstadt kurzzeitig einen möglichen Bürgermeisteraspiranten, der erst 20+ Lenze zählte. Wer sich an diesen erinnert, darf gern einmal einen Kommentar hinterlassen.
städtisches Leben?‘‘ - das sind doch alles unglaublich spannende
Themen."