"Es kann sein, dass mir alles allmählich die Luft abschnürt/Ich will durch klare Fenster seh'n - mein Haus wird grundsaniert." - Sir Serch: Lauf weg
Das - und bei weitem nicht nur das, sondern fast alles - unterscheidet den V.Wohnkomplex vom Berliner Prenzlauer Berg. Das Problem der Fenster ist allerdings geklärt: Die acht Wohnblöcke an der Robert-Koch-Straße, die demnächst buchstäblich dem märkischen Boden gleich gemacht werden, haben nämlich keine mehr. Hier kann man nicht nur durch die Fenster sehen, sondern z.T. sogar durch das Dach. Dass die Stimmung des Viertels dadurch überraschenderweise selbst bei eitel Sonnenschein noch finsterer wird, als sie ohnehin schon ist, bekommt man dann an der Schule zur Nachbarschaft vorgeführt. Dort übt schon einmal, quasi mit Ansage, wer ein Abrissmeister werden will. Allerdings noch nicht ganz mit der notwendigen Sorgfalt, diesen Mangel ausgleichend jedoch mit einem besonderen Enthusiasmus. Ein festes Sternburg ist unsere Wut. Das Label der Standardausrüstung einer ganzen Generation junger Burschen dieser Stadt, die den Sixpack nicht selten als Herrenhandtasche ausführen, klebt noch am Fensterbrett. Doch die paar braunen Scherben bringen auch zwischen dem Klarglas kein Glück. Obwohl man insgesamt mit dem Eckchen der Stadt umgeht, als wäre es allen mächtig schnuppe.
Dass hier zum Montag noch ein Glasermeister zum Anrücken bestellt wird, scheint so wahrscheinlich, wie, dass noch einmal polytechnische Oberschüler noch einmal über das frisch bohnergewachste Linoleum gleiten. Hier, wo die Paste der Melancholie und der Resignation besonders dick auf den Stadtraum aufgetragen wird, gibt es bestenfalls noch Arbeit für den Schreiner vom Dienst, der schon dem Erdgeschoß des Luniks eine anheimelnde Holzeinfassung verpasst hat. Immerhin das.
Am Pionierweg trägt der Stadtum- und -abbau eine besondere Botschaft deutlich von Hauseingang zu Hauseingang: Diese Gegend ist ab- und im Prinzip zur Spielwiese für Steinschleudern und Wutproben ausgeschrieben. Die kleine Eisenhüttenstadt-Welt im großen Eisenhüttenstadtraum kann eben nicht alles haben und retten und ein wenig bildet sich der Eindruck, als würde das Bonbonfärben des WK III erkauft mit der Lakritzschwärze, die sich zwischen Karl-Marx- und Robert-Koch-Straße als Nationales Abbauwerk vollzieht: die Jugend ist bereits mobilisiert und imitiert, was der Abrissbagger hundert Meter weiter vorführt. Wie soll sie den Unterschied erkennen?
Hier vier Varianten zur Anschauung.
Nummer 1:
Das Urban Space Shuttle genannt "Bruchstück einer Gehwegplatte" oder Kiesel ist klein, nicht sonderlich wendig aber von durchschlagendem Erfolg. Die Geradlinigkeit ist die Stärke dieses in die Öde der geschlossenen Fläche eindringenden Opusculums der Langeweile aus Masse mal Beschleunigung, besonders wenn es gilt, einen Widerstand, der sich im Rahmen hält, zu durchbrechen.
Da die Nachbarschaft so gut wie entvölkert ist, wird aber niemand Zeuge dieses Durchsetzungskraft. Als früher die sowjetischen MIGs die Schallmauer nahe oder über der Stadt durchbrachen, zucken die Schüler ein Geschoß höher immer etwas zusammen. Beides ist Schnee von Gestern.
Nummer 2:
Denn Höfe gab es dank Zeilenbauweise hier keine. Nur Spielwiesen, in denen sich am Wochenende das Echo der "Mittagessen"-Rufe der Mütter fing, während sich die Kinder der jungen Stadt mit Stöckchen Länder klauten.
Die wenigen Kinder, die man heute zwischen den Blöcken spielen sieht, sind quasi Alleinherrscher. Es ist wirklich auffällig: Man sieht bei vielleicht jedem zweiten Block, auf jedem zweiten Spielplatz ein Kind, aber jedes scheint für sich allein...
Nummer 3:
Auch hier wurde die Scheibe konsequent entspiegelt.
Eine rotweißes Absperrband verweist auf verbotenes Gelände, dort wo man sich mit kurz vor 14 die Passbilder für den Personalausweis anfertigen ließ, davor so genannte 'Freundschaftsbilder', welche man den Liebesbriefchen beilegte, die nicht immer länger als eine Schulstunde aufbewahrt wurden. Daneben war die Poststelle, die man zum seltenen Anlass des Telefonierens, der Vater manchmal zum Lottospielen und zum Briefmarken-mit-Sperrwert-kaufen aufsuchte und zu der man auch musste, wenn das Kind die Tür am Paketabholfach zugedrückt hatte, bevor das Packet herausgezogen war, denn das Fach, zum dem der Schlüssel in einem grauen Umschlag im Briefkasten lag, ließ sich nur ein einziges Mal pro Aktivierung öffnen. Einmal stieg ein Junge für einen Jux hinein, dem die anderthalb Stunden, die es brauchte, bis jemand von der Hauptpost vorbeikommen konnte, sicher sehr lang geworden sind.
Nummer 4:
„das Nichts in mir. Es wächst und verschlingt mich."
Das City Hotel Lunik, Herzstück des Stadtzentrums, überzeugt mit viel Sperrholz vor Hütte, aber immerhin kommt man der Verkehrssicherungspflicht nach, wo man in grauer Vorzeit zu einem Geburtstag in in der Familie oder falls gar Westbesuch da war, einkehrte, denn obschon nicht Michelinstern-würdig, war es doch das beste Haus am Zentralen Platze.
Dass ein Gastronom, der sich hier einrichtete, wieder ein solches führen könnte, scheint angesichts der Konkurrenz nicht sonderlich schwer erreichbar. Dass sich ein Gastronom aber an sich dafür entscheiden würde, hier ein Lokal einzurichten - vielleicht mit Markise im Bunker - erscheint auf absehbare Zeit so ausgeschlossen, wie ein sich Reisender in einer Winternacht, der sich an einem alten Reiseführer orientiert, vor dem Haus fühlen würde. Viele kommen nicht und wenn man sich umschaut, ist die Zeit für Eisenhüttenstadt selbst als Kuriosum, dass man als städtebaulich Interessierter gesehen haben muss, erstmal abgelaufen. Vielleicht dringt wieder Schwung in die Sache, wenn die Musealisierung der Wohnkomplexe II und III abgeschlossen ist. Der lieblos zerholzte restliche Stadtraum bietet nach dem Abschluss des Flächenabrisses aber nicht mehr viel außergewöhnlich Sehenswertes.