Eine Kreisstadt im Saarland und eine junge Stadt in Brandenburg: partnerschaftlich
Der Ausdruck "Shrinking City" ist in Stadtsoziologie und Stadtplanung mittlerweile (dank des Projekts von Philipp Oswalt) relativ etabliert und Eisenhüttenstadt stellt bekanntlich einen Idealtypus für diesen Typus dar. Gekennzeichnet sind "Shrinking Cities", bzw. "Schrumpfende Städte" durch einen massiven Rückgang der Bevölkerungszahl. Ein positiver Aspekt, den ich für unsere kleine Stadt allerdings nicht sehe ist der buchstäbliche Freiraum, d.h. die Nischenbildung die durchaus kulturell befördernd wirken kann:
Schrumpfende Städte sind vielfach Ausgangspunkt für kulturelle Innovationen. Ob in Musik, Kunst oder Architektur, Literatur, Fotografie oder Film – eine Vielzahl von Neuentwicklung in Populär- und
Hochkultur gehen aus diesen städtischen Krisenstandorten hervor. (sh. hier: Kultur des Schrumpfens)
Das wäre sehr schön, aber ich fürchte, dafür reicht die kritische Masse im Schrumpfungsgebiet an der Oder nicht aus.
Was aber häufig verknüpft mit dem Schrumpfen und Abwandern auftritt, bislang jedoch weitgehend ohne knallige Benennung auskommen muss, ist das Phänomen der überproportionalen Zunahme der so genannten "Alten" an der Bevölkerungsverteilung, d.h. der Einwohnerschaft im Rentenalter.
Dies tritt in der Seniorenrepublik Deutschland natürlich nicht nur in den ausgewiesenen Abwanderungsgebieten zutage, wird hier aber aufgrund der naturgemäß höheren Mobilität der jüngerern Bevölkerungsgruppen zusätzlich verstärkt. Daher bietet sich hier als Bennenungsgegenstück zu "shrinking city" der Ausdruck der "wrinkling city" an, d.h. der "Schrumpelnden Stadt" bzw. "Alternden Stadt". Ich bin mir nicht sicher, ob dieser sehr naheliegende Terminus schon geprägt wurde, daher hier (und im wiki) die (Nach)Prägung.
Die "Wrinkling Cities" als die Städte der Alten waren in gewisser Weise schon einmal Kernstück der Zukunftsprojektion für Eisenhüttenstadt und letztlich gibt der vielbeschworene demographische Wandel eigentlich allen Anlass, diese Idee ein bisschen weiterzuverfolgen. Vielleicht ergibt sich ironischerweise in der ehemals "jüngsten Stadt der DDR" gerade aus diesem Gebiet ein zeitgemäßes Wachstumspotential: Eisenhüttenstadt als Modellstadt für altersgerechte Urbanität! Und wer weiß schon, ob nicht gerade daraus eine Kreativität (im Rahmen eines Creative Aging entsteht, die auch hier neue Kulturformen hervorbringt.
heute: ein Limerick von Heiko Wolff
Ein Vielfraß aus Eisenhüttenstadt
Aß sich Hamburgern, Würsten und Fritten
satt
Da rebellierte sein Magen,
Das war kaum zu ertragen.
Mein Gott, wie der Fresssack gelitten hat.
Aus: Wolff, Heiko. 111 Limericks including Bonus-Tracks. Berlin: My-Story Verlag, 2005. S. 38
Angesichts der Notdürftigkeit, mit der hier der Reim geprügelt wird, hilft nur noch der finale Rettungsgriff zu Andreas Okopenkos einzigartigen Bändchen Warum sind die latrinen so traurig?:
"..Und haben sie nicht Sorge, daß
der Stumpsinn wächst, durch ihren Spaß?Die Dummheit, die verschlimmer ick
nicht spürbar, sagt Herr Limerick."
Wie mein Führungsabschnittspartner Alf bereits in seinem untenstehenden Kommentar zwischen den Zeilen hervorblitzen ließ, waren wir tatsächlich Teilzeitteilnehmer an der schönen Führung durch den II. Wohnkomplex, bei der wir - auch nicht mehr die Allerjüngsten - den Altersschnitt glatt halbierten.
["" vollständig lesen »]Die "Wohnstadt EKO" umfasst vier Wohnkomplexe, von denen der so genannte II. Wohnkomplex der größte ist. Die Begrenzungsstraßen sind: im Norden die Straße der Republik, im Osten die Karl-Marx-Straße, im Süden die Friedrich-Engels-Straße und im Westen die Fritz-Heckert-Straße. Und genau in diesen drei darin befindlichen - und zum Teil verlassenen - Wohnquartieren wird sich am Samstag die nächste thematische Stadtführung anlässlich des Jahresmottos "Architekturland Brandenburg" des Tourismusvereins Eisenhüttenstadt (TOR) bewegen.
Die Teilnahme lohnt sich in jedem Fall, findet man hier doch eine großartige Ballung stadtplanerischer und architektonischer Konzepte im Wandel, so z.B. im direkter Vergleich der Grünachsenkonzeptionen Erich-Weinert-Allee und Pawlowallee, zu dem natürlich als dritte Vergleichsachse die Heinrich-Heine-Alle im III. Wohnkomplex gehört.
Wunderschön auch die Eckbebauung um die Poststraße 21, das Pendant gegenüber der Schule am Ende der Erich-Weinert-Allee, welche für mich zu den schönsten Gebäuden der Stadt zählt sowie natürlich die zahlreichen kleinen Details wie überall eingestreute Putzornamente oder auch die wintergartenartigen Verbinder zwischen den Blocks.
Wer sich die, leider häufig übersehene, Schönheit und Einzigartigkeit des Konzeptes für die EKO-Wohnstadt erschließen mag, sollte vielleicht wirklich die angebotene Führung zur Sensibilisierung nutzen.
Treffpunkt ist Samstag 14 Uhr vor der Touristeninformation in der Lindenallee Nr. 2.
Einige weitere Angaben gibt es bei der Märkischen Oderzeitung: Rundgänge durch die Stadt
Etwas überraschend für die dort mehr oder weniger regelmäßig Malenden wurde die vielleicht einzige wirklich nutzbare Hall of Fame der Stadt aus Stahl, Werk und Beton Opfer des Rückbaus. Nun bleibt eigentlich nur noch die früher freie, mittlerweile eher duldungslegale Rückwand unter der Eisenbahnbrücke Richtung Fürstenberg, die aber in ihren Kapazitäten die weggefallenen Flächen wohl nicht ersetzen können wird. Ich bin ein bisschen wehmütig angesichts der eingefallenen Betonleinwand, auf der in den Jahren dutzende ausgezeichnete Erinnerungen Platz fanden. Entsprechend hier ein kleiner Nachruf.
["" vollständig lesen »]Unsere Stadt - ein Gedicht
Mit unserem Kollegen vom Nachbarblog teile ich so manche Leidenschaft nicht. Andere Passionen jedoch sind uns gemeinsam, so z.B. die Liebe zur Lyrik, speziell natürlich zu Dichtung mit Eisenhüttenstadt-bezug. Und nachdem ich heute schon kräftig mit langen Herumgetexte um das ewig selbe Thema vom Leder gezogen habe, möchte ich den Tag mit ein paar Zeilen, die ich in einem Heftchen namens "Sehen lernte ich in diesem Land" entdecken durfte, etwas versöhnlicher beschließen, wobei der Titel natürlich optimal zu unserem eine "alternative Stadtwahrnehmung" proklamierenden Weblog passt. Veröffentlicht wurde die "Anthologie des Zirkels schreibender Arbeiter im EKO und des Kreisklubs schreibender Schüler im Haus der Jungen Pioniere Eisenhüttenstadts" im Jahre 1977, also 27 Jahre nach Stadtgründung. Wohl nicht aus diesem Anlass, aber durchaus vor diesem Hintergrund sind die folgenden Zeilen entstanden (in der genannten Broschüre auf Seite 12 findbar):
Sylvia Sallani
Unsere Stadt
Ich gehe
durch meine Stadt
Sehe
Häuser
so jung wie ich
und unser WerkGesichter
erzählend
von der Glut der Öfen
und dem Lachen der Kinder
Pulsierendes Leben
eiligen Einkauf
abendliches Schlendern
Treffen der Verliebten.
Den ersten Teil des Textes kann man getrost auch heute noch uneingeschränkt nach Vorlage zitieren, wenn man denn Mitte 50 ist, denn (noch) sieht man Häuser und einige von denen, die so alt sind, wie die Stadt es ist, stehen tatsächlich noch im Abrissgebiet Wohnkomplex I. Dabei sind die Fensterhöhlen in etwa so leer wie die Augen derjenigen Vertreter dieser Generation, die sich nicht selten gleich ums Eck am Obelisken der Deutsch-Sowjetischen-Freundschaft den Inhalt ihrer Taschenfläschen "Reichs-Post Bitter" o.ä. in die individuellen Stoffwechselprozesse einführen. Entsprechend hat man auch dort "abendliches Schlendern", "eilig" zum "Einkauf" stürzt man allerdings nicht mehr unbedingt. Auch die Schlagfrequenz des "pulsierenden Lebens" zeigt sich momentan etwas moderater. Und bei "Treffen der Verliebten" denken wir natürlich sofort an Ivo Lotion und Peggy "fast ein Katarina Witt Verschnitt" Schmidt oder - falls vorhanden - an Erlebnisse unserer eigenen Jugendjahre.
Lachende Kinder habe ich übrigens - ich weiß, ich kann es nicht lassen - das letzte Mal (ich hoffe nicht, zum letzten Mal) im schließungsbedrohten Heimattiergarten gesehen.
Sollten irgendwann die Entvölkerungsentwicklung nur noch die Relikte der Eisenhüttenstädter Bronzezeit übrig lassen, wird man jedenfalls nicht mehr allzu zahlreiche Spuren des Lachens entdecken, zumindest wenn man auf Herbert Burschiks allein stehende Mutter mit Kind auf der Insel stößt. Als hätte die gute Figur gewusst, wohin der Zug der Zeit abgefahren sein wird....
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