Mit unserem Kollegen vom Nachbarblog teile ich so manche Leidenschaft nicht. Andere Passionen jedoch sind uns gemeinsam, so z.B. die Liebe zur Lyrik, speziell natürlich zu Dichtung mit Eisenhüttenstadt-bezug. Und nachdem ich heute schon kräftig mit langen Herumgetexte um das ewig selbe Thema vom Leder gezogen habe, möchte ich den Tag mit ein paar Zeilen, die ich in einem Heftchen namens "Sehen lernte ich in diesem Land" entdecken durfte, etwas versöhnlicher beschließen, wobei der Titel natürlich optimal zu unserem eine "alternative Stadtwahrnehmung" proklamierenden Weblog passt. Veröffentlicht wurde die "Anthologie des Zirkels schreibender Arbeiter im EKO und des Kreisklubs schreibender Schüler im Haus der Jungen Pioniere Eisenhüttenstadts" im Jahre 1977, also 27 Jahre nach Stadtgründung. Wohl nicht aus diesem Anlass, aber durchaus vor diesem Hintergrund sind die folgenden Zeilen entstanden (in der genannten Broschüre auf Seite 12 findbar):
Sylvia Sallani
Unsere Stadt
Ich gehe
durch meine Stadt
Sehe
Häuser
so jung wie ich
und unser WerkGesichter
erzählend
von der Glut der Öfen
und dem Lachen der Kinder
Pulsierendes Leben
eiligen Einkauf
abendliches Schlendern
Treffen der Verliebten.
Den ersten Teil des Textes kann man getrost auch heute noch uneingeschränkt nach Vorlage zitieren, wenn man denn Mitte 50 ist, denn (noch) sieht man Häuser und einige von denen, die so alt sind, wie die Stadt es ist, stehen tatsächlich noch im Abrissgebiet Wohnkomplex I. Dabei sind die Fensterhöhlen in etwa so leer wie die Augen derjenigen Vertreter dieser Generation, die sich nicht selten gleich ums Eck am Obelisken der Deutsch-Sowjetischen-Freundschaft den Inhalt ihrer Taschenfläschen "Reichs-Post Bitter" o.ä. in die individuellen Stoffwechselprozesse einführen. Entsprechend hat man auch dort "abendliches Schlendern", "eilig" zum "Einkauf" stürzt man allerdings nicht mehr unbedingt. Auch die Schlagfrequenz des "pulsierenden Lebens" zeigt sich momentan etwas moderater. Und bei "Treffen der Verliebten" denken wir natürlich sofort an Ivo Lotion und Peggy "fast ein Katarina Witt Verschnitt" Schmidt oder - falls vorhanden - an Erlebnisse unserer eigenen Jugendjahre.
Lachende Kinder habe ich übrigens - ich weiß, ich kann es nicht lassen - das letzte Mal (ich hoffe nicht, zum letzten Mal) im schließungsbedrohten Heimattiergarten gesehen.
Sollten irgendwann die Entvölkerungsentwicklung nur noch die Relikte der Eisenhüttenstädter Bronzezeit übrig lassen, wird man jedenfalls nicht mehr allzu zahlreiche Spuren des Lachens entdecken, zumindest wenn man auf Herbert Burschiks allein stehende Mutter mit Kind auf der Insel stößt. Als hätte die gute Figur gewusst, wohin der Zug der Zeit abgefahren sein wird....