Angefangen hat es, wenn ich mich recht entsinne, wie so oft bei derartigen ganz privaten Entdeckungen ungewöhnlicher Art, mit einem Zufallsfund; irgendwo, auf einem Flohmarkt wird es gewesen sein, fand ich unzählige Postkarten mit den üblichen reiseverkehrt werbewirksamen Ansichten des alten Königsberg, dem heutigem Kaliningrad, und auf vielen Karten war der Hafen von Königsberg abgebildet, mit seinen Speichergebäuden, Kränen und vielen Lastkähnen, in denen vor allem Schüttgut transportiert wurde.
Diesen Anblick aber kannte ich aus meiner Heimatstadt Eisenhüttenstadt, und zwar von sonntäglichen Spaziergängen mit meinem Vater, die mir eigentlich nie bewußt als irgendwie außergewöhnlich aufgefallen waren, mit denen sich aber mein Unbewußtes um so heftiger beschäftigt haben muß, denn ich träumte von diesen Spaziergängen viele Male in den über dreißig Jahren, die seitdem vergangen sind.
Es waren eigentlich keine Spaziergänge, sondern Rituale, die mir jetzt nachträglich auch ein bißchen zwanghaft vorkommen. Das ging schon damit los, daß mein Vater mich fast jeden Sonntag dorthin führte, obwohl sich von unserem damaligem Wohnhaus aus mindestens ebenso ansehnliche Stücken Natur viel schneller hätten zu Fuß erreichen lassen.
Wir gingen fast immer denselben Weg entlang. An der Grenze von einem der ältesten und dem damals zumindest schon im Bau befindlichem neuestem Wohnkomplex verließen wir die Brücke über den Oder-Spree-Kanal bereits an ihrem stadteinwärts gelegenem Ansatz und liefen zu eben diesem Kanal hinunter, dem wir dann etliche Kilometer folgten, meist bis zur Zwillingsschachtschleuse, und dort bot sich dann dieses Bild, das ich später auf den Postkarten von Königsberg fand, dort war der Hafen von Eisenhüttenstadt, mit seinen Speichergebäuden, Kränen und vielen Lastkähnen, in denen vor allem Schüttgut transportiert wurde.
Wahrscheinlich würde mein Vater es leugnen, dorthin "gezogen" worden zu sein von seinem Unbewußtem. Inzwischen weiß ich, daß es eine typische Eigenschaft von Angehörigen seiner Generation ist, über ihre Erlebnisse nicht oder nur in Ansätzen sprechen zu können, und dass das makaberer Weise sowohl auf Täter und Opfer als auch auf diejenigen zutrifft, "die einfach nur da wohnten", wie der Lyriker Heinz Kahlau grandios formuliert hat.
Auch mein Vater blieb bei seinen Erzählungen aus der Zeit, da er so alt gewesen war wie ich, als wir diese seltsam zeremoniellen Spaziergänge unternahmen, immer bei Andeutungen. Ich entsinne mich genau, daß er oft ungehalten wurde, wenn ich in ihn drang und mehr und Konkreteres zu erfahren wünschte über das, was ihm da widerfahren war. Auch oder gerade an dieser Stelle unserer Gespräche führte er diese überaus typische Geste aus: er winkte derart schlaff und müde mit der Hand ab, als wäre es ihm, ging es um dieses Thema, mittlerweile bereits sogar zuviel Energieaufwand, das Thema gewissermaßen wegzuwischen, indem er auch nur die Hand derart resigniert aus dem Gelenk ab kippen ließ.
Ich wußte immer sofort genau, daß es nach diesem Abwinken völlig unsinnig gewesen wäre, ihn weiter mit neugierigen Fragen zu bedrängen, es würde nichts mehr kommen; ja, mit dieser Geste schien mein Vater ausdrücken zu wollen, daß es ohnehin völlig unmöglich wäre, wirklich darüber zu sprechen, was er da in stereotyp schnappschußartigen Andeutungen in den Raum zwischen ihm und mir stellte, der dadurch riesige Ausmaße anzunehmen schien, und manchmal scheint mir, aus diesem von ihm übernommenem Unvermögen heraus, das wirklich Wichtige und Bewegende auszudrücken, habe ich mit meinen schreiberischen Mühen begonnen.
Es waren wenige Episoden, die mein Vater immer wieder wie Fetzen eines zerrissenen Bildes hinwarf. Immer wieder erzählte er, an dem Haus seiner Eltern oder Großeltern in Königsberg wäre dicht unter dem Dach eine rundum laufende Stange angebracht gewesen, auf der ein starker Ring befestigt war, an dem eine Kette hing, und an dieser Kette nun hätte ein Halbwolf das Haus umkreist, der nur seine Mutter und ihn wirklich an sich heran gelassen hätte, und damit wäre das Haus natürlich hervorragend bewacht gewesen. Mein Vater schien sehr stolz zu sein auf die Auszeichnung, die für ihn in der Bevorzugung durch dieses wilde Wachtier steckte.
Dies nun war ja nicht mehr als eine "gewöhnliche" Kindheitserinnerung. Aber es folgte dieser Kurzerzählung dann häufig die Andeutung der Episode, wie mein Vater als Sechs- oder Siebenjähriger mitten in der Nacht aufgewacht wäre, weil die Fensterscheibe seines Zimmers in unzähligen Splittern auf seiner Bettdecke gelegen hätte, nachdem unweit seines Elternhauses eine große Fliegerbombe detoniert wäre.
Ich habe schon unzählige Male mit nur mäßigem Erfolg versucht, mir vorzustellen, wie das gewesen sein mag: in der Erwartung, eingeschult zu werden, in Bombenhagel und Feuersturm zu geraten, gehetzt und gezerrt von Erwachsenen, die, statt Stütze und Zuflucht zu sein, selbst nicht mehr ein noch aus wußten; wenn ich mich recht entsinne, hat die Familie meines Vaters in dieser Nacht endgültig ihr längst auf alle dafür noch verwertbaren Fahrzeuge gepacktes Hab und Gut genommen und ist aus Königsberg geflüchtet, ich bin mir aber dessen nicht sicher.
Über die eigentliche Flucht verlor mein Vater kaum ein Wort. Er "erwähnte" nur, daß er dabei den Kontakt zu allen seinen Angehörigen verloren hätte und dann als Waise bei Oma H. aufgewachsen wäre, die ich inzwischen auch kannte, bei der es sich aber eigentlich um seine Stieftante handelte. Weitere Andeutungen seiner Erlebnisse schienen darauf hinzudeuten, daß er wohl längere Zeit auch als "Kompaniekind" mit einer Einheit der Roten Armee mitgezogen wäre.
Einige Jahre vor der Wende nun war eine der wenigen mit meinen Eltern befreundeten Familien aus Eisenhüttenstadt offiziell in die BRD ausgereist. Mehr aus einer Art Laune des Augenblicks heraus hatten sie sich nach BRD-Bürgern mit dem Familiennamen meines Vaters erkundigt und zu ihrer eigenen Überraschung relativ schnell heraus gefunden, daß die verloren geglaubten leiblichen Verwandten meines Vaters alle in der BRD gelebt hatten und noch lebten, erst wenige Jahre vor diesen Erkundigungen wäre wohl mein Großvater gestorben.
Mein Vater erfuhr erst nach der Wende, daß er sich über vierzig Jahre lang irrtümlich für eine Waise gehalten hatte. Inzwischen schien er in dieser Hinsicht so abgestumpft, daß er davon erzählte, als hätte er etwa mitteilen wollen, seine ehemalige erste Schule wäre für einen Neubau abgerissen worden.
Es gibt mehrere plausible Erklärungen für diesen tragischen Irrtum. So war mein Vater Berufssoldat der Volkspolizei, was er vehement abstreitet, er reagierte wütend, als ich in einem Lebenslauf diese 26 Jahre erwähnte, die er einfach „auszustreichen“ versucht, und fast ebenso lange war er Mitglied der SED; es wäre denkbar, daß eventuelle Nachforschungen seiner Verwandten gar nicht über die Grenze kamen.
Mein Vater "erzählte" aber dennoch von seinen Erlebnissen, immer wieder und höchst eindrucksvoll und nachhaltig, und deshalb erzähle ich davon, aber er erzählte nicht mit Worten…
Mein Leben mit meiner Familie in Eisenhüttenstadt pflege ich heute mit dem Wort "Ghetto-Prinzip" charakterisieren zu wollen. Dabei waren es eigentlich mehrere Ghettos, in denen ich lebte, die mich gewissermaßen in Ringform einmauerten. Da war zuerst die DDR als, nicht zuletzt eben durch tatsächliche Mauern, abgeschottetes Staatsgebilde. Dann war Eisenhüttenstadt nicht nur einfach eine Stadt, sondern wiederum eine spezielle Lebenswelt innerhalb der DDR. Sie hieß offiziell "die erste sozialistische Stadt" und in gewissem Ausmaß war diese Bezeichnung eben mehr als nur eine der üblichen parteipoetischen Parolen; in den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens war zum Beispiel die relativ umsichtige und menschenfreundliche Stadtplanung tatsächlich umgesetzt worden.
Später kam dann noch "das dritte Ghetto" hinzu. Den größten Teil meines Lebens im Elternhaus verbrachte ich in einem Hausaufgang, in dem nur Berufssoldaten lebten. Selbst bei den wenigen Gelegenheiten, da ich "aus der Spur heraus kam", bewegte ich mich in einem genau umgrenztem Personenkreis; fuhr ich beispielsweise ins Ferienlager, waren dort meist auch nur Kinder von Berufssoldaten, die ich häufig schon kannte, und oft wurden wir sogar mit Militär-LKWs dorthin gefahren, deren Kraftfahrer ich gleichfalls oft kannte.
Bereits zu der Zeit aber, als mein Vater diese Spaziergänge mit mir unternahm, war vielleicht gar, wie mir heute scheint, unser ganzes Leben in Ritualen erstarrt, die der Abwehr aller mit Krieg, Vertreibung, Flucht und Heimatverlust verbundenen Empfindungen diente. Diese Einmauerung im wörtlichem und im übertragenem Sinne bot jene Sicherheit im gleichfalls mehrfachem Sinne, die dann in den letzten Jahren der DDR zu dieser Friedhofsruhe führte, zu dem Empfinden, man würde sich im Alltag wie durch eine geleeartige Masse bewegen.
Für mich war dieses Empfinden von allem Anfang etwas ganz Normales. Ich erlebte es nur in noch zugespitzter Form. Da meine Mutter Hausfrau war, war ich ein "Hauskind", d.h., ich besuchte weder Kinderkrippe noch Kindergarten. Zudem war ich sehr häufig bettlägerig krank, und da auch die Kontakte meiner Eltern und insbesondere meiner Mutter sehr dürftig waren, wurde ich in meiner Vorschulzeit auf die Weltwahrnehmung eines Klosterbruders oder Gefängnisinsassen konditioniert.
Mein Vater war dementsprechend in noch weitaus stärkerem Maße, als das in dieser Phase kindlicher Entwicklung durchaus typisch und angemessen ist, der Gott in meinem kleinem Kinderhimmel. Dies um so mehr, als meine Mutter zwar körperlich anwesend, aber emotional nicht präsent war. Jahrelang saß ich fast an jedem Vormittag in einem der großen Wohnzimmersessel und schaukelte mich wie ein orthodoxer Jude beim Talmudstudium stundenlang nach den Schlagerklängen aus den riesigem altem Röhrenradio in eine Art Trancezustand hinein.
Ich entsinne mich an einen exemplarischen Traum aus jener Zeit. Ich träumte, ich käme in die Küche unserer Wohnung, und hinter der Küchentür stünde ein Terrarium, und in diesem Terrarium stünde mein Vater. Er war nur etwa einen Meter groß, aber das war es nicht, was mich erschreckte. Panisches Entsetzen löste vielmehr die Tatsache aus, daß er in gleichmäßigen kurzen Abständen unter den düster drohenden Klängen sinfonischer Musik immer kleiner wurde. Schließlich, mit dem letztem dieser ru