Wer sich an einem nieselgrauen Oktobertag in dem Teil Eisenhüttenstadts verliert (ja verliert und nicht etwa verirrt, den zum Verirren bietet das weite Feld keine Anhaltspunkte) auf dem sich vor einigen Jahren die Plattenbauten des so genannten Siebenten Wohnkomplexes (umgangsprachlich: des Siemtn) kreuz- und quer stellten, möchte zunächst kaum glauben, dass er sich nicht gerade in der titelverdächtigen Szenerie eines Look-Alike-Pripjat-Wettbewerbs aufhält.
Beim zweiten Blick löst sich der Vergleich aber als hinkende Phantasmagorie im Nebel auf: Denn in der mittlerweile ukrainischen Wohnstadt zum berühmtesten Kernkraftwerk der bisherigen Weltgeschichte fehlen zwar genauso die Menschen auf der Flur (ein paar internationale Fotografie-Touristen ausgenommen, die gibt es in beiden Verlassenheiten), aber die Wohnblöcke stehen noch. Dafür muss man in Eisenhüttenstadt nicht ständig das Dosimeter im Auge behalten...
Die Gemeinsamkeit der beiden Areale, sofern sich davon sprechen lässt, liegt woanders: Es ist die ungehemmt heraufflorende Fauna, die sich aufgegebene Planstadtquartiere unterwirft. Die nun, da es losherbstet, zwar so langsam ihre Stillzeit beginnt, in ihrer Vielfalt jedoch zu jeder Jahreszeit aufzeigt, wohin die Reise geht.
Wer sich also als Kontrastmittel zum WK VII Emanuel Lichas Frontbericht zu Pripjat aus dem Projekt „War Tourist“ anschaut, ahnt vielleicht voraus, wie sich die Vegetation in den nächsten 25 Jahren perspektivisch den Stadtraum auch auf diesem Eisenhüttenstädter Areal zurückerobern könnte. Wenn man sie denn lässt. Lichte, später dichtere Wäldchen und dornige Hecken werden sich ausbreiten und aneinander aufranken, Moose die Betonplatten der Straßen aufbrechen, auf denen sich schließlich Heideteppiche entrollen. Schillernde Schmetterlinge und eilige Eidechsen werden eine kleine Naturherrlichkeit beziehen, später strömen Igel, Waschbären, Füchse und Rotwild dazu und ein neutraler Betrachter könnte sich in ein henri-rousseausches Waldidyll gestürzt wähnen.
Es ist fast ein wenig bedauerlich, dass der Stadtumbau nach der konsequenten Entvölkerung fast alles Bauliche aus der Handvoll Hektar östlich der Bahntrasse entfernte, denn sonst hätte sich die Überwucherung eines einst städtischen Viertels zu einer post-urbanen Alan-Weismann-Parklandschaft noch weitaus mannigfaltiger vollziehen können - mit Birken in den Wohnstuben, Bienenvölkern unter den Dächern und wildem Wein an den Fassaden. Was bleibt vom Beton, sind vorerst die Wege und die Laternen.
Gerade die Stadtbeleuchtungsmittel, diese einsamen Höhenmarken als Referenzen an die kurze Epoche der Gemarkung als Wohnviertel, stellen die zeitstabileren Ankerpunkte, an denen man nach wie vor ansetzen kann, wenn man rekonstruieren mag, wie die Blöcke standen. So werfen sie schweigend ihre Lichtkegel in die Erinnerungsschneisen. Und da heute dort zwei Filme zu diesen Motiven verschossen wurden, breche ich zwar nicht konsequent mit dem Futur II des Julis, beginne aber eine kleine fotografische Dokumentation dieser wundersam verlassenen Objekte. (So ganz Eisenhüttenstadt kann ein Mensch wohl doch nicht leben.) Die Sprache stiehlt sich dabei, abgesehen von dieser Vorrede, passend zum Thema so weit es geht davon. Es gilt das gesehene Bild.