Es wird gewesen sein. - wie schön sagt sich das, denn es liegt Sicherheit darin. Genau genommen handelt es sich um die einzige uns verfügbare ontologische Gewissheit. Die ist obendrein doppelgesichtig. Denn wie mit ihr unsere Existenz aus einer naturgemäß nicht persönlich vollziehbaren Retrospektive heraus als unwiderruflich bestätigt wird, so birgt sie zugleich eine Abgeschlossenheit, die nicht jedem behagt und die ganze Kiste, die wir so während der Jahre als „ich“ ein- und auspacken, vor die Sinnfrage stellt. Vergänglichkeit wohin man denkt. Das Leben ist ein Vanitasten im Nebel und wohl dem, der durch einen Eliasson-bunten tappt.
Was für den Einzelmenschen, für Beschäftigungsverhältnisse und für Liliana und Lothar gilt, behält auch für Stadträume seine Relevanz: Was wäre besser: Nicht gewesen zu sein oder (gewesen) zu sein und dabei permanent im Dialog mit der Tatsache zu stehen, dass alles ein Ende hat, manches vielleicht auch zwei und keines so richtig happy ist? Im besten Fall trifft es einen nicht allzu würdelos (also z.B. ohne Paparazzi-Snapshots auf einer Mittelmeeryacht).
Wenn sich Vergänglichkeit augenfällig in einem Stadtraum ausdrückt, dann in dem Eisenhüttenstadts. Und wenn sich Abschließlichkeit in einem Blograum ausdrückt, dann in der Eisenhüttenstädter Blogosphäre.
Andi Leser drehte Ende April seinen goldenen Schlüssel zur Stadt und hing ein „Für immer geschlossen!“ ins Fenster seines Logbuchs. Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass sich jemals Klebebuchstaben zu einem „Neue Bewirtschaftung“ auf diesem plusquamperfekten Aushängeschild poetischer Stadtbetrachtung zusammenfinden werden.
Nun knarzt und rattert heute im Eisenhüttenstadt-Blog (mit einem winzigen unentschiedenen „Bis auf Weiteres!“ als Möglichkeitsanker) ein ähnliches Schließgeräusch. Es ist (vorerst) Zeit dafür und dies hat seinen Gründe.
"Etwas muß bleiben" ist der Titel eines schönen Bändchens mit Gedichten Ted Hughes' – schrieb ich, wie mir Google sagt, im Oktober 2006 und gerade wollte ich diesen Satz als Endpunkt für das gesamte "Erinnerung, sprich" des Blogs genauso ansetzen.
Das irritiert mich ein wenig. Habe ich in den letzten vier Jahren tatsächlich nur Ted Hughes gelesen, so dass ich immer und mit allem diese Titelzeile verbinde? Warum springt mich nicht Oswald Egger und sein "...etwas weicht zurück, einräumend, einem anderen" an? Oder "jetzt lege ich mich schlafen/weil ich schläfrig bin und tu als ob ich schliefe/bis ich eingeschlafen bin" von Ernst Jandl?
Poetische Illustrationen zu einem Abschied zu finden ist beinahe die einfachste Übung überhaupt. Aber vielleicht ist die karge Aussage "Etwas muß bleiben." so außergewöhnlich auf den Punkt reduziert, dass sie in solchen Momenten immer passt. Sie verpflichtet und tröstet gleichzeitig und erhält die Bedeutung der Sache. Es vergeht nicht einfach. Es war nicht unerheblich. Ob man will oder nicht: Eine Existenz, auch wenn sie vergangen ist, wird bezeugt werden.
Google bestätigt mir, in dem es Zeilen wie diese aus dem Textkorpus des Blogs herausschält und hoch in die Ergebnislisten hängt, dass tatsächlich etwas bleibt. Dass sich etwas etwas von den Bildern und Schlüssen, die hier zur Sprache gezwungen wurden, im Web (und ein wenig im Gegensatz zu meinem Gedächtnis, welches sich mit der Syntaktik etwas schwerer tut) als präzise zum Ziel führende (digitale) Spur erhält. Nach dem Ende von Google wird man sagen können: Etwas wird geblieben sein, von dieser Sammlung aus vier Jahren Stadt erfahren, Stadt ergehen, Stadt erlesen und Stadt beschreiben. Und wenn es nur eine Facebook-Fanpage ist.
Hans Hofmann, abstrakter Expressionist und damit mit der Farbe nah an dem, was manch einem das Schreiben ist, formulierte einmal: "Wenn man auf ein Stück Papier eine Linie zeichnet, erschafft man eine Welt."
Es war hier ähnlich: Wenn man ein paar Worte aneinander reiht, ins Web stellt, gefunden wie gelesen wird und später von echten Menschen wegen des Blogs realweltlich Besuch erhält, dann entsteht etwas, was es zuvor nicht gab. Es mag im großen Panorama klein und nebensächlich erscheinen, aber es existiert und es wirkt. Der Eisenhüttenstadt-Blog war für die Beteiligten die erlebte Lektion zu dieser zugegeben etwas allgemeinplätzlichen Einsicht. Und wenn wir es zu vergessen drohen, erinnert uns Google. Oder Facebook. Oder eine E-Mail aus Amerika. Oder ein Kommentar aus Guben.
Es ist in der Tat die Spur, die zählt. Alles, was der Blog enthält, war/ist nur ein persönlich kolorierter Hinweis auf ein unerreichbares Geschehen aus einem bestimmten Zeitzusammenhang heraus. Nie Abbild. Denn natürlich existiert hier in der Digitalität nichts außerhalb des Textes wirklich, alles bleibt Andeutung, nur Versuch einer Wiedergabe. Die eigentliche Gabe, das eigentlich Bedeutete, das wirklich Wirkliche ließ und lässt sich, so chirurgisch man auch die Worte zu setzen glaubt, nur anskizzieren. Zu verschieden und schwimmend sind die in Ausdruck fixierten Perspektiven. Zu grob ist die Erinnerung. So wird es immer bleiben. Schreiben, wie fein es auch sein mag, ist immer ein Schreiben mit einer Malerrolle. Jeder, der zu schreiben versucht, kennt das: Die Worte prägen die Welt stärker, als die Welt die Worte. Das ist allgemeines Wittgensteingut.
Der Blog war nicht gerade die Lein- sondern vielmehr eine Betonwand, die von vorn bezeichnet wurde und durch die von hinten der Fortgang der Dinge nach und nach seine Baggerschaufel trieb. Es war ein andauerndes Konturieren der Brüche, des Abgeplatzten, ein Abpausen vor allem von Kindheitsmustern, ein Malen nach Fakten auf den Erinnerungstexturen im jeweils gegenwärtigen Raum.
Zweifellos ist der Bestand an Diagonalen, Verstrebungen und Anbindungen von Mensch, Biografie und Stadtraum nach wie vor unüberschaubar. Jede neue Begegnung, jede Rückkehr, jede Erinnerung ergänzt dieses innere, zu Lebzeiten wenigstens unabschließbare Archiv weiter. Aber das bedeutet nicht, dass man sich in gleicher Form berührt zeigt.
Fährt man heute in die Stadt, scheint es manchmal, wie eine Begegnung nach langer Zeit mit einem Mädchen, von dem man einmal hingerissen und ziemlich betört war, das eine Weile Jugend lang die Gedanken mancher Nacht und die Träume manches Tages beherrschte und mit dem man gerade aus dieser wild pochenden Unbedingtheit heraus nie zusammen finden und in irgendeine Beziehung, die nicht geradewegs in ein Scheitern hineinlaufen musste, eintreten konnte. Man schrieb unendliche tiefe und lange Briefe, man führte einen idealen Dialog mit diesem Mädchen – allerdings schrieb sie so gut wie nie und wenn nur kurz und knapp zurück und der Dialog gelang nur dann, wenn sie nicht zu sprechen war, er also ohne Vollzug blieb. Sobald man sich gegenüber stand, fehlte das richtige Wort.
Es ist wie eine dieser überraschenden Begegnung Jahre später auf einem Fernbahnsteig oder an einer Supermarktkasse und der gegenseitige Blick in die Gesichter, in die sich die ganze Vielfalt der Ereignisse eines kleinen, normalen Lebens, der Stabilisationen und der Verwüstungen eingezeichnet hat. Zumeist stellt man fest, dass alles vor dem Hintergrund der damaligen Leidenschaft seltsam ausdruckslos scheint, dass aus der Träumerei eine ganz normale, eher fremde erwachsene Frau geworden ist, die etwas in und um sich hat, was man ihr vermutlich nie hätte ermöglichen können und wollen. Man spürt fast schmerzhaft, wie fremd man sich nun ist, trotz der zwei, drei vertrauten Fädchen und wie man sich nichts zu sagen hat, nichts miteinander teilt, außer die Erinnerung an drei, vier Bissigkeiten einer emotionalen Erregung.
Man geht freundlich auseinander, „re-befreundet“ sich für alle Fälle bei Facebook und schüttet gegebenenfalls dadurch ein Gießkännchen Löschwasser über das Glimmen einer Sehnsucht, das sich als Nachhall zweier Briefe ein Jahrzehnt lang aus einer kuriosen Überlegung namens „Was wäre eigentlich gewesen, wenn..“ nährte. Alles wäre möglich (gewesen). Heute jedoch nicht (mehr).
Es war, wie es war (wird gewesen sein, wie es ist) und kein starker Arm, so sehr er es auch will und geworden sein mag, bremst dieses Räderwerk. Ein mächtiges Herz könnte vielleicht eingreifen, aber das schlägt anderweitig ausgesprochen fröhlich und entdeckt schlicht keinen Anlass mehr.
Es beruhigt, den Abschied von etwas einstmals sehr Bewegendem zuzulassen. Es verbreitert eine Weile den Zugang zum Gegenwärtigsein, reicht einem einen großen Korb für Neues zum Sammeln, das sich, wenn der Korb gefüllt genug gewesen sein wird, in irgendeiner Form wieder mit Hingabe rückblickend abarbeiten lässt.
Eisenhüttenstadt und damit der Blog sind mir, so simpel kann man es stricken, dieser Tage so wenig gegenwärtig wie z.B. dieses eine, eigentlich immer fremde Mädchen, an das ich gestern beim Vorbeispazieren am Handwerkerhof plötzlich denken musste, mit dem ich um 1997 an der trägen, spätsommerlichen (und nachhochwasserlichen) Oder saß, auf den Fluß sah und keine weitere Gemeinsamkeit zu entwickeln vermochte, außer vielleicht der Gewissheit schon im Aufbruch zur Tour, dass man sich bald nichts zu sagen gehabt werden wird. Später zuckten zum Bild sogar der Name und eine Ahnung Duft aus einem vergessenen Winkel der Erinnerung herauf. Nun ist es an den Fernbahnsteigen. Am Warten auf die Begegnung. Am Warten auf den Löschzug.