Die Erde wird rot, Genossen? Das war einmal und nur in Traum und Blut. Vielleicht wird es eines Tages wieder so, dann allerdings nicht durch politische Breitwandagitation, sondern vor Scham über alles Mögliche, was der Menschheit so gelingt. Anlässe finden sich zweifellos in Hülle und Fülle. Das Lied, aus dem die Zeile zitiert wurde, dagegen nur noch sehr sehr selten. Gestern allerdings lief es im Radio und als ich heute in der Berliner S-Bahn das "Wacht beständig!" auf der blauem Grund der Ansteckschilder zahlloser Zeugen Jehovas, die sich aktuell im Olympiastadion zum Weltkongress versammeln (mehr dazu im Tagesspiegel) und am Sonntag mehr zu der Frage hören: „Wie kann man das Ende der Welt überleben?“, musste ich eben zwangsläufig an an ein anderes großes Heilsversprechen des 20. Jahrhunderts denken: "wir sind dabei, wo es auch sei,/die Erde, Genossen, wird rot./Habt Acht!"
Der Mehr-Generationenkongress der Religionsgemeinschaft, bei dem sich alle denkbaren Altersklassen in den verkürzten Waggonreihen der S-Bahnlinie 7 mit anderen Religionsgruppen bis hin zum Marzahner Radikalatheisten gemeinschaftlich ans Schicksal des Bahn-Mismanagement gebunden geduldig aneinander schmiegen, zeigt recht deutlich, wie ein kulturelles Muster tapfer über die Jahrzehnte weitergetragen wird, auch wenn es an nicht wenigen Haustüren abperlt wie die Verkaufsangebote der Vorwerk-Vertreter. Ein bunterer Haufen Ähnlichgläubiger war das letzte Mal beim ökumenischen Kirchentag 2003 zwischen Olympiastadion und Ostkreuz unterwegs. Und davor bei der Love Parade. Und davor vielleicht bei den Weltfestspielen der Jugend, zu denen die zitierte Liedtextzeile gehört. Für Karin Schink aus Eisenhüttenstadt war das bunte Treiben 1973 jedenfalls ein "politisches Erweckungserlebnis". So berichtete gestern das Deutschlandradio in einer hervorragenden Sendung aus der Reihe Länderzeit über intergenerationale Erinnerungskultur in Eisenhüttenstadt, die sich an folgenden Leitfragen und vier Generationen orientiert:
"Was sind das für Dinge, an die sich die heutige Rentnergeneration der Stadt erinnert? Welche Bilder der Vergangenheit haben sie an ihre Kinder weitergegeben? Und wie erinneren sich deren Kinder, die Jugendlichen von heute, die das verschwundene Land nur noch aus den Geschichten ihrer Eltern und Großeltern kennen?"
Deutlich wird die Relativität der Erinnerung, die so vielfältig ist, wie es Menschen gibt die sich erinnern. Gerade deswegen bejaht die Sendung zum Ende hin die Frage: "Kann es, darf es also sein, dass sich jemand auch positiv an die DDR erinnert - trotz Stacheldraht und Stasi?" und spricht sich in Form einer Aussage der Göttinger Soziologin Gabriele Rosenthal durchaus für einen klassischen diskurskritischen Umgang mit der offiziell tradierten Geschichtsinterpretation in Relation zum persönlichen Erinnern aus:
"Da kommt natürlich noch hinzu, dass dieses Sprechen über die Vergangenheit stark bedingt ist durch die ungleiche Machtverteilung zwischen West und Ost, also dass sich Ostdeutsche gegenüber den Vorstellungen der Westdeutschen über die DDR abgrenzen müssen, es wäre eine interessante Überlegung, inwieweit das die Aufarbeitung der DDR-Geschichte auch extrem blockiert, weil man es ja auch mit Stereotypen und zu starken Verallgemeinerungen, Pauschalisierungen zu tun hat, also was im Westen geäußert wird, und dass das vielleicht eine zu starke Abwehr produziert, sich mit der DDR-Vergangenheit
auseinanderzusetzen, weil das machen ja die Anderen, die die Macht haben."
Die sehr hörenswerte Sendung gibt es hier als Stream und Text: Das Generationgedächtnis. Sind ostdeutsche Erinnerungen vererbbar?
"Da mischen wir mit und da stehen wir nicht fern/und da wo wir sind, geht es rund/Nicht nur bei der Arbeit, wir feiern auch gern/denn dazu besteht aller Grund."
Die Nashornskulptur gehörte für die Kinder der Stadt wie natürlich gewachsen in dieses nun aufgegebene Eckchen Eisenhüttenstadts. Die heutigen Kinder werden ein anderes Bild mit sich tragen müssen, denn das Nashorn ist umgezogen.
Es steht nun hinter der leeren Fröbelringpassage im neu- und umgestalteten Wohnumfeld zwischen zwei Hochhäusern und so wie es aussieht, wird es wohl sehr einsam sein. Bedenkt man, dass in beiden Hochhäusern zusammen vielleicht einhundert Wohnparteien zu finden sind, in ihnen also zwei- bis dreihundert Menschen wohnen, dann sind die drei hölzernen Drehstühle, die man in gesprächsunfreundlicher Entfernung zueinander dem Nashorn gegenüber setzte, eher ein Affront für die Nachbarschaft. Nutzen wird die Umgestaltung niemand. Auf eine Bank hat man, so die Vermutung eines Anwohners, verzichtet, weil man befürchtet, dass sich dort wieder lärmende Jugendgruppen (früher:Cliquen) sammeln. Nun kann sich da vielleicht ein Rentner, der vom Netto kommt und ohne Rollator unterwegs ist, kurz zum Verschnaufen nach dem Einkaufsgang niederlassen. Stadtgesellschaftlich ist die Anlage dagegen Humbug. Aber das Nashorn, das muss man zugegeben, kommt aktuell mit seinem neuen weißen Sockel gut zur Geltung.