Irgendwann im Jahre 1994 machte sich der Journalist Gerd Lobin für die Frankfurter Allgemeine Zeitung auf, die damals noch recht neuen "neuen Bundesländer" mit dem Zug zu erkunden. Der D-"Zug der Tränen" zwischen Frankfurt/Main und Frankfurt/Oder fuhr zu diesem Zeit schon nicht mehr. Aber dass Ost und West zu diesem Zeitpunkt zumindest infrastrukturell noch zwei Welten waren, zeigt schon der erste Satz der am 02. September in der Rubrik "Deutschland und die Welt" abgedruckten Kurzreportage:
Dienstag vormittag im Hauptbahnhof Frankfurt (Main). Um 10.18 Uhr rollt der ICE 898 "Diamant" aus der Halle, er wird um 13.43 Uhr, nach knapp dreieinhalb Stunden, in Bremen ankommen. Um 10.19 verläßt der Interregio 2153 den Bahnhof, er wird um 17.32 Uhr in Berlin-Lichtenberg, nur wenige Kilometer weiter als Bremen, erwartet.Über den Daumen gepeilt erweist sich der Weg gen Osten drei Stunden länger, als der nach Norden. Gerd Lobin hat es dennoch gewagt und legte in Eisenhüttenstadt einen Zwischenhalt ein - der "Zug der Tränen" übrigens einst auch. Hier ist nun der Eindruck des Bahnreisenden, wobei es dahingehend eine kleine Eintrübung gibt, dass mindestens ein Fakt garantiert nicht der historischen Wahrheit entspricht:
Dann Eisenhüttenstadt, ein Musterort der früheren DDR, "erste sozialistische Stadt", in den fünfziger Jahren schon auf dem Reißbrett geplant und etappenweise zwischen dem Oderstädtchen Fürstenberg und dem Dörfchen Schönfließ angelegt, bei dem schon vor 150 Jahren Braunkohle abgebaut wurde. Eine Stadt, die Wohnen mit Arbeiten verbindet, deren Hauptstraße, mit breiten Fußgängersteigen und Grünanlagen vor neuerdings hinzugekommenen Ladenzeilen angelegt, direkt zum Werk führt. Sie heißt jetzt Lindenallee (früher Ernst-Thälmann-Allee). Eine Stadt für 50000 Menschen in Wohnquartieren mit durchgrünten Innenhöfen und 12000 Arbeitsplätzen im Kombinat. 4000 sind derzeit noch im EKO beschäftigt, aber sachkundige Bürger berichten, daß zahlreiche Zulieferbetriebe aus dem Kombinat ausgegliedert wurden und wohl an die 2000 Arbeitsplätze hinzugerechnet werden müßten. Dennoch werden die Wolken, die Eisenhüttenstadts Zukunft verdüstern, mit Sorgen betrachtet.
Wie Wolfsburg in den dreißiger Jahren am Mittellandkanal wurde auch Eisenhüttenstadt (ursprünglich Stalin-Stadt) wegen der Wasserwege an seinem Standort angelegt. Die Oder sicherte eine Nord-Süd-Verbindung zu den oberschlesischen Steinkohlerevieren und der Ostsee, der Oder-Spree-Kanal schafft Anschluß an die westlichen Wasserwege nach Berlin und quer durch Brandenburg, Niedersachsen und Westfalen bis zum Ruhrgebiet. "Erz aus der Sowjetrepublik wird mit Steinkohle aus Polen in der DDR zu hochwertigem Stahl verarbeitet", lautete damals die Devise. Nur: Da es zur Fertigstellung des Warmwalzwerkes nicht mehr kam, muß der Stahl zur Zeit vor der Endverarbeitung zur "Behandlung" nach Salzgitter und zurück transportiert werden.
(Lobin, Gerd: Vom Interregio in den Eilzug, von der S-Bahn in den Triebwagen. Eisenbahn-Rundreise durch die östlichen Bundesländer / Heute und gestern. In: Frankfurter Allegemeine Zeitung, Freitag 02.09.1994, Nr. 204 S.10)