Etwas zurückgesetzt, beinahe versteckt, hinter den Laubenganghäusern von Ludmilla Herzenstein, die in erfrischender Weise mit frühem Scharoun'schen Ideengut die Monumentalität der restlichen Bebauung der Karl-Marx-Alle in Berlin Friedrichshain kontrastieren, findet sich an der Weberwiese der "weiße Schwan" aus dem Jahr 1951, also Hermann Henselmanns wunderbare Hochhaus, das eine Art Triggerbauwerk der Nationalen Bautradition, wie sie bald danach in der Stalinallee in voller Pracht entfaltet wurde und wie man sie auch in Eisenhüttenstadt, wenn auch etwas zurückhaltender umgesetzt findet, darstellt.
An seiner westlichen Seite wird der Neun-Geschosser von der Marchlewskistraße flankiert, in der einige sehr anschauenswerte Wohngebäude im gleichen Stil, in bester Ausführung und in frischem Putz stehen. Wenn man diese Richtung S-Bahnhof Warschauer Straße hinunter geht, kommt man recht bald zur Wedekindstraße, die besondere Berühmtheit als ein zentraler Schauplatz von Florian Henckel von Donnersmarcks Stasi-Märchen "Das Leben der Anderen" erlangte. Und tatsächlich ist die Abschnitt mit einer Wohnbebauung, die deutlich schlichter gehalten ist, als die Henselmann'sche Weberwiese, nach wie vor schön grau in grau gehalten: Es sind nicht mehr die Arbeiterpaläste, hier war man dann schon auf dem Rationalisierungskurs der nach 1955 das Wohnungsbaugeschehen der DDR dominieren sollte.
Dieser Weg durch die städtbauliche Tradition der DDR war gestern Nacht meine Wanderstrecke zur Premiere von Johanna Ickerts Dokumentarfilm "Hüttenstadt" (Besprechung folgt) und was dramatisch auffiel, war der Mangel an Passanten: Halb Neun am Abend war ich beinahe der Einzige, der sich in diesen Straßen bewegte und selbst die Zahl der vorbeifahrenden Autos blieb in dieser eigentlich innerstädtischen Lage der Millionenstadt Berlin im unteren einstelligen Bereich. Eine bessere Einstellung auf den Film, als der Gang durch diese an Eisenhüttenstädter Verhältnisse erinnernde Menschenleere der Straße konnte es gar nicht geben.
Und heute stieß ich dann wieder auf den vereinzelten Menschen inmitten eines sozialistischen Architekturensembles und zwar auf einer der schönsten Ansichtskarten, die mir bisher zur Stalinstadt unterkommen sind:
Wer ist der Mann im schwarzen Anzug mit Aktentasche und Einkaufsbeutel? Und was ist sein Ziel? Das Bräustübel? Die Berggaststätte "Huckel"? Seine Wohnung in der Heinrich-Heine-Allee oder in der Maxim-Gorki-Straße? Wir wissen es nicht und werden es nicht erfahren, obschon die Austattung mit dem Einkauf die letztere Variante zur wahrscheinlichen macht. Worüber man heute staunt, ist der sich eröffnende Durchblick bis in die Diehloer Höhen, der sich dem Heim-Flanierenden damals bot und das Fußläufigkeitsprinzip einer autoarmen Stadt. Und worüber man ebenfalls staunt, ist, dass am hellichten Tage insgesamt gerade einmal vier Menschen die Aufnahme bevölkern: der Mann im Anzug, eine Frau mit Besorgungen im linken Arm und zwei Männer, ebenfalls in Schwarz, die am Torbogen beim Bräustübel fast von der Laterne verdeckt stehen. Dann bleibt noch der geparkte Wartburg 311 in der Straße des Komsomol als Hinweis auf eine weitere Form der Mobilität.
Ansonsten ist die Ansicht fast erschreckend leer, obschon nicht zuletzt aufgrund der Fachwerkanklänge bei den Heimatstilbauten der Heine-Allee und besonders des geschwungenen Fußweges unter der Pergola hindurch hin auf eine Grünlage und sanften bewaldeten Hügellandschaft am Horizont nah an der Idylle. Denn friedlicher kann man sich eine Stadtlandschaft kaum vorstellen. Und dennoch irritiert das sich andeutende Geisterstadtartige, dass man heute an gleicher Stellen (und vielen anderen Stellen) Eisenhüttenstadts in ähnlicher Form wieder finden kann, nur dass die Bäume größer und die Häuser mitgenommener erscheinen.
Postalisch interessant an dieser Karte aus dem Jahr 1960, die (vermutlich) im Oktober 1962 von Eisenhüttenstadt in die Prenzlauer Allee ging, um von der Geburt des "kleinen Detlefs" zu künden, ist die vorgenommene Nachschwärzung der Bezeichung "Stalinstadt" und des Ergänzungsstempels "Eisenhüttenstadt":
Sonderlich spektakulär ist dies natürlich nicht und Schwärzungen z.B. auch von missliebigen Briefmarkenmotiven sind in der Postgeschichte kein Novum. Erstaunlich ist aber, mit welcher Sorgfalt versucht wurde, den alten Stadtnamen auszulöschen. (zur Umbennung der Stadt sh. auch hier) Dies wird umso deutlicher, als dass auch die Ortsherkunft des Fotografen Peukert, die auf dieser Karte mit Stalinstadt angegeben war, lila überstempelt wurde. Das lässt darauf schließen, dass man sich die Postsendung wenigstens unter diesem Gesichtspunkt sehr genau angesehen wurde.