Spricht man mit externen Beobachtern oder verbitterten Eisenhüttenstadtflüchtern über die kleine Stahlstadt an der Oder, so hört man nicht selten stereotype Absegnungen wie "kulturloses Proletenkaff" und sogar etwas Beleidigendes. Und lauscht man manchmal bestimmten, das Straßenbild dominierenden Vertretern der Einwohnerschaft bei ihrem Small Talk in Dumpfdeutsch: "Besser wird det nich, nur schlechter und die da oben nehm uns eh alles weg aber wat will man schon machen." (letzten Samstag, Lindenallee gegen 10:00 Uhr) und beobachtet dazugehörige Verhaltens- und nonverbale Artikulationsweisen dieses Menschenschlags in seinem Habitat, so ist man ab und an geneigt, dem zuzustimmen. Dies wäre aber völlig am Ziel vorbei, denn der Kulturbegriff in erweiterten Auslegung schließt alles ein, was der Mensch sich geschaffen hat und schafft, also alles was nicht naturgegeben ist. Dazu zählt auch diese "Natur des Menschen" und solche Zivilisationsgüter wie Arbeitslosigkeit, Arbeitsunwilligkeit und Arbeitssucht. Und selbstverständlich auch die in dieser Weltregion von Punk bis Jurastudent, von Maler bis Malermeister, von Low Income bis High Income frank und frei praktizierte Bierkultur. Diese kulturelle Fundierung des Seins gilt ohne Zweifel besonders für eine Stadt, in der sogar der Ansiedlungswillen primär rational-menschlicher Entscheidung und bestenfalls sekundär natürlicher Gegebenheit geschuldet ist.
Der engere Kulturbegriff bezeichnet ein bisschen zweckmäßiger menschliches Handeln mit dem Ziel der Erzeugung eines kollektiven Sinnzusammenhangs, wobei übergreifende Beispiele die katholische Kirche, der Sozialismus und die freie und soziale Marktwirtschaft sind. Und auch dussliges Gequassel in Bierlaune dient bekanntermaßen der Schaffung eines gemeinsamen Sinnzusammenhangs, genauso wie Intoleranz, Sportvereine oder die Clique am Eck oder im Blog. All das sind kulturelle Güter und ohne die kann der Mensch als soziales Wesen, das nach Bedeutung über das banale Existieren hinaus sterbt, nicht leben.
Was man an den beliebig hingetippten Beispielen gut sieht, ist, dass bei einer normativen Bewertung von kulturellen Errungenschaften, die einen als wünschenswert, die anderen als unerwünscht gelten. Und da man schon in spezifischen Bereichen über gewisse Erfahrungen aus der Vergangenheit verfügt, kann man in etwa abstrahieren, welche dieser Ausprägungen dem weitestgehend unbestrittenen Allgemeinziel "Am Leben sein und lange bleiben", und zwar auf möglichst hohem Niveau, d.h. mit möglichst hoher Sicherheit für Leib und Leben und dazu weitreichenden Möglichkeiten zur Befriedigung von Bedürfnissen wie Reproduktion, soziale Anerkennung bzw. Sinn an sich, eher dienlich sind und welche kräftig dagegenstreben.
Für einen gesellschaftlichen Organismus "Stadt", der grob gerastert aus den Einzelelementen Raum und Mensch besteht, wird die entsprechende Lebensqualität über das Phänomen Stadtkultur bedient (oder auch nicht). Unsere kleine Planstadt hat erfreulicherweise ein selten hohen Anteil an solchen stadtkulturellen Eigenschaften, die unschwer auf jedem Stadtplan erkennbar sind, allen voran die zentrale Erholungsanlage "Insel", die Grünflächengestaltung in den Wohnkomplexen I-IV, die unmittelbar anschließenden und z.B. im Falle des Rosenhügels an den Stadtraum direkt angebundenen vielfältigen Landschaftsformen drumherum usw. und andererseits die vielen kleinen Plastiken und architektonischen Variationen überall und nirgends etc. Unerfreulicherweise wissen die, die diesen Möglichkeitsraum vor sich haben, diesen häufig nicht nur kaum zu nutzen, sondern auch nicht so recht zu schätzen. Hier stößt man an ein grundsätzliches Problem, welches sich meiner Meinung nach dadurch ausdrückt, dass man seine Vergangenheit als ein Kernsymbol eines untergegangenen Sinnentwurfs möglichst tilgen möchte oder wenigstens versteckt hält. Da die Stadt aber nunmal bis auf ein paar unsinnige Einkaufszentren baulich und städteplanerisch ein Kind der DDR bleibt, kommt man in die schizophrene Situation, seine (Stadt)Identität permanent selbst verleugnen oder abwerten zu müssen und ein Dasein im entwurzelten Hier und Jetzt anzustreben. Das bedeutet, dass die Stadtkultur und ihr Potential weitgehend aufgegeben wird. Oberste Priorität haben "Arbeitsplätze" (wobei die, die solche besetzen, nicht selten z.B. in Geschäften vor dem Kunden über die "Maloche" klagen, als wären sie Sklaven eines unbarmherzigen und höchst grausamen Herren) und seien diese auch menschenunwürdig und auf Kurzzeiteffekt ausgelegt, wie die idiotische Ballung von Discountern (extra, Aldi, Lidl), die man sich an der Karl-Marx-Straße züchtet , beweist. Alternativ hängt man mit den Entwicklungsperspektiven noch im Gestern, nämlich in der Industriegesellschaft, die im (potentiell) Hochlohnland Deutschland nun wirklich nur in High-Tech-Bereichen Zukunft besitzen, welche allerdings schon längst ihre ostdeutschen Gründe besonders im Sächsischen abgesteckt haben und vermutlich auch in 50 Jahren kaum Bedarf sehen werden, sich wie weiland das Stalinstahlwerk auf Pfeiffers Acker niederzulassen.
Der Aspekt der Kulturwirtschaft dagegen spielt wenigstens in den von mir wahrgenommenen öffentlichen Äußerungen zu Stadtentwicklung so gut wie keine Rolle. Dass er hier unterschätzt wird, ist für uns jedoch nur eingeschränkt blamabel, denn den Aussagen des Raumplaners Klaus R. Kunzmann aus seinem Essay in einer aktuellen Ausgabe von "Aus Politik und Zeitgeschichte" zufolge, wird die Beziehung zwischen Kulturwirtschaft und Raumentwicklung in vielen deutschen Kommunen bisher kaum planmäßig realisiert.
Die meisten Städte und Regionen kennen ihre kulturwirtschaftlichen Potenziale nicht oder nur bruchstückhaft. (S.4)
Nach seinem Dafürhalten ist "Kultur" ein europaweit aufstrebender Standortfaktor mit mehreren Facetten. Drei entscheidende sind Identität, Image und Arbeit.
Die kulturellen Elemente eines Stadtraums "stiften die lokale und regionale Identität". In Eisenhüttenstadt ist es bislang fast ausschließlich das Stahlwerk und die damit verbundene Arbeiterkultur, das architektonische und stadtplanerische/stadtgestalterische Erbe wird dabei weitgehend übersehen. Es mangelt dabei auch - besonders nach Wegfall des wirklich sehr guten Heimatkalenders - an effektiven stadtidentitätsstiftenden Medien. Die lokalen Medien wie OSF, Moz, Oderland-Spiegel etc. sind kommerzielle Produkte, die dementsprechend umsatzgenerierend funktionieren müssen und daher dominant doch anderen Zwecken als der Förderung von Stadtkultur und -identität dienen. Dass ihnen diese Aufgabe trotzdem zukommt ist daraus zu begründen, dass ein anderes identitätsschaffendes Medium Desiderat bleibt. Zudem gilt die Stadt"ikonographie" z.T. als nicht mehr zeitgemäß, weswegen beispielsweise das schöne und aussagekräftige Stadtwappen von Johannes Hansky im öffentlichen Raum durch ein vergleichsweise aussagearmes "e"-Logo ersetzt wurde. Die Kulturland Brandenburg Führungen sind hier ein wichtiger, allerdings ausbaufähiger, Schritt in Richtung "Kulturmarketing". Dies sollte nach meiner Ansicht - auch alternativ zum fragwürdigen Marketinginstrument "Stadtfest" - sowohl in Richtung "Identität" wie auch in Richtung Außenwirkung ein bisschen innovativer und forcierter als bisher angegangen werden. Dazu benötigt man aber auch entsprechend gepflegte kulturelle Werte und Angebote. Denn, so Kunzmann: "Kultur prägt das Image".
Der Autor spricht an dieser Stelle von "Festivals", um Lücken zu schließen. Hier hätte man z.B. an das Stahl-Plenair von 2000 anknüpfen und jährlich eine ähnliche Freiluftgalerie fördern können. Ein Stadtfest mit Chris Norman aus Redcar, Yorkshire und Otto Waalkes aus Emden ist dagegen aalglatt kommerziell und profillos und passt genauso nach Hohenheim oder Zwickau. Allerdings, das gebe ich zu, eignen sich solche Namen sicher als "Lockvogelangebot", wie man es auch von Supermärkten kennt: Die Kunden kommen wegen eines günstigen Notebooks und kaufen gleich noch eine ganze Kiste anderen Kram mit. Ob dies auf dem Stadtfest 2006 auch so lief, kann ich mangels Abwesenheit leider nicht beurteilen. Wichtig ist beim Festival-Gedanken allerdings, dass Nachhaltigkeit und idealerweise ein kulturelles Milieu geschaffen wird. Da das ganze Spektakel aber zu großen Stücken von Berlin aus organisiert wird, scheint mir dies nicht gegeben. Diese Form von "Kultur" schafft demnach auf lokaler Ebene nur bedingt Arbeit. Dazu gehört mehr, nämlich:
Kulturelle Raumentwicklung braucht eine regionale Kulturpolitik mit Maß, die sich an den regionalen Traditionen und Potenzialen orientiert. Sie braucht vor allem auch Menschen, die aus kultureller Betätigung ihr Einkommen beziehen, weil andere Menschen in der Region bzw. Besucherinnen und Besucher, die dorthin kommen, bereit sind, dafür angemessene Preise zu bezahlen.
Gerade der Aspekt "angemessene Preise" steht hier in Widerspruch zu einer besonders (z.T. nicht grundlos) auch in Eisenhüttenstadt zutiefst verankerten "Geiz ist Geil"-Mentalität. Die öffentliche finanzielle Förderung von Kultur ist immer nur ein Teil - tragfähige Konzepte benötigen auch andere Einkommensquellen, letztlich auch durch Kulturkonsumenten.
Doch an richtungsweisenden Persönlichkeiten fehlt's im Revier/Man nimmt geputzte... (frei aus Faust)
Der Autor nennt in seinem Aufsatz 10 Handlungsfelder, die hier nicht umfassend dargestellt werden sollen (und hier nachgelesen werden sollten!). Nur einen Aspekt möchte ich hier besonders betonen, da ich hierfür in Eisenhüttenstadt viel Potential sehe: den des öffentlichen Raumes.
Jede Stadt braucht Räume, deren Nutzung durch kreative Menschen neu definiert werden kann.
Schon ohne den Abriss des VII. Wohnkomplexes existieren beispielsweise in der Beeskower Straße oder auch in den ehemaligen Versorgungsobjekten Backwaren- und Fleischkombinat entsprechende Möglichkeitsräume. Hier könnte man mit einem entsprechenden Rahmen durchaus Objekten und Räumen eine "kulturschaffende" Perspektive zuweisen. Auch für das Objekt des "Aktivist", das laut Kulturland-Stadtführer Jörg Ihlow einzig auf eine kreative Idee wartet ("Das Finanzielle ist das geringere Problem."), könnte z.B. als Atelier- und Galleriegebäude eine zweites Leben beginnen. Sicher ist es in Eisenhüttenstadt schwieriger als in der Kreuzberger Oranienstraße, Gentrifizierungsprozesse anzustoßen. Unmöglich ist es aber sicher nicht.
Wenn politisch gewollt, lassen sich solche Prozesse durch die Lokalisierung von kulturbezogenen Nutzungen und Ausbildungsstätten, durch Ankerprojekte und sozio-kulturelle Zentren an gewünscheten Standorten initiieren bzw. beschleunigen. Dies gilt in gleichem Maße auch für ehemalige Industrieflächen und Hafenareale.
Der Vorteil in Eisenhüttenstadt liegt darin, dass man hier noch viel großflächiger und offensiver als in den zentralen Stadtbezirken z.B. Berlins vorgehen könnte. Ein Hemmschuh liegt sicher an der sich in der Alltagsnehmung durch Lethargie, Selbstaufgabe und Abschottung auszeichenden Masse der Stadtbevölkerung, die man in gewisser Weise begeistern muss, an bestimmten Punkten aber vielleicht auch zum Wohle des Ganzen ein wenig übergehen (allerdings anders als bisher, wie man hört, in eine produktive Richtung) sollte. Nur weil der Ort mit vielleicht 70 % Schlafmützen bevölkert ist, die nichts als ihre Ruhe haben möchten, muss man ihn nicht aufgeben. Man muss aufwecken. Dazu allerdings benötigt man Menschen, die als Wecker fungieren:
Noch wichtiger für erfolgreiche regionale Strategien zur Nutzung und Förderung von Kultur und Kulturwirtschaft für die Raumentwicklung sind jedoch visionäre und engagierte Persönlichkeiten.
Es gibt also einen Haken. Aber auch die Tatsache, dass die Rüttli-Gesamtstadt bislang jeden Visionär kleingekriegt, gezähmt oder vertrieben hat, heißt nicht, dass es unmöglich ist. Man muss zu Vision und Engagement nur zusätzlich Ausdauer und außerordentliche Robustheit verlangen. Hoffen wir mal, dass eines Tages irgendwoher eine solche Persönlichkeit auftaucht, die die Stadt kultiviert in dem Sinne, dass sie dieser einen Sinn gibt. (Den alten - "erste sozialistische Stadt Deutschlands" - hat die Stahlstadt ja nunmal verloren..) Bis dahin kann man schon einmal ein bisschen im Kleinen vorarbeiten.
Warst du nicht
stets anderer Meinung?
Dein Kollege,
Alfbert Einsteinstein