Einträge für Januar 2008
Alltag in der Stahlstadt..
Nach dem Einkauf fuhr ich noch einmal durch die Stadt und ich muss mich an dieser Stelle nochmal ausdrücklich für einen grünen Pfeil an der Lichtzeichanlage an der großen Hauptpost (Kreuzung Poststraße/Straße der Republik aus Richtung Lindenallee kommend) aussprechen. Früher war der ja auch mal da!
Die Stadt in sonnig. Teil 4: Der EKO-blaue Busbahnhof
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was sich erlebt – wer weiß denn das genau,
die Kette schließt, man schweigt in diesen Wänden
und dort die Weite, hoch und dunkelblau." (Gottfried Benn: Blaue Stunde)
Entstanden ist die architektonisch eher zweckmäßig als epochale Verkehrsanlage zu einer Zeit, als dass, was sich ein paar hundert Meter entfernt in den frühen 50ern in Form von Hochöfen und ersten Wohnblocks zu erheben begann, dem 40sten Geburtstag und gleichzeitig dem eigenen Ende entgegentrudelte.
Die jungen Eisenhüttenstädter, die sich einmal wöchentlich zur Einführung in die Sozialistische Produktion und zur Ausbildung in Produktiver Arbeit zu den längst geplätteten und mit Autohaus und Bowlingbahn überbauten Baracken eines Schulungskomplexes begaben, radelten nicht nur durch die Innenhöfe des II. und des I. Wohnkomplexes - und einer einmal im Sommer gar an der Brunnenstraße in ein Auto am Durchgang und dann mit Schürfungen weiter zum Technischen Zeichnen - sondern sie fuhren auch an den Fundamentarbeiten, dem Aufstellen der Träger und schließlich dem Aufsetzen des Daches vorbei. Eine herausragende Rolle in den Gedanken spielte der Zweckbau nahe der Stelle, an der in den jungen Jahren der Stadt ein monumentaler Werkseingang entstehen sollte, nicht. Man nahm sie eher aus den Augenwinkeln war, wild strampelnd, weil zu spät dran zum Unterrichtsbeginn.
Und auch das wirklich bemerkenswerte Element dieses Jubiläumsbaus, nämlich der betonierte Springbrunnen und die Stele zum Stahlwerk, die hinter dem Warte- und Verwaltungsflachbau des Busbahnhofs entstanden, nahm man erst weitaus später wahr und eigentlich nie wirklich in Besitz. Der Gedanke, hier gleichzeitig für die Sommertage einen angenehmen Freiluftwartebereich zu errichten oder auch, den heimfahrenden Stahlarbeitern einen Ort zum Verweilen anzubieten, ist an sich ein sehr schöner. Ansonsten war aber die Lage am Nordrand der Stadt für einen öffentlichen Aufenthaltsort nicht die ideale. Zum Springbrunnenbaden zog es die Kinder doch eher auf die Insel, in die Leninallee oder zum Fröbelring. Hinter dem Busbahnhof begann beinahe das Werk, vorgelagert ein paar Sportanlagen und ein Fremden nicht ganz leicht durchschaubares Straßensystem. Der eigentliche Stadtraum endete jedoch an dieser Stelle und der Kiefernhein mit der Stele und dem Brunnen war Grenzmarke.
Insofern blieb dieses Gebiet um den Busbahnhof immer ein Transitraum, wie man ihn sich beim Klang des Wortes Busbahnhof vorstellt. Dass er mittlerweile von City Center, Roller Markt, Sparkassen-Haupfiliale und Burger King (und der "Döneria) umlagert ist, hat an dieser Situation wenig geändert: Nicht nur weil die hingewürfelten Neubauten stadträumlich bezugsarm und nahezu unverbunden nebeneinander herumliegen bleibt diese Ecke der Stadt in der allgemeinen Stadtwahrnehmung weitgehend ein Nicht-Ort, über den man manchmal mit einem "Ach ja, das gibt es auch noch.." stolpert und/oder von dem man, wenn man muss, mit dem Bus davonfährt. Mehr nicht.
Für uns Freunde der Siedlungsform Stadt ist die österreichische "Zeitschrift für Stadtforschung" dérive zweifellos Leib- und Magenblatt schlechthin. Schon der Name selbst spielt auf unser größtes Vergnügen an, nämlich das, was man in der Psychogeographie als "Driften im Stadtraum" bezeichnen könnte: Zielloses, aber höchst aufmerksames Stromern durch Stadträume aller Art, immer offen für neue Eindrücke, neue Stimulanz und neuer Erkenntnisse.
Allerdings hält sich der Stadt- und Regionalplaner Chrisoph Haller in seinem im Heft 29 (Oktober-Dezember 2007) erschienen Beitrag über Eisenhüttenstadt nicht allzu sehr mit affirmativen Drift-Wahrnehmung auf, sondern greift weitgehend auf den nüchtern-analytischen Blick des Fachmanns zurück, so dass sich der Text (Haller, Christoph (2007) Eisenhüttenstadt: Identitäts- und Imagewandel einer Stadt. In: dérive. Heft 29, S. 18-24) stilistisch und argumentativ wirklich so liest, wie eine offizielle Publikation des IRS in Erkners, bei dem er beschäftigt ist. Grundsolide objektiviert werden die Stadtentwicklung in straffer Form dargestellt und aus dieser sowie einem Querschnitt durch die Fachliteratur, einige Schlüsse gezogen. Da der Focus jedoch auf dem von 2000 bis 2004 durchgeführten Stadt 2030-Projektes liegen, werden besonders die Feststellungen z.B. zur wirtschaftlichen Perspektive bereits wieder relativiert. Die globale Beschleunigungsgesellschaft macht es anscheinend möglich, dass selbst in beinahe entschlafenen Städten nahezu über Nacht ein Wirbelwind neuen Aufschwungs so manche Expertise überholt erscheinen lässt.
Selbstverständlich bleibt das Meiste im Kern richtig und nachvollziehbar und doch hat man als intensiv mit Stadt Vertrauter bei der Lektüre den Eindruck, dass der Beitrag eher ein historischer ist. In seiner Nachbemerkung gibt der Autor dies indirekt auch zu. Die Verfasstheit der Stadt in der ersten Hälfte dieses Jahrzehnts abzubilden gelingt ihm recht gut. Denen, die die Stadt gut kennen, wird naturgemäß kein gänzlich neuer Zusammenhang eröffnet, aber diese zählen auch nicht primär zur angepeilten Zielgruppe. Diejenigen, die mit Eisenhüttenstadt bislang wenig verbanden, bekommen dagegen einen kursorischen Einblick, der nicht allzu tief schürft, aber alle Basisinformationen mitliefert, die man so erwartet. Zudem wird die Legende Aktivist reproduziert, auch wenn dies das Haus nicht retten wird.
Dem Titel und dem Projektanliegen entsprechend wird der Aspekt der Identität ins Zentrum des Aufsatzes gerückt: Der Riss zwischen den Zuwanderungsgenerationen, die damit verbundene Frage der individuellen Identifikation mit der Stadt und die wiederum daran anschließende Abwanderungsaffinität werden genauso thematisiert, wie die Frage nach der Vergangenheit.
Ob die "Stadtgründung aus dem Nichts" nun eine solche oder keine war, bleibt sicher unentscheidbar. Die Relativierung des "Mythos'" durch die Nähe des Stadtraumes zum Stalag III B und den Degussa-Werken scheint mir allein genommen etwas konstruiert, obschon sich dieses wie der Schatten einer zu überwindenden Zeit immer wieder einmal in die Stadtgeschichte schleicht. Allerdings wäre es m.E. überzeugender, die für beide Einrichtungen aus dem Dritten Reich vorhandene Anbindung an den Standort Fürstenberg/Oder direkter zu betonen. Anders als bei diversen sowjetischen Stadtneugründungen ist im vergleichsweise dicht besiedelten Mitteleuropa wohl kaum ein Eckchen denkbar, das gänzlich von jeder vorhergehenden Landnutzung unberührt geblieben ist. Irgendwie gräbt man überall etwas aus und die Schnittpunkte zur Geschichte liegen in diesen Breiten aller Erfahrung nach nahe der Oberfläche.
Unbestritten davon war das Thema Nationalsozialismus in Stalinstadt kein solches und schon gar nichts, was es öffentlich zu bewältigen gab. Das Dritte Reich waren hier immer die Anderen, aber mit der Nähe zu Fürstenberg, den dort befindliche Brückenstümpfen und der auch im Geschichtsunterricht einer Polytechnischen Oberschule vermittelten Geschichte der Familie Fellert drängte jedenfalls später die Frage nach dem, was zwischen 1933 und 1945 hier an der Oder geschah, immer mal wieder in den Alltag. Über das Stalag III ließ man dagegen buchstäblich Gras wachsen und in den 1990ern ein paar Straßen teeren, die demnächst Europas größte Papierfabrik erschließen sollen. Bis auf anderthalb Vitrinen im Städtischen Museum und der einen oder anderen kurzen Publikation ist das Kapitel "Stammlager" also eigentlich immer noch weitgehend hinter dem "Mythos" verborgen und wird es, wie es aussieht, auch auf immer so bleiben.
Zudem erwies sich, wie Haller darstellt, das Nichts nach 1990 als umso problematischere Hypothek:
"Anders als viele andere Städte der ehemaligen DDR konnte sich Eisenhüttenstadt als DDR-Stadtneugründung nach der Wende nicht auf eine Vorkriegsvergangenhet besinnen, um aus der Geschichte heraus einen verschütteten, politisch neutralen Identitätskern wiederzubeleben. Die Stadt blieb mit der DDR-Geschichte verbunden und bekam auch die von Teilen der Gesellschaft vermittelte starke Abwertung ihrer gelebten Geschichte zu spüren." (S. 20)
So mancher Historiker wird angesichts des nicht ganz ereignisarmen deutschen Geschichtsverlaufs bei der Frage nach der prinzipiellen Möglichkeit eines "politisch neutralen Identitätskern" vermutlich die Stirn krausen. Gemeint ist damit aber eigentlich das Berufen auf eine lange und damit vor-sozialistische Vergangenheit, die eine schnelle Distanzierung zur DDR ermöglichte. Mittlerweile ist die Panik immerhin verflogen und - allerdings besonders die auf den ersten Blick nicht allzu politisch wirkende Alltagskultur bezogen - DDR-Museen, die vor allem auf Konsumerinnerungen abzielen, werden als touristische Anziehungspunkte entdeckt. Das Schandmal wird zum Kuriosum und nicht zuletzt zum Kumulationspunkt eines Selbstdefinitionsprozess zu einem Zeitpunkt, da sich die Verlockungen des Kapitalismus übergreifend als mit vielerlei Nachteilen behaftet erweisen. Der zeitliche Abstand zu der Unmittelbarerfahrung der für die DDR charakteristischen umfassenden Einengung des Lebens trägt ein Übriges bei. Die alternden Aufbaugenerationen Eisenhüttenstadts assoziieren die DDR mit ihrer Jugend, die im Normalfall immer etwas zwangloser und glücklicher erscheint, als die aktuellen Alltags- und Sachzwänge des Fortschreitens gen Lebensabend. Wer also als junger Mensch nicht direkt mit dem System kollidierte, wird nicht verstehen, wieso seine eigenen Erfahrungen falsch und wertlos sein sollen und die DDR eine eingefleischte menschenfeindliche Diktatur gewesen war, wie es Akteure a la Hubertus Knabe gern öffentlichwirksam zu vermitteln versuchen. Es gibt nun mal nicht die eine Wahrheit und eine reife Aufarbeitung, die nicht wieder in die selben diskursiven Fallen stolpern möchte, wie ihre Vorgänger, sollte die Pluralität der Wahrnehmungen und Interpretationen berücksichtigen, sowie den eigenen Deutungshorizont permanent mitreflektieren.
Für Eisenhüttenstadt ist angesichts des verblassenen Stigmas "sozialistische Stadt" zu erwarten, dass es zukünftig aus dem ehemaligen Stigma noch weitaus stärker ein Pfund zum Wuchern machen kann. Wo andere Städtchen ihren mittelalterlichen Stadtkern herausputzen, geschieht mittlerweile ähnliches mit den Wohngebieten aus dem Frühling der DDR-Architektur. Der für Architekten schon immer als solcher existente Geheimtipp könnte perspektivisch zu einem touristischen Anziehungspunkt der Baukultur werden, fast wie die Krämerbrücke zu Erfurt und eines Tages werden vielleicht Reisegruppen in größerer Zahl zum wandfüllenden Womacka-Mosaik im Rathaus ziehen, wie man es von Tilman Riemenschneiders Heilig-Blut-Altar in der Rothenburger Stadtkirche St. Jakob kennt. So ganz unterschiedlich in der Zielstellung sind diese mit gut viereinhalb Jahrhunderten Zeitunterschied gestalteten Werke gar nicht, geht es doch beiden um die Versinnbildlichung einer bestimmten Vorstellung vom richtigen Leben auf Erden. Allerdings findet sich bei Womacka keine Judas- bzw. judasartige Figur. Bei Riemenschneider dagegen keine Modellflugzeuge.
Interessant, besonders auch wenn man an Zeitdokumente wie "Eisenzeit" denkt, ist folgende Feststellung:
"Im Unterschied zu vielen alten Städten der DDR gab es in Eisenhüttenstadt kaum Nischen, inden sich politischer Widerstand oder nur ein Anderssein hätte formieren können." (S. 20)
Andererseits hat mit Rolf Henrich ausgerechnet ein Eisenhüttenstädter mit seinem Buch "Der vormundschaftliche Staat" (Henrich, Rolf (1989) Der vormundschaftliche Staat: vom Versagen des real existierenden Sozialismus. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt) und den Folgen einen maßgeblichen Beitrag zur Bürgerrechtsbewegung der DDR geleistet. Das aus größeren Städten der DDR bekannte Phänomen der Punker und der Gammler war in Eisenhüttenstadt dagegen kaum wahrnehmbar. Man könnte die geringe Aktivität von Alternativbewegungen auch damit erklären, dass die Planstadt eben auch mit klaren Strukturen ausgestattet und entsprechend gut überschaubar war:
"Dementsprechend war ein hohes Bewusstsein über die vorhandenen Kontrollmöglichkeiten von Staat und Betrieb in der Bevölkerung verankert, was dazu führte, dass wenig gewagt wurde, weil die Angst vor zu befürchtenden Nachteilen überwog und daher schnell der Rückzug ins Privatleben angetreten wurde." (S.20)
Vielleicht war es auch gar nicht die Angst, sondern die nicht wahrgenommene Notwendigkeit, etwas zu wagen. Richtig ist, dass das schon in der DDR kultivierte Ideal der Privatheit mit sauber abgezäunter Kleingartenwelt sich leider als reibungsärmste Strategie in der post-sozialistischen Individualgesellschaft erwiesen hat und alles, was nicht einen unmittelbar sichtbaren persönlichen Vorteil mit sich bringt, kaum die Chance hat(te), auf große Resonanz in der Stadtbevölkerung zu stoßen. Mit dem fortschreitenden Aussterben der Gründungsgeneration kommt noch etwas anderes dazu:
"So wird es mittelfristig für immer mehr BewohnerInnen Eisenhüttenstadts keinen direkten persönlichen Bezug zum Aufbau der sozialistischen Modellstadt mehr geben." (S.22)Alternativ gibt es aber eine Generation der hier Geborenen, die sich durchaus mit der Stadt als Heimat indentifizieren. Dass Peter Weichhardt und seine Forschungsgruppe zu "Place Identity und Images" diesen besonderen Bindungsaspekt nicht sonderlich signifikant ermitteln konnten, liegt daran, dass ein Großteil dieser Gruppe die Stadt im Zuge der mehr durch die Frage nach der beruflichen Perspektive denn aus mangelnder Identifikation mit der Heimatstadt ausgelösten "Fernwanderungswellen" verlassen hat.
Angesichts der aktuellen Entwicklungen kann sich der Trend hier ein wenig verändern. Ein klares Versäumnis des Identitätsmanagementes in der Stadt ist dabei, dass dieser Gruppe seitens der Stadt bislang kaum Beachtung geschenkt wurde. Der Horizont der Eisenhüttenstadt-Identität endet nun einmal nicht an der Stadtgrenze und wer dies nicht berücksichtigt, verschwendet kräftig Potential bei der Imagebildung.
Eventuell krankte auch der Ansatz von Stadt 2030, dem in der Stadtbevölkerung nur bedingt Wohlwollen und Kooperationsbereitschaft entgegen gebracht wurde, daran, dass die rund 20.000 Abwanderer nicht fokussiert wurden. Stadtidentitäten sind schließlich heute mehr denn je enträumlicht und existieren - wie übrigens auch dieses Weblog - als auf Orte rekurrierende Identitätskonstruktionen, die sich nicht mehr zwingend dauerhaft an diesen Orten befinden müssen. Die virtuelle/verlassene/erinnerte Stadt sollte besonders im Fall Eisenhüttenstadts bei einer Leitbildkonstruktion neben der realen durchaus eine Rolle spielen. Denn:
"In ihrer inzwischen über 50jährigen Geschichte bestand für mehrere Generationen von EinwohnerInnen die Möglichkeit, diese Stadt als Heimat anzunehmen oder abzulehnen. Tausende Biografien sind mit Eisenhüttenstadt verbunden, viele kleine Geschichten und bedeutende Ereignisse im Leben der BewohnerInnen haben sich in den Gebäuden und auf den Straßen und Plätzen abgespielt." (S.20)
Ein Großteil dieser Geschichten hat allerdings Eisenhüttenstadt mittlerweile verlassen. Diese jedoch bei Identitäts- und Imagebildung als nicht mehr existent zu bewerten, täte sowohl denen, die diese ge- und erlebt haben, wie auch der Stadt selbst Unrecht.
Die interessanteste Fußnote in der in dérive veröffentlichten Stadtgeschichte, ist, dass sich Stadtplaner Kurt W. Leucht 1990 in einem Brief ausdrücklich von der Formulierung "die erste sozialistische Stadt Deutschlands" distanzierte:
"Eine sozialistische Stadt gibt es nicht und wird es nicht geben - genauso wie es auch nicht eine sozialistische Leberwurst geben kann." (S. 18, Fußnote 3)Was dem für eine DDR-Karriere etwas sperrigen Schützling von Hermann Matern (ein Name, der in Eisenhüttenstadt einen besonderen Klang hat) noch kurz zuvor vermutlich ein Parteiausschlussverfahren eingebracht hätte, wirkt 1990 ein bisschen zahnlos und ignoriert die historische Tatsache, dass es einerseits sowohl im Politbüro ab und an eine beleidigte sozialistische Leberwurst gab und andererseits auch die Kaufhallenkunden an der Wursttheke nach 1990 deutlich den Unterschied zwischen einer im Sozialismus und einer im Kapitalismus zusammengepressten Leberwurst zu unterscheiden lernten.
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Zwischen den Wäschestangen neben der kurzen Ringstraße spielten manchmal ein paar Knaben Fußball, denn obschon man die üblichen Spielgeräte in den Innenhof gestellt hatte, war an Ballsportanlagen nicht gedacht. Die Wäschestangen innerhalb des Hofes dienten dabei den Größeren als Bolzgelände und waren daher weder für das Trocknen von Wäsche noch als Spielplatz für die Jüngeren nutzbar. Diese trainierten manchmal, später, in der Hoffnung auf baldiges Aufschließen zu den Größeren auf der weniger belebten Seite des Blockes ihre "Hochballtechnik" und einige Male galt es, bei jemandem zu klingeln und um die Rückgabe des auf einen Balkon geschossenen Balls zu fragen.
Ab und an saßen auch ein paar Kinder mit ihren Meerschweinen und einer Kuscheldecke auf dem Rasenstück und später ratterte man mit den ersten - und womöglich einzigen - Skateboards der DDR, die eine Schokoladenmaschinenfabrik im Rahmen der Konsumgüterproduktion herstellte, auf dem kleinen, leicht abschüssigen und in der Mitte geknickten Gehweg die Platten hinunter.
Und am Ende wieder Charms: Das ist eigentlich alles.
Die Stadt in sonnig. Teil 2: Am Friedensplatz
Am Friedensplatz in Eisenhüttenstadt steht dieses Buswartehäuschen sowie ein Gedenkstein für die Opfer von Gewaltherrschaft und Krieg aus dem Jahr 1999 und vermutlich gibt es dort heute Abend eine ziemlich stille Oderstadt-Idylle, die im Gegensatz zu Vinterbergs Arbeit kaum Assoziationen mit Henrik Ibsen zulässt, denn selbst die einzige Nora, die ich in Fürstenberg kannte, wohnte an einer ganz anderen Ecke und auch dort nicht in einem Puppenheim... Von dem einzigen Helmer, den ich kannte und der nicht einmal in Eisenhüttenstadt sondern irgendwo bei Frankfurt an der Oder wohnte ganz zu schweigen. ... "Ach! Ich würde noch mehr schreiben, aber auf einmal ist das Tintenfaß verschwunden." (Um ein weiteres Mal mit dem großen Meister des abrupten Schlusses zu schließen.)
Im Getränkeladen neben dieser wunderschönen Quadratfensterwand wurde zum Zeitpunkt der Aufnahme mächtig zu Mittag gebechert und auch kurz mal argwöhnisch aufgeschaut. Da aber das Interesse der Stadtwanderer nur der Architektur diese winzigen Ladenzeile widmete man sich gleich wieder dem Tagesschäft, nämlich dem gepflegten Schnack unter Freunden und die Menschen mit der Kamera zogen recht bald weiter zur Kirche
Die Bahn selbst erklärt, ihre Gebäude seien oft Schmuckstücke in den Kommunen gewesen.
Diese Zeit ist bei den meisten Stationen allerdings vorbei. Seit Jahren lässt die Bahn ihre einstigen Bahnhöfe verfallen; in die Unterhaltung wird nur noch so viel Geld gesteckt, dass die Sicherheit gewährleistet bleibt. Aus den einstigen Schmuckstücken sind Schandflecke geworden.
Der ehemals Fürstenberger und spätere Eisenhüttenstädter Bahnhof ist ein erstklassiges Beispiel für die Beschreibung aus der heutigen Ausgabe des Tagesspiegel (Kommunen erhalten Vorkaufsrecht bei Bahnhofsgebäuden). Im Land Brandenburg reagiert man nun ein wenig auf die Proteste des Deutschen Bahnkunden-Verbands und so lässt sich im Tagesspiegel lesen:
Der Bahnkunden-Verband hat vorgeschlagen, das Infrastrukturministerium solle die Gebäude zu einem symbolischen Preis übernehmen, anschließend sanieren und dann an interessierte Kommunen abgeben. Für eine Sanierung fehlt aber auch dem Ministerium das Geld. Es will den Kauf durch die Kommunen aber finanziell fördern, wenn sich die Gemeinden zu einem Kauf durchringen können.Für den Eisenhüttenstädter Bahnhof kommt das Förderangebot aber leider zu spät, befindet er sich doch schon in den Händen eines Investors (vgl. hier). So hat die Kommune hier nicht mehr viel zu melden, was ihr vermutlich auch nicht ganz ungelegen kommt. Der Bahn, deren doppelkopfschienenharter Vorstand die Kunden aufgrund deren weitgehender Abhängigkeit von dem Verkehrsunternehmen gemeinhin in einer Art und Weise schikaniert, wie es sich vermutlich höchstens noch die Stromversorger leisten können, tanzt gerade wieder mit hardrock'n'rolligen Nachtreten gegenüber den Gewerkschaften um das goldene Kalb der Ertragsprognosen und hat sich bekanntlich längst von der Vorstellung, sie könnte eine andere gesellschaftliche Rolle haben, als der Mikrokosmos eines Otto Normal-Short Seller absteckt. Niederer geht es wohl kaum:
Um die Kosten aufzufangen, müssten sich die Kunden auf höhere Ticketpreise einstellen, sagte Mehdorn. Zudem müsse der Konzern "alle Möglichkeiten zur Rationalisierung einschließlich der Verlagerung von Arbeit in Billiglohngebiete nutzen"Ostbrandenburg hat der Bahnchef aber nicht im Auge, auch wenn hier in zahlreichen Branchen durchaus knapp am Existenzminimum verdient wird. Immerhin:
Für den Bahnbetrieb braucht die Bahn nur noch Bahnsteige, an denen die Züge halten. Der Zugang erfolgt neben den Bahnhofsgebäuden. Und vielleicht gibt es noch einen Unterstand auf dem Bahnsteig dazu.Allerdings sollte sich das in Hinblick auf wirtschaftliche Risiken fast unverantwortlich leicht gefederte Verkehrsunternehmen nicht nur fragen, was es selbst braucht, sondern was seine Kunden benötigen (womöglich wünschen). Andererseits könnte es sein, dass als Bahnkunden gar nicht diejenigen betrachtet werden, die auf dem freizugigen Holzbahnsteig in Erkner im Dezember ohne klare Durchsage 40 Minuten Verpätung abwarten, sondern die, die irgendwann einmal die zur Privatisierung freigegebenen Anteile erwerben sollen. Dann geht das Konzept natürlich völlig auf und ich möchte zu diesem Bravourstück gar nichts gesagt (bzw. geschrieben) haben. Außer natürlich, dass ein Verschwinden des Bahnhofsgebäudes für Eisenhüttenstadt einen weiteren Verlust markieren würde, den manche bedauern und andere begrüßen.
Was so schon ungemütlich ist, hat durchaus Perspektive, als Aufenthaltsbereich noch an Komfort einzubüßen, denn bald gibt es laut Planung nur noch Minimalunterstände, die bei der üblichen Annahme durch die Jugend der Stadt eine Lebensdauer von (optimistisch) geschätzten zwei Wochen besitzen. Vielleicht gibt es wenigstens eine Videoüberwachung.
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