Für uns Freunde der Siedlungsform Stadt ist die österreichische "Zeitschrift für Stadtforschung" dérive zweifellos Leib- und Magenblatt schlechthin. Schon der Name selbst spielt auf unser größtes Vergnügen an, nämlich das, was man in der Psychogeographie als "Driften im Stadtraum" bezeichnen könnte: Zielloses, aber höchst aufmerksames Stromern durch Stadträume aller Art, immer offen für neue Eindrücke, neue Stimulanz und neuer Erkenntnisse.
Allerdings hält sich der Stadt- und Regionalplaner Chrisoph Haller in seinem im Heft 29 (Oktober-Dezember 2007) erschienen Beitrag über Eisenhüttenstadt nicht allzu sehr mit affirmativen Drift-Wahrnehmung auf, sondern greift weitgehend auf den nüchtern-analytischen Blick des Fachmanns zurück, so dass sich der Text (Haller, Christoph (2007) Eisenhüttenstadt: Identitäts- und Imagewandel einer Stadt. In: dérive. Heft 29, S. 18-24) stilistisch und argumentativ wirklich so liest, wie eine offizielle Publikation des IRS in Erkners, bei dem er beschäftigt ist. Grundsolide objektiviert werden die Stadtentwicklung in straffer Form dargestellt und aus dieser sowie einem Querschnitt durch die Fachliteratur, einige Schlüsse gezogen. Da der Focus jedoch auf dem von 2000 bis 2004 durchgeführten Stadt 2030-Projektes liegen, werden besonders die Feststellungen z.B. zur wirtschaftlichen Perspektive bereits wieder relativiert. Die globale Beschleunigungsgesellschaft macht es anscheinend möglich, dass selbst in beinahe entschlafenen Städten nahezu über Nacht ein Wirbelwind neuen Aufschwungs so manche Expertise überholt erscheinen lässt.
Selbstverständlich bleibt das Meiste im Kern richtig und nachvollziehbar und doch hat man als intensiv mit Stadt Vertrauter bei der Lektüre den Eindruck, dass der Beitrag eher ein historischer ist. In seiner Nachbemerkung gibt der Autor dies indirekt auch zu. Die Verfasstheit der Stadt in der ersten Hälfte dieses Jahrzehnts abzubilden gelingt ihm recht gut. Denen, die die Stadt gut kennen, wird naturgemäß kein gänzlich neuer Zusammenhang eröffnet, aber diese zählen auch nicht primär zur angepeilten Zielgruppe. Diejenigen, die mit Eisenhüttenstadt bislang wenig verbanden, bekommen dagegen einen kursorischen Einblick, der nicht allzu tief schürft, aber alle Basisinformationen mitliefert, die man so erwartet. Zudem wird die Legende Aktivist reproduziert, auch wenn dies das Haus nicht retten wird.
Dem Titel und dem Projektanliegen entsprechend wird der Aspekt der Identität ins Zentrum des Aufsatzes gerückt: Der Riss zwischen den Zuwanderungsgenerationen, die damit verbundene Frage der individuellen Identifikation mit der Stadt und die wiederum daran anschließende Abwanderungsaffinität werden genauso thematisiert, wie die Frage nach der Vergangenheit.
Ob die "Stadtgründung aus dem Nichts" nun eine solche oder keine war, bleibt sicher unentscheidbar. Die Relativierung des "Mythos'" durch die Nähe des Stadtraumes zum Stalag III B und den Degussa-Werken scheint mir allein genommen etwas konstruiert, obschon sich dieses wie der Schatten einer zu überwindenden Zeit immer wieder einmal in die Stadtgeschichte schleicht. Allerdings wäre es m.E. überzeugender, die für beide Einrichtungen aus dem Dritten Reich vorhandene Anbindung an den Standort Fürstenberg/Oder direkter zu betonen. Anders als bei diversen sowjetischen Stadtneugründungen ist im vergleichsweise dicht besiedelten Mitteleuropa wohl kaum ein Eckchen denkbar, das gänzlich von jeder vorhergehenden Landnutzung unberührt geblieben ist. Irgendwie gräbt man überall etwas aus und die Schnittpunkte zur Geschichte liegen in diesen Breiten aller Erfahrung nach nahe der Oberfläche.
Unbestritten davon war das Thema Nationalsozialismus in Stalinstadt kein solches und schon gar nichts, was es öffentlich zu bewältigen gab. Das Dritte Reich waren hier immer die Anderen, aber mit der Nähe zu Fürstenberg, den dort befindliche Brückenstümpfen und der auch im Geschichtsunterricht einer Polytechnischen Oberschule vermittelten Geschichte der Familie Fellert drängte jedenfalls später die Frage nach dem, was zwischen 1933 und 1945 hier an der Oder geschah, immer mal wieder in den Alltag. Über das Stalag III ließ man dagegen buchstäblich Gras wachsen und in den 1990ern ein paar Straßen teeren, die demnächst Europas größte Papierfabrik erschließen sollen. Bis auf anderthalb Vitrinen im Städtischen Museum und der einen oder anderen kurzen Publikation ist das Kapitel "Stammlager" also eigentlich immer noch weitgehend hinter dem "Mythos" verborgen und wird es, wie es aussieht, auch auf immer so bleiben.
Zudem erwies sich, wie Haller darstellt, das Nichts nach 1990 als umso problematischere Hypothek:
"Anders als viele andere Städte der ehemaligen DDR konnte sich Eisenhüttenstadt als DDR-Stadtneugründung nach der Wende nicht auf eine Vorkriegsvergangenhet besinnen, um aus der Geschichte heraus einen verschütteten, politisch neutralen Identitätskern wiederzubeleben. Die Stadt blieb mit der DDR-Geschichte verbunden und bekam auch die von Teilen der Gesellschaft vermittelte starke Abwertung ihrer gelebten Geschichte zu spüren." (S. 20)
So mancher Historiker wird angesichts des nicht ganz ereignisarmen deutschen Geschichtsverlaufs bei der Frage nach der prinzipiellen Möglichkeit eines "politisch neutralen Identitätskern" vermutlich die Stirn krausen. Gemeint ist damit aber eigentlich das Berufen auf eine lange und damit vor-sozialistische Vergangenheit, die eine schnelle Distanzierung zur DDR ermöglichte. Mittlerweile ist die Panik immerhin verflogen und - allerdings besonders die auf den ersten Blick nicht allzu politisch wirkende Alltagskultur bezogen - DDR-Museen, die vor allem auf Konsumerinnerungen abzielen, werden als touristische Anziehungspunkte entdeckt. Das Schandmal wird zum Kuriosum und nicht zuletzt zum Kumulationspunkt eines Selbstdefinitionsprozess zu einem Zeitpunkt, da sich die Verlockungen des Kapitalismus übergreifend als mit vielerlei Nachteilen behaftet erweisen. Der zeitliche Abstand zu der Unmittelbarerfahrung der für die DDR charakteristischen umfassenden Einengung des Lebens trägt ein Übriges bei. Die alternden Aufbaugenerationen Eisenhüttenstadts assoziieren die DDR mit ihrer Jugend, die im Normalfall immer etwas zwangloser und glücklicher erscheint, als die aktuellen Alltags- und Sachzwänge des Fortschreitens gen Lebensabend. Wer also als junger Mensch nicht direkt mit dem System kollidierte, wird nicht verstehen, wieso seine eigenen Erfahrungen falsch und wertlos sein sollen und die DDR eine eingefleischte menschenfeindliche Diktatur gewesen war, wie es Akteure a la Hubertus Knabe gern öffentlichwirksam zu vermitteln versuchen. Es gibt nun mal nicht die eine Wahrheit und eine reife Aufarbeitung, die nicht wieder in die selben diskursiven Fallen stolpern möchte, wie ihre Vorgänger, sollte die Pluralität der Wahrnehmungen und Interpretationen berücksichtigen, sowie den eigenen Deutungshorizont permanent mitreflektieren.
Für Eisenhüttenstadt ist angesichts des verblassenen Stigmas "sozialistische Stadt" zu erwarten, dass es zukünftig aus dem ehemaligen Stigma noch weitaus stärker ein Pfund zum Wuchern machen kann. Wo andere Städtchen ihren mittelalterlichen Stadtkern herausputzen, geschieht mittlerweile ähnliches mit den Wohngebieten aus dem Frühling der DDR-Architektur. Der für Architekten schon immer als solcher existente Geheimtipp könnte perspektivisch zu einem touristischen Anziehungspunkt der Baukultur werden, fast wie die Krämerbrücke zu Erfurt und eines Tages werden vielleicht Reisegruppen in größerer Zahl zum wandfüllenden Womacka-Mosaik im Rathaus ziehen, wie man es von Tilman Riemenschneiders Heilig-Blut-Altar in der Rothenburger Stadtkirche St. Jakob kennt. So ganz unterschiedlich in der Zielstellung sind diese mit gut viereinhalb Jahrhunderten Zeitunterschied gestalteten Werke gar nicht, geht es doch beiden um die Versinnbildlichung einer bestimmten Vorstellung vom richtigen Leben auf Erden. Allerdings findet sich bei Womacka keine Judas- bzw. judasartige Figur. Bei Riemenschneider dagegen keine Modellflugzeuge.
Interessant, besonders auch wenn man an Zeitdokumente wie "Eisenzeit" denkt, ist folgende Feststellung:
"Im Unterschied zu vielen alten Städten der DDR gab es in Eisenhüttenstadt kaum Nischen, inden sich politischer Widerstand oder nur ein Anderssein hätte formieren können." (S. 20)
Andererseits hat mit Rolf Henrich ausgerechnet ein Eisenhüttenstädter mit seinem Buch "Der vormundschaftliche Staat" (Henrich, Rolf (1989) Der vormundschaftliche Staat: vom Versagen des real existierenden Sozialismus. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt) und den Folgen einen maßgeblichen Beitrag zur Bürgerrechtsbewegung der DDR geleistet. Das aus größeren Städten der DDR bekannte Phänomen der Punker und der Gammler war in Eisenhüttenstadt dagegen kaum wahrnehmbar. Man könnte die geringe Aktivität von Alternativbewegungen auch damit erklären, dass die Planstadt eben auch mit klaren Strukturen ausgestattet und entsprechend gut überschaubar war:
"Dementsprechend war ein hohes Bewusstsein über die vorhandenen Kontrollmöglichkeiten von Staat und Betrieb in der Bevölkerung verankert, was dazu führte, dass wenig gewagt wurde, weil die Angst vor zu befürchtenden Nachteilen überwog und daher schnell der Rückzug ins Privatleben angetreten wurde." (S.20)
Vielleicht war es auch gar nicht die Angst, sondern die nicht wahrgenommene Notwendigkeit, etwas zu wagen. Richtig ist, dass das schon in der DDR kultivierte Ideal der Privatheit mit sauber abgezäunter Kleingartenwelt sich leider als reibungsärmste Strategie in der post-sozialistischen Individualgesellschaft erwiesen hat und alles, was nicht einen unmittelbar sichtbaren persönlichen Vorteil mit sich bringt, kaum die Chance hat(te), auf große Resonanz in der Stadtbevölkerung zu stoßen. Mit dem fortschreitenden Aussterben der Gründungsgeneration kommt noch etwas anderes dazu:
"So wird es mittelfristig für immer mehr BewohnerInnen Eisenhüttenstadts keinen direkten persönlichen Bezug zum Aufbau der sozialistischen Modellstadt mehr geben." (S.22)Alternativ gibt es aber eine Generation der hier Geborenen, die sich durchaus mit der Stadt als Heimat indentifizieren. Dass Peter Weichhardt und seine Forschungsgruppe zu "Place Identity und Images" diesen besonderen Bindungsaspekt nicht sonderlich signifikant ermitteln konnten, liegt daran, dass ein Großteil dieser Gruppe die Stadt im Zuge der mehr durch die Frage nach der beruflichen Perspektive denn aus mangelnder Identifikation mit der Heimatstadt ausgelösten "Fernwanderungswellen" verlassen hat.
Angesichts der aktuellen Entwicklungen kann sich der Trend hier ein wenig verändern. Ein klares Versäumnis des Identitätsmanagementes in der Stadt ist dabei, dass dieser Gruppe seitens der Stadt bislang kaum Beachtung geschenkt wurde. Der Horizont der Eisenhüttenstadt-Identität endet nun einmal nicht an der Stadtgrenze und wer dies nicht berücksichtigt, verschwendet kräftig Potential bei der Imagebildung.
Eventuell krankte auch der Ansatz von Stadt 2030, dem in der Stadtbevölkerung nur bedingt Wohlwollen und Kooperationsbereitschaft entgegen gebracht wurde, daran, dass die rund 20.000 Abwanderer nicht fokussiert wurden. Stadtidentitäten sind schließlich heute mehr denn je enträumlicht und existieren - wie übrigens auch dieses Weblog - als auf Orte rekurrierende Identitätskonstruktionen, die sich nicht mehr zwingend dauerhaft an diesen Orten befinden müssen. Die virtuelle/verlassene/erinnerte Stadt sollte besonders im Fall Eisenhüttenstadts bei einer Leitbildkonstruktion neben der realen durchaus eine Rolle spielen. Denn:
"In ihrer inzwischen über 50jährigen Geschichte bestand für mehrere Generationen von EinwohnerInnen die Möglichkeit, diese Stadt als Heimat anzunehmen oder abzulehnen. Tausende Biografien sind mit Eisenhüttenstadt verbunden, viele kleine Geschichten und bedeutende Ereignisse im Leben der BewohnerInnen haben sich in den Gebäuden und auf den Straßen und Plätzen abgespielt." (S.20)
Ein Großteil dieser Geschichten hat allerdings Eisenhüttenstadt mittlerweile verlassen. Diese jedoch bei Identitäts- und Imagebildung als nicht mehr existent zu bewerten, täte sowohl denen, die diese ge- und erlebt haben, wie auch der Stadt selbst Unrecht.
Die interessanteste Fußnote in der in dérive veröffentlichten Stadtgeschichte, ist, dass sich Stadtplaner Kurt W. Leucht 1990 in einem Brief ausdrücklich von der Formulierung "die erste sozialistische Stadt Deutschlands" distanzierte:
"Eine sozialistische Stadt gibt es nicht und wird es nicht geben - genauso wie es auch nicht eine sozialistische Leberwurst geben kann." (S. 18, Fußnote 3)Was dem für eine DDR-Karriere etwas sperrigen Schützling von Hermann Matern (ein Name, der in Eisenhüttenstadt einen besonderen Klang hat) noch kurz zuvor vermutlich ein Parteiausschlussverfahren eingebracht hätte, wirkt 1990 ein bisschen zahnlos und ignoriert die historische Tatsache, dass es einerseits sowohl im Politbüro ab und an eine beleidigte sozialistische Leberwurst gab und andererseits auch die Kaufhallenkunden an der Wursttheke nach 1990 deutlich den Unterschied zwischen einer im Sozialismus und einer im Kapitalismus zusammengepressten Leberwurst zu unterscheiden lernten.