If you don’t participate in the festivities, yule be sorry. - Jeff Blomquist
Warum eigentlich? denkt man sich, wie man vergleichsweise unbeschwert in Gepäck und Nostalgia am Weihnachtsdonnerstag im Regionalzug Richtung Osten sitzt, die dünn mit Schnee belegten Furchen der abgeräumten Felder Ostbrandenburgs betrachtend. Man hört, wie der Zugbegleiter einem Mitreisenden, dessen Fahrschein den angelegten Anspruch an Gültigkeit anscheinend nicht erfüllt, die Strafgebühr erlässt ("Weil Weihnachten ist..") und stellt erstaunt fest, dass die heutige Reisegesellschaft mit jungen Menschen durchsetzt ist, deren Kleidung sich wenigstens teilweise durch Kanzleitauglichkeit oder sogar einen Schick auszeichnet, den man in den Kleinstadtstraßen dieser Region nicht nur selten antrifft, sondern der im Alltagsgebrauch sogar sicher als unpassend betrachtet werden würde.
Es sind die Heimkehrer, die für zwei, drei, vier Tage im Winter die Stadtbevölkerung nennenswert bereichern; die Kinder einer peripheren Stadt, die es andernorts in den Zentren wie auch immer geschafft haben, in Düsseldorf, Regensburg oder Kiel mehr oder weniger ehrbaren Berufen nachgehen, mittlerweile mit dem anderen Ort auch einen anderen Sozialraum als Lebensmitte ihr eigen nennen und Eisenhüttenstadt als ihren Ausgangs- und ihrer Eltern mutmaßlichen Endpunkt nur noch zu runden Geburtstagen, zum 24sten Dezember und zu Trauerfällen besuchen, bis letztere die Bilanz derart vervollständigt haben, dass kein weiterer Besuch sinnvoll scheint und die Grabpflege an einen Dienstleister delegiert werden kann, der dann möglicherweise für Weihnachtsabende eines dieser rotschimmernden Grablichter neben einem polierten Stein platziert, auf dem einmal ein geschickter Meißel die gröbsten Metadaten einer Biografie aufbrachte, und damit im Auftrag den flackerenden Parcour der Erinnerungen um ein fernes Angedenken ergänzt.
Noch aber reisen sie an und wenn sie es nicht mehr tun, tun es andere, Jahr um Jahr einige weniger, denn Jahr um Jahr gibt es weniger junge Menschen, die aus der Stadt der regelmäßig weiter zusammengelegten Gesamt- und Realschulen in eine unbestimmten Zukunft irgendwo fernab fortzugehen. Aber - ebenfalls - noch stehen die Mütter und Väter und manchmal auch beide Elternteile erwartend auf dem Bahnsteig, der auch mit einem neuen Süßwarenautomaten jedem der Kurzzeitheimkehrer deutlich signalisiert, wie richtig die Entscheidung war, diese zusammengeknickte Heimat zu verlassen, diesen engen Kosmos, der heute eine makellose Verbindung zwischen seiner baulichen Erscheinung und dem feuchtkalten Genebel, das der Dezember durch die verlassenen Straßen bläst, einzugehen versteht.
Einige Schwippbögen und sogar ein besterntes Krippenspiel grüßen den, der aus irgendeinem Grund zur Kernzeit der Heimeligkeit um die Häuser wandert. Aus einzelnen Wohnzimmerfenstern blinzelt ein ganz traditionell preparierter Nadelbaum auf die Straße und hinter ihm manchmal ein Plasmaschirm, auf dem ein Bundespräsident verkündet, dass die Menschen dieses Landes mehr aufeinander achten sollten. Prompt blickt man sich um und entdeckt den holprigen Fußweg hinunter an der Grenze, die dem Sichtfeld durch die Laternenkegel vorgegeben wird, sogar einen womöglich achtlosen Menschen, der jedoch bei näherer Betrachtung schon zureichend Achtung durch einen ihn begleitenden Hund erfährt. Ein gelangweilter, da unbesetzter Bus fährt vorüber und zwingt seinen gleichermaßen gelangweilten Fahrer den ganzen Abend zu langen, einsamen Schleifen in blind vertrauten Bahnen. Ein paar Glocken rufen durch die früh in das Eis des Tages eingebrochene Nacht und vermutlich ziehen sie einige derer, die mehr Feiertagsempfinden als die hegen, die jetzt offenen Sinnes herumflanieren oder den besten Freund eines Menschen an einer Leine von Baum zu Baum führen, in die paar Kirchen der Stadt, die so still ist, dass man sehr präzise hört, wenn eine aufgeregte junge Frau zwei Querstraßen entfernt die Beifahrertür etwas energischer zuwirft, wohingegen die ausschlaggebende Bemerkung ihrer von hier stimmlosen männlichen Begleitung auf dem Fahrersitz für immer im Fahrzeuginneren verschluckt bleibt.
Später schickt an anderer Stelle ein unverschämt offenes Fenster eine Handvoll angeschnapsten Lachens in einen der Höfe. Dieses Geräusch mischt sich für zehn Meter in einem netten Kontrastverhältnis mit dem eigentümlich langsamen Rhythmus der aus Vorsicht vor der Glätte schlurfenden Schritte auf dem harsch dahinknirschenden, vorhin gegen Mittag leicht angetauten, kurzzeitig rauh gefahrenen und später pünktlich zur Bescherung wieder stabil überforenen Eisdeckchen.
Was an diesem Abend aus geselligen Innenräumen vielleicht fehlt, ist eine Pointe, eine unerwartete Wendung im Geschehen ganz ähnlich zu dem Kokon in einer Weihnachtsgeschichte Vladimir Nabokovs. Vielleicht wäre dies aber auch zuviel erwartet und generell scheint es ein guter Vorsatz, von solchen Abenden möglichst wenig zu erwarten.
Denn dann erweist sich unter Umständen ein Kinderstimmchen - welches klammheimlich durch noch ein anderes Fenster auf die Straße ausreisst und eigentlich einem improvisiert rotmäntligen Nikolaus gilt, der angesichts dieses schiefen und stolzen Liedes entscheiden wird, dass das singende Kind aller Geschenke der Welt würdig ist - als zureichend, um ernsthaft zu vermuten, dass dies in diesem Moment die beste aller möglichen Welten sein könnte. Der Nikolaus wird sich richtig entscheiden und die ernsthafte Vermutung ist korrekt.