Eisenhüttenstadt hat es da besser erwischt. In Hinblick auf die filmische Abbildung aber wirklich nur ein bisschen besser: denn mit Maris Pfeiffers derb-drolliger Sozialklamotte und Bordellposse „Schwalbennest“ und mit Thomas Heises Dokumentarrequiem „Eisenzeit“ aus der ganz jungenNachwendezeit hat Eisenhüttenstadt auch im Vergleich nicht gerade einen cineastischen Candyflip vorgesetzt bekommen. Aber während das Schwalbennest mittlerweile in der Schublade der Beliebigkeit verschwunden sein sollte, formte sich einst in „Eisenzeit“ etwas heraus, was zwar am Ende nicht in Gestalt der dargestellten Schicksale auf die Durchschnittsbevölkerung der Aufbaustadt verallgemeinbar ist, im Kern aber eine grundlegende Erkenntnis zum Ausdruck bringt:
“Die Eltern von Mario, Tilo und den anderen waren gekommen, um eine Stadt zu erbauen, und sind darin versteinert. Für die zweite Generation war kein Platz.“, wie es die gebürtige Stalinstädterin und heutige Filmjournalisten Anke Westphal in einem Text zu Heise schrieb.
Und auch den noch später kommenden Generationen gelang es bislang kaum bis gar nicht, eine eigene Position zu Eisenhüttenstadt im Sinne eine generationenspezifischen Aneignung und Positionierung zur Stadt und ihrer Atmosphäre zu finden.
Generation(en) "Hüttenstadt"
Es ist dieser Grundkonflikt, der die Unterfütterung zu dem bietet, was Johanna Ickert, Studentin der Europäischen Ethnologie an der Humboldt-Universität zu Berlin, als „identifikatorische Krise“ bezeichnet und in ihrem Film „Huettenstadt“ (2006) in einer zum Teil ans Groteske grenzenden Klarheit herausstellt.
Gleich der Rummelbimmelbahn, die zu Beginn des Filmes durch den Tunnel tingelt, kreist Eisenhüttenstadt zwischen gestrigen Glanz und heutigen Elend. Zukunft, Morgenluft oder stadtbürgerlicher Gestaltungswillen schimmern beinahe in keiner der Einstellungen und Aussagen der Interviewpartner durch. Nur zum Ende hin wird mit dem „Virtual Eisenhüttenstadt“, welches im huettenstadt.de-Rahmen entsteht, ein Versuch der bewussten Auseinandersetzung mit der Stadt und dem Selbst gezeigt.
Wer wüsste besser als wir, dass man dieses nicht überbewerten, geschweige denn als Strohhalm sehen sollte. Es sind einzig drei bis vier Akteure, die ihre Vorstellungen von der Eisenhüttenstadt-Welt ganz subjektiv ausleben. Von der Multitude der Lebenswirklichkeiten, die entgegen aller Erwartung auch in der beschworenen vermeintlichen Homogenität Eisenhüttenstadts anzutreffen ist, stellt dieser huettenstadt.de-Kosmos nur einen winzigen Ausschnitt dar, der zugegebenermaßen momentan überdurchschnittliche Sichtbarkeit besitzt.
Die „Aufbaugeneration“ dokumentiert sich, wie im Film deutlich wird, übrigens auch selbst und zwar in „Eisenhüttenstädter Lesebüchern“. Was im Film wie im wahren Leben zu wenig sichtbar wird, sind die Durchschnittseisenhüttenstädter, d.h. die Vertreter der zweiten und dritten Generation. Denn die eigentliche „eisenzeitliche“ Reibungsfläche liegt nicht unbedingt zwischen der Nachwendegeneration und den Aufbauhüttenstädtern, sondern zwischen letzteren und ihren Kindern, d.h. also den in den 1950er und 1960er Jahren hier Geborenen.
Die Aufbaugeneration, im etwas stereotypen Sinne exzellent vertreten durch Ursula Krüger von der Geschichtswerkstatt („ich wär für diese Republik durchs Feuer gegangen. Und ich würde es heute noch tun.“) und im tatsächlichen Sinne durch den Rentner und Kleingärtner Paul Bortel, der sich rührend an seine Frau, die Gabelstaplerin, erinnert: „Keine konnte so fahren wie sie.“, steht da und wundert sich über den Niedergang dessen, was sie mit einer bis ins Letzte gehenden Überzeugung einst in die märkische Kiefernlandschaft baute und was im Kontrast zu den vorangegangenen Erfahrungen des ausklingenden Zweiten Weltkriegs, ganz sicher auch objektiv als grundlegender Fortschritt in puncto Gemeinschaftssinn und Lebensqualität wahrnehmbar wurde.
Die Zweite Generation, d.h. die Kinder der Aufbauenden, kommt im Ickert’schen Streifen vorwiegend in den sehr gut gewählten und montierten Archivaufnahmen vor und wird hauptsächlich in dem Kontrast junge und kinderreiche Stadt damals und Rentnerstadt heute abgebildet. Was aus den wuseligen Kindern von einst wurde, wird leider kaum erkennbar und kaum nachverfolgt. Die Bilder aus dem heutigen Eisenhüttenstadt zeigen vorwiegend Senioren, auch ein paar Kinder und ansonsten das gewohnt telegene Abrissgeschehen, alles originell und treffend vermischt. Man sieht die überwuchernde Freilichtbühne kontrastiert von den Aufnahmen des Aufbaus derselben in „27000 Stunden freiwilliger Arbeit“. Es gibt Bilder aus den Aufbaujahren mit Kinderwagen en masse und Erinnerungen der Buchhändlerin Christel Jachning und auf den Gegenbildern vom August 2006 vorwiegend Senioren, die sich an "I love Rock'n'Roll"(!), Spielmannzügen und vielleicht auch ihrer eigenen Vergangenheit erfreuen. Man sieht, wie die Formteile im fünften Wohnkomplex zusammengefügt werden und wie sich der Abrissbagger durch die Plattenbauten frisst.
Werden und Vergehen: Zum 55sten Geburtstag hat Johanna Ickert weniger eine schöne, aber eine drastisch realitätsnahe Dokumentation zusammen geschnitten. Der Kern des Problems einer mangelhaft ausgeprägten bzw. deformierten lokalen Identität wird leider im Film nur touchiert. Er ist also eher eine Bestandsaufnahme der „identifikatorischen Krise“ Eisenhüttenstadts als eine gezielte Auseinandersetzung mit dem Problem, die, das mag man dem Werk zugute halten, unter den gegebenen Voraussetzungen sicherlich auch nicht möglich gewesen wäre.
Die Position der Nachwendekinder ist selbstverständlich eine etwas andere als die ihrer Großeltern: die jungen Skateboarder auf der Insel sehen ihre Heimatstadt als Spaziergängerstadt; also eine grüne Stadt, die – dem Abriss sei dank – sogar immer grüner wird, allerdings nicht so planmäßig wie in den Jahren 1950ff. Die „Erwachsenen“ erscheinen ihnen frustriert, desillusioniert und mit grimmigem Blick durch ihren Alltag zu hastend. Die Schüler des Albert-Schweitzer-Gymnasiums gehen vor allem davon aus, dass die Regelwelt, die sie umgibt, eigenes Engagement ganz gut ausbremst. Dass ein ungestümes Aufbäumen, eine Rebellion der Vorstellungen von dieser Generation ausgehen wird, erscheint kaum denkbar. ("Da können wir nichts dafür für diese Einstellung. Die ist uns angeboren.") Sicherer ist vielmehr das Szenario, welches die letzte Einstellung vor dem Abspann wunderbar einfängt: von 10 Abiturienten verlassen 9 die Szenerie.
Depress moi - Das große "Wer bin ich?" zwischen Espresso-Bar und Subkultur
Ausgangspunkt des Filmes war ein Studienprojekt des Ethnologischen Instituts der Humboldt-Universität zu Berlin, wobei das Projektsujet „Frauenalltag in Ostdeutschland“ in der Umsetzung so weit gedehnt wird, dass man es eigentlich nicht mehr am Film selbst identifizieren kann. Geschadet hat das allerdings nicht. Im Gegenteil: der allgemeinere Blickwinkel in der Umsetzung legt den Finger wunderbar direkt und ernüchternd auf breiter Front in die Wunde, die da heißt „Wir sehen uns als Tristesse-Hochburg ohne Zukunft“. Was zuweilen von Außen exzessiv als Klischee gepflegt wird, bestätigt die innere Verfasstheit der Stadt und ihrer Bewohner immer mal wieder neu. Andreas Ludwig, als ein Vertreter der spärlich gesäten Intellektuellen Eisenhüttenstadts, liegt sicher nicht allzu weit daneben, wenn er die Grundstimmung als „depressiv“beschreibt. Er greift dagegen aber in seiner (vermutlich selbstgewählten) Rolle als halbexterner Betrachter umso weiter daneben, wenn er den Zustand der Stadt vor dem Hintergrund seiner Frustration über verweigertes Public Viewing zur Fußball-WM und über die Unmöglichkeit in der Lindenallee „einen ordentlichen Espresso“ zu trinken zu bestimmen versucht („Das ist weltweit Standard, nur nicht in Eisenhüttenstadt“) und den Mangel an Identifikation am Mangel an T-Shirts mit lokalpatriotischem Bezug festmachen möchte. Kapuzenpullover mit Eisenhüttenstadtspezifischen-Aufbüglern gibt es schon eine ganze Weile, wobei die EH-Chaoten (EH-Chaoten) auf diesem Gebiet eine Vorreiterrolle innen hatten. Mangelnd Identifikation mit ihrem Herkunftsort kann man der lokalen Hool-Szene jedenfalls nicht vorwerfen. Gleiches galt für die Hip-Hop- und Graffiti-Gemeinschaft, die sich auf ein durchweg gepflegtes und bei jeder Gelegenheit geäußertes 1220 (d.h. die DDR-Postleitzahl Eisenhüttenstadts) einigen konnte. Die Subkulturen, die Andreas Ludwig vermisst, gab es durchaus und gibt es z.T. bis heute. Das Dilemma der Stadt bleibt allerdings, dass das Magnet Berlin die aktiven Protagonisten, die sich ihrer Kultur am Ende zumeist näher fühlen, als ihrer Heimatstadt, regelmäßig absaugt. Eisenhüttenstadt-spezifisch ist das allerdings nicht, sondern auch in Möchtegerngroßstädten wie Cottbus zur Genüge zu beobachten.
Die andere Seite der subkulturellen Verflachung erklärt sich ganz allgemein aus dem so genannten demografischen Wandel. Und dass ein kleinstädtisch-dörfliches Sozialgefüge dem, der Großes vorhat und hoch hinaus will, gern und konsequent die Flügel bricht, ist schon ein paar Jahrhunderte Gegenstand etlicher Coming-of-Age-Romane. Ein Eisenhüttenstadt-spezifisches Phänomen liegt auch hier nicht vor. Und dass es hier keine Starbucks-Filiale gibt, ist vielleicht nicht unbedingt ein Gewinn, aber auch nicht unbedingt ein Verlust. Am Espresso allein wird die Stadt nicht untergehen.
Eher noch an der permanenten Beschwörung einer vermeintlich ehemaligen Bedeutungsschwere, die immer wieder durch die Bilder und aus den Interviews blitzt, wobei fast nirgends eine Idee erahnbar wird, wie dieser Aspekt der Besonderheit des erst gehätschelten und dann offensichtlich so verstoßenen Ziehkinds der DDR in irgendeiner Form konstruktiv als Zukunftschance zu instrumentalisieren sei.
Ursache und Wirkstoff - Wie Möglichkeit verpflichtet
Sind denn der Restrumpf einer monoindustriell orientierten Shrinking City (und Wrinkling City) und die zwei Bände sozialistische Stadtgeschichte etwas derart Herausragendes, dass sich das ganze Gewese lohnt?
Wenn man wie Alexander Fromm der Meinung ist, dass der Mikrokosmos Eisenhüttenstadt genauso unendlich ist, wie der Makrokosmos Welt, dann vielleicht. Und wenn man eine heimatlich-emotionale Bindung zu der Stadt besitzt, ganz sicher. Dies allerdings, soviel Distanz zum Gegenstand muss man mitbringen, nur in der subjektiven Wertschätzung. Objektiv ist das Gebaute leider nicht so zuckerbäckerig geworden und nicht so konsequent durchgestrafft, dass es allein als stadtgewordene Stalinallee Weltruhm erlangen wird. Zwar ist sie als Geheimtipp manchem Architekturfreund auch international bekannt. Als Pfund, mit dem man endlos wuchern kann, langt das aber nicht. Für Perspektivität, auch in Hinblick auf das architektonische Erbe der Leuchts und Härtels, bedarf es eigener Aktivität. Also ein immer wieder „Neu-Erbauen“, d.h. Neu-(Er)Finden, Neu-Erkennen und Neu-Gestalten durch die jeweils aktuelle Bewohnerschaft.
„Hat die Aufbaugeneration es nicht verstanden, bestimmte Dinge weiterzugeben?“ fragt Gabriele Haubold sicher zu Recht und man mag antworten: „Ja, und zwar die Notwendigkeit zum permanenten Weiterdenken und Weiterleben des Stadtraums.“ Dies hätte sie aber schon vor 30 Jahren tun und den Weg dazu auch öffnen müssen. Dann wäre „Eisenzeit“ vielleicht auch kein bitterböses Requiem geworden. Damals war die Zeit nicht danach und heute ist sie es vielleicht auch nicht vollkommen, aber in jedem Fall doch mehr als 1980. Nur haben dies viele Eisenhüttenstädter noch nicht in voller Gänze verstanden. Dies gilt auch für das Primat des Freiheitsbegriffs: „Möglichkeit verpflichtet.“
Mögliche Vorwürfe an die Aufbaugeneration kommen heute in jedem Fall zu spät, muss sich diese doch überwiegend seit 1990 mit eigenen grundsätzlichen biografischen Brüchen und – was ihr gutes Recht ist – mit der Rückschau und dem Predigen des Konservierens der Erinnerung und der guten alten Aufbaujahre begnügen. Zeitgemäße Identifikationsstiftung als solche kann sie nicht mehr leisten und Orientierung und Leitbild kann sie verständlicherweise für die „Jugend von heute“ auch nicht mehr sein.
Es ist allerdings so schön wie außergewöhnlich an Eisenhüttenstadt, dass man 2006 noch Vertreter der Grundstein legenden Generation als Zeitzeugen aktivieren kann. Zu kaum einer deutschen Stadt lassen sich also (theoretisch) die Entstehungshintergründe und die Prozesse der Identitätsbildung innerhalb der Stadtgemeinschaft umfänglicher und detaillierter erfassen und man kann nur hoffen, dass die Stadtethnologen aller Universitäten hier zukünftig ihre Aufzeichnungsarbeit intensivieren.
Das historische Sozialgefüge Eisenhüttenstadts im Sinne der Aufbaustadt ist schon deshalb einzigartig und verstärkt untersuchenswert, als dass hier weitgehend „Fremde“ zwangsläufig in der Erschaffung eines mehr oder weniger eigenen Stadtraumes zusammengeführt wurden. Inwiefern diese Neubildung einer Stadtgemeinschaft schnell wieder zu üblichen Ein- und Abgrenzungsphänomenen führte, ist eine spannende Frage, deren Klärung soweit ich sehe noch aussteht.
Am Ende ist die Ausbildung von homogenen Identifikationsstrukturen in dieser Generation weitgehend bilderbuchmäßig gelungen und auch die in Eisenhüttenstadt eventuell stärker als anderswo mehr als Schock denn als Befreiung empfundenen Wendefolgen haben diese frühe Schweißnaht sicherlich noch mehr verfestigt. Dass die sich selbst suchenden und versuchenden Nachfolgegenerationen entsprechend von den Protagonisten der Aufbauepoche, die diesen überväterlich den Aufbauruhm voraushaben, als bindungslos gesehen werden, ist dahingehend nur natürlich. Hier jedoch die Ursachen für einen besonderen Mangel der Wertschätzung des Erreichten durch die Nachfolgegenerationen zu sehen, wäre zu eindimensional.
Wenn ein Grundschulmädchen gleich zu Beginn des Hüttenstadt-Filmes darauf anspricht, das „Berlin einfach besser ist“, dann ist das keine wirklich überraschende Feststellung, sondern eine ganz normale Abbildung eines Kleinstadt-Großstadt-Verhältnisses. Man hätte die gleiche Szene sicher auch in Ludwigsfelde oder Fürstenwalde aufnehmen können. Dass gewisse Merkmale, die der Elterngeneration extrem wichtig sind, der Kindergeneration nicht viel bedeuten, die beispielsweise die denkmalgeschützten Fassaden kurzerhand mit ihren Selbstdarstellungsbemühungen ansprüht, ist gleichermaßen ein völlig normales Geschehen. In welchen Formen sich dieser juvenile Abgrenzungsprozess konkret vollzieht, ergibt sich aus einer Gemengelage aus Umweltsituation, Familie, Peer Group und medialen Leitbildern. Die Stadtgemeinschaft selbst kann also nur an einen von mehreren Punkten – der Umwelt – überhaupt aktiv werden und muss entsprechend auch bei gut gemeinten Angeboten für die Jugend mit dem Scheitern der Bemühungen rechnen, wie es z.B. der Niedergang des Skateboardparks auf der Insel darstellt
Die Marktwirtschaft poliert ihre Freunde: Privatheit, Konsum, Raum und das Problem mit der Öffentlichkeit
Für das antizipierte identifikatorische Dilemma Eisenhüttenstadts, das sich besonders in der filmisch wie alltäglich deutlich erkennbaren depressiven und teilweise schon despektierlichen Selbstsicht zeigt, scheint ein anderer, im Film mehrfach deutlich werdender Aspekt entscheidender: Die Ausrichtung (oder auch der Rückzug) des eigenen Lebens auf nichts als das eigene Leben, also die Privatheit. Diese steht nicht etwa – entgegen mancher gutgemeinten Beschwörung – im Gegensatz zu einer Zwangskollektivierung des Lebens der DDR-Bürger, sondern entspricht eher dem typischen Desinteresse der überwiegenden Zahl der Arbeiter- und mehr noch der Kleinbürgerwelten, wie sie sich in den Idealen Kleingarten, Kleinwagen und Kleinfamilie ausdrückt und mit Geduld und Spucke auch im real existierenden Sozialismus erreichbar war. Der Bevölkerung inklusive der meisten Parteigänger lag am Ende doch vieles ferner als der ganz banale Spaß am konsumistischen Endverbraucherdasein. Und in der Nachwende – wir kennen das Lied – haben Lidl, Schwarz & Co. einen trotz eher geringer Kaufkraft höchst fruchtbaren Boden vorgefunden.
Was in diesem Zusammenhang etwas seltener thematisiert wird, ist die Funktion des öffentlichen Raumes, der in zweierlei Hinsicht nicht zuletzt von der konsumistischen Transformation des Alltagsverhaltens betroffen ist. Einerseits schwindet er durch die überaus freigiebige Privatisierung von Stadtraum, d.h. Liegenschaften in öffentlicher Hand werden auf breiter Front in private übertragen. In der weitläufigen Anlage Eisenhüttenstadts ist dieses Problem, anders als z.B. in zentralen Bereichen Ostberlins, noch nicht dramatisch.
Andererseits erfreuen sich faszinierender Weise die öffentlichen Räume – im Gegensatz z.B. zum City Centers als Marktplatzersatz – nur in Ausnahmefällen einer wirklichen Nutzung jenseits des Transits, wobei z.B. das offiziell hochgelobte und inoffiziell mitunter scharf kritisierte Stadtfest eine heraus stechende Ausnahme bildet. Dieser Kurzzeitkonzentration der Bevölkerung auf einer zentralen Stadtraumfläche an drei Tagen im August steht eine weitgehende Nicht-Nutzung des – obendrein durch die großzügig praktizierten Abrissmaßnahmen an Dichte verlierenden – öffentlichen Stadtraums entgegen. Ob der Rückzug in die eigenen vier Wände am Ende doch Konsequenz der Stadtanlage ist, in der Mentalität des Menschen liegt oder sich eventuell aus etwas ganz anderem ergibt, kann hier nicht geklärt werden.
Die Nebenwirkung des Bedeutungsverlusts des öffentlichen Raumes ist allerdings, dass mit der Nichtnutzung (oder reinen Transitnutzung) auch ein Desinteresse am öffentlichen Raum einhergeht, wobei die Verantwortung für dessen räumliche Qualität gern an diffuse höhere Instanzen („die Stadt“) abgeschoben wird.
In diesem Punkt ist der Kritik Andreas Ludwigs zuzustimmen: die Menschen an diesem Ort handeln schlicht zu wenig - und wenn, dann im Affekt und mit "Krawall". Sie werden ihrer Rolle – und demokratischen Aufgabe – als Aktivbürger zu wenig bewusst. Sie sind zu vorsichtig und sie sehen Dissens im Diskurs viel zu oft als Kampfplatz um die Positionierung der eigenen Person in der innerstädtischen Hackordnung. Die spezifische Vergangenheit einer kollektiv bestimmten Gesellschaft und die damit verbundene Desorientierung in einer das Individuum zum Maßstab erhebenden Sozialordnung, in der ungerechterweise trotz allen grundgesetzlichen Gleichheitsansätzen die Start-, Chancen- und Rahmenbedingungen extrem unterschiedlich verteilt sind, führten zu einer gründlichen Fehlinterpretation der politischen und ökonomischen Grundintention der BRD: Misstraulichkeit und Konkurrenzangst und den kleinsten Vorteil bis zum letzten Ausnutzen sind auch in der Wettbewerbsgesellschaft nicht die besten Berater. Flucht in die eigene Wohnnische, Verschließen vor der Welt und gelebte Passivität ebenso. Da dies mittlerweile nach den manchmal sehr harschen Lehrjahren der Nachwende Allgemeinwissen darstellt, entsteht daraus die – in gewisser Weise ethische – Verpflichtung, sich ganz aufklärerisch seines eigenen Handlungsvermögens zu bedienen. Identitätsbildung und Identifikation ergeben sich aus aktiver Selbstwerdung und Selbstbildung. Von (von sich selbst) in der Unmündigkeit gehaltenen oder verbliebenen Menschen kann man vielleicht eine Weile Folgsamkeit erwarten, wie es auch das Beispiel der DDR zeigt. Ein Staat oder auch nur eine Stadt (im Sinne einer Polis) ist damit auf lange Sicht aber nicht zu machen.
Ihr Bürger der Stadt, schaut auf diesen Film! (Und bewahrt!)
Es gibt eine Stelle ziemlich genau in der Mitte des Films, in der Gabriele Haubold davon spricht, dass sich die Stadt ändern wird, wenn die Aufbaugeneration den Folgegenerationen „eine eigene Anwendung, einen eigenen Umgang [mit der Stadt und ihrem Erscheinungsbild] gewährt“. Hierin findet sich das, was man als Quintessenz aus der Dokumentation und als Handlungsmaxime für alle zukünftigen Stadtentwicklungspläne mitnehmen sollte: das Schaffen von Möglichkeiten und die Öffnung der Räume für eine aktive Nutzung durch die Bewohner. Die versteinerte Generation der Eltern „von Mario, Tilo und den anderen“ schwindet langsam. An ihre Stelle tritt bislang sehr dominant die Rückzugsgeneration der Angepassten, die durch ihre kleinbürgerliche Selbstbezogenheit die Abwärtsspirale der Stadtkultur mit jedem neu gebauten Fertighaus weiter in Richtung der Profillosigkeit treibt. Diese stiftet der Stadt allerdings bestenfalls Grundsteuer, aber keinesfalls Identität. „Bewahrung ist aber das Gegenteil von bloßem Beharren“, schrieb der Philosoph Dieter Henrich jüngst in einem Aufsatz. Man wünscht sich sehr sehnlich nach dem Anschauen dieses Filmes, dass hier möglichst bald bei allen der Aufbaugeneration nachfolgenden Bevölkerungskohorten Eisenhüttenstadts trotz aller privaten Ausgefülltheit doch noch ein Bewusstsein dafür entsteht, dass es hier einiges zu bewahren gilt: die Vergangenheit einer Stadt, die Überreste eines grandios gescheiterten Versuches der Umsetzung einer ziemlich verrückten Idee, die eigene Vergangenheit, die eigene Gegenwart und die eigene Zukunft bzw. die der Nachfolgegenerationen.
Ein erster Schritt zur Bewahrung wäre es z.B. im Sinne eines Zirkelschlusses, den Film anzusehen und das Gesehene für sich selbst hinsichtlich der Fragestellung: Wo liegen die Probleme und was kann ich mit meinem Handeln tun, um mitzulösen? zu erörtern. Dass sie dafür eine so ideale Grundlage geschaffen hat – und obendrein ein Stück des Jahres 2006 für die Nachwelt dokumentiert – ist Johanna Ickert hoch anzurechnen.