Auch wenn sich die Welt-Presse mit der Meldung überschlägt, dass die Wikipedia den Brockhaus schlägt, so nehmen wir doch am Ende dieses langen Tages lieber den Glattledereinband aus dem Leipziger Verlagshaus zur Hand als das kalifornische designte Hardplastik der Apple Mighty "Eintasten"-Mouse und blättern darin herum, bis die Fadenheftung reisst.
Dort zwischen dem Seidenglanz des Satinieren und dem Verweis auf die sowjetische Planstadt Elektrostal (Электросталь), die bekanntlich bis 1928 Satischje (Затишье) hieß, heute von einem Bürgermeister geführt wird, dessen Bartwuchs um Längen hinter dem des unsrigen liegt, einen Amboss im Stadtwappen führt und eine kleine, aber feine Kunstszene sowie wenigstens ein hübsches für die Abbildung auf Postkarten geeignetes Gebäude besitzt, befindet sich der Artikel zum großen Thema Satire. Diesen gilt es einmal kurz zu studieren, um aus gegebenen Anlass zu verstehen, was es eigentlich mit der Satirerubrik "Glasauge" bei WELT-Online auf sich hat.
Ursprünglich, so ist zu erfahren, bezog sich der Wortursprung satura auf eine "mit versch. Früchten gefüllte Schale", aber als literarische Gattung wohl eher auf faules Obst, jedenfalls darauf "durch Spott, Ironie, Übertreibung u.Ä. bestimmte Personen, Anschauungen, Ereignisse oder Zustände [zu] kritisieren oder verächtlich [zu] machen."
Inwieweit dies dem Handy-Fotografen und Glasauge-Betreuer Gideon Böss bei seinem Ausflug nach Eisenhüttenstadt im Sinn stand, ist nicht bekannt, finden sich doch in seinen Zeilen kaum Spott, so gut wie keine Ironie, aber eimerweise Übertreibung in stumpfer Gezwungenheit. Seine Bilder samt witzfreier Textbeigabe sind heute bei WELT Online erschienen und wirklich jedem zur Nachlese empfohlen: Stalinstadt - wo die Mauer noch steht.
Schon der Titel leitet in die Irre, dies sogar doppelt, denn dort wo sich Gideon Böss herumtrieb, nämlich in den Wohnkomplexen VII und VI, werden die Mauern derart niedergerissen, dass das Berliner Spektakel von
1989/1990 - rein physisch gesehen - im Vergleich wie ein müdes Kieselkicken wirkt.
Und zweitens hätte er genauso gut nach Ludwigsfelde fahren können, um dort gemachte Ausnahmen als Stalinstadt auszugeben, denn das wahre Stadtgebiet der einzigen Stalinstadt Deutschlands hat er auf seiner Fototour offensichtlich überhaupt nicht betreten. Dann wäre ihm nämlich nicht entgangen, dass die Hauptattraktion solch eines Desolatrinenspaßes nicht die "circa zwölf Meter hohe Brücke" sein muss, die den "Blick auf eine zweispurige Straße freigibt" ("Vor Jahren fuhr hier sogar mal ein Bus vorbei, indem (angeblich) Schwarze saßen.") sondern ein matschiger Platz, auf dem dereinst das einzige zentrumsnahe Gulag der Deutschen Demokratischen Sowjetrepublik stand, an das heute mit einigen weißen Pfählen erinnert wird, wobei die Wachsoldaten samt Kampfhund noch auf Patrouille gehen - um einmal das Bössdorfer Verbalgeflügelflatter weiterzuspinnen. Das passende Foto haben wir auch auf Lager:
Nachbar Steffen (zu dem Unbekannten):
Wie heißt denn der Platz, Herr, wo wir gelandet sind? Denn wie ich höre, so habt ihr die Reise schon mehrmals gemacht?
Unbekannter:
Es ist Elektropolis, oder die Philosophen- und Sonnenstadt. Man hat uns hierher geführt, weil jeder von uns, mehr oder weniger, an die Sonne ein Anliegen hat!
Wie schön hätte man das 1803er Elektropolis-Spiel aus dem Taschenbuch für Freunde des Scherzes von Johannes Daniel "der Mensch in der Satyre" Falk - Sohn eines Perückenmachers, Schriftsteller, Theologe und Urvater des dieser Tage so passenden Liedes "O du fröhliche.." - für eine Verballhornung Eisenhüttenstadts heranziehen können.
Allerdings fällt nicht jedem immer die Perle des guten Witzes auf's Blatt und dann muss man sich tatsächlich mal etwas anderes einfallen lassen. Dem "Katastrophen-Touristen" Gideon Böss ist dies nach seinem Eisenhüttenstadt-Ausflug leider nicht so recht gelungen. Vielleicht wird es was, wenn er die Reise mehrmals macht.
Also liebe WELT-Online-Redaktion - wenn euch das nächste Mal einer eurer Zonenreporter seine Spesenabrechnung den Tisch legt, überprüft doch einmal, ob dieser sich wirklich in die Gefahrenzone vorwagte oder nach einem kurzen Husch um den Bahnhof gleich wieder in den nächsten Zug zurück ins sichere Berlin flüchtet, um in den ersten drei Minuten der Heimfahrt ein paar mehr trottelige als satirische Blubberblasen ins Notizbuch zu tröpfeln. Denn bei aller Übertreibung lebt Satire doch irgendwo von der Nähe zum Gegenstand. Gideon Böss lässt diese - ebenso wie die Nähe zum Handwerk - wenigstens in diesem Beitrag ganz schön vermissen. So sehr wir Niveaulosigkeiten mögen, so sehr legen wir - gerade bei diesen - Wert auf ein wenig mehr Niveau.