heute: Kraftwerk Finkenheerd
Es ist immer ein interessantes Unterfangen, auf der Bahnstrecke Berlin-Eisenhüttenstadt - zumal, wenn man sie häufiger bereist - den Blick aus der jeweiligen Reiselektüre ab und zu aufzuheben und aus dem Fenster zu lenken und so das Land im Wandel der Zeiten zu erleben, der hier immer weniger menschengemacht ist.
So sieht man die schöne ostbrandenburgische Landschaft tatsächlich Blühen und Grünen (Frühling), in eine graubraune Verödung stürzen (Herbst) oder sich einen Mantel aus Frost und Eis und Schnee auf Wiesenrain und Waldessaum legen (Winter). Man gleitet sanft über Erkner und des Bahnwärter Thiels Bahnstrecke gen Fürstenwalde hinaus und weiter und weiter und davon von allem, was man so mit Trubel, Menschen und Bevölkerungsdichte verbindet, hin zu sich beinahe ungehemmt erweiterenden Naturräumen. Der Umstieg im Bahnhof der Transitstadt Frankfurt(Oder), auf dem die Hinweisschilder für die Züge gen Poznan, Warschau, St. Petersburg und Moskva zeigen, dass hier ein Punkt erreicht ist, an dem Deutschland buchstäblich seine Grenze findet, ist dabei eine Art Inaugurationserlebnis für den weiteren Reiseweg irgendwohin fernab: Der Zug wird kleiner, die Zahl der Passagiere weniger, meist schüchterner oder dreister, die Nebengeleise überwucherter und die Grundstimmung tendiert in Richtung "moll".
Fährt man nun mit dem Regionalzug zunächst aus der Grenzstadt fast parallel zum Grenzfluß hinaus, dem sich später am Fuße des Hanges, an welchen sich das Eisennbahngleis schmiegt, der Friedrich-Wilhelm-Kanal anschließt, der - so sagt man - just hier eine Rudertrainingsstrecke für die Olympioniken des Jahres 1936 darstellte, was auch die Existenz des so hübschen wie eigenartigen und vom Zahn der Zeit kräftig benagten Fachwerktürmchens am Scheidepunkt von Fluß und Kanal erklärte, so erreicht man schließlich den ersten der zwei Stopps in der Doppelgemeinde Brieskow-Finkenheerd, die, einst Fischerdorf, den Oderkarpfen im Wappen trägt und später als Braunkohlenörtchen und Kraftwerksstandort auch industrielle Bedeutung erlangte.
Unbekannt ist der Ort nicht mehr, gab es doch in den vergangenen Jahren zwei besonders herausstechende Ereignisse (das 1997er Jahrhunderthochwasser als Regionalspektakel ausgenommen) auf den medialen Aufmerksamkeitsmärkten: die Sprengung der Heizkraftwerksschornsteine ("Marmeladentürme") für die Außenwette einer "Wetten, dass..?"-Sendung im Jahre 1998, die mit der Totalentfernung des Heizkraftwerks und auch jeder anderen dort befindlichen Industrie einherging, und das Auffinden der Gebeine der Kinder der Sabine H., wobei das letztere Geschehen unglücklicherweise für den Ort das nachhaltiger wirksam sein dürfte.
Dass Sabine H. vermutlich an diesem Haltepunkt Finkenheerd mit ihren vergrabenen Kindern ausstieg, gibt der ersten Station in Richtung Eisenhüttenstadt etwas Unheimliches und Tragisches. Aber auch ohne dieses Wissen hat man es hier mit einer der am verlassensten scheinenden Bahnstationen auf den vielleicht zwei dutzend Kilometern der Strecke zu tun. Nur selten steigt ein Kind oder ein Rentner zu, häufig nur für die eine Station zum zweieinhalb Zugminuten entfernten Haupthaltepunkt der Doppelgemeinde, der ebenfalls schon längst kein Bahnhof mehr ist.
Ansonsten sieht man aus dem Waggon ein paar Häuser, viel Wildwuchs, ein altes Pony in einem Garten und manchmal eine behalstuchte Bahnmitarbeiterin, die aus Sicherheitsgründen die Gleiskörper beaufsichtigt, mögliche Passagiere abfängt und zum Ausgangshäuschen hinübergeleitet. Für die Deutsche Bahn sind die beiden Bahnsteige nur ein unbedeutender Zwischenhalt unter vielen und bis auf neue Ortsauskunftsschilder befindet sich daher die gesamte Anlage augenscheinlich noch im Originalzustand mit den entsprechenden Verschleißspuren. In der Melodie dieser Verlassenheit liegt für den nach Eisenhüttenstadt Reisenden in gewisser Weise eine Art leises Vorspiel auf dem Weg zu seinem Ziel. Manchmal scheint es mir, als passte dieses immer besser..