Eisenhüttenstadt, Perron 1 - Erinnerungen und Erörterungen eines Reisenden
Als ich heute im schon etwas älteren Regionalzugwaggon des Regionalzugs RE 38562, der mich nach Frankfurt/Oder zu dem – vermutlich nicht nach dem gleichnamigen Musical, denn hier singt erfahrungsgemäß nur die Bremsanlage und manchmal auch die Achsanlage, besonders wenn der Gleisverlauf eben etwas unebener ist, aber das ist doch dann eher ein Ächzen, wenn auch rhythmisch – benannten Regionalexpress der Linie 1 transportierte, saß, also inmitten der kindheitserinnerungsschwangeren Atmosphäre mitsamt der in den Polstern seit je hängigen Zigarettenrauchigkeit, die sich aus irgendeiner Ursache auch im Nichtraucherbereich tapfer hält, den Blick durch das überraschenderweise sonnenklar und –rein gewienerte Fenster auf die herrschaftlich im Mittagslicht illuminierten Stahlwerksanlagen etwa in Höhe des gerade noch als Rest aus Stein und Sand wahrnehmbaren ehemaligen Haltepunkts „Vogelsang“ wandte, fand ich mich in einem bunten Wirbel von Assoziationen wieder, über den sich eine maßgebliche Irritation des gegenwärtigen Erlebens spannte, auf die erst später, obschon sie den Mittelpunkt dieses kleinen Textes bilden wird, die Rede kommen soll.
Was sich mir angesichts der Sitzbezüge im roten Waggon zunächst geradezu aufdrängte, war die Erinnerung an die kunstledernen Bänke in den – so weit ich mich erinnere – früheren Reichsbahnwaggonbeständen, mit denen ich in der ersten Hälfte der Neunziger Jahre regelmäßig zur Schule rollte, immer im Verstecken begriffen, im Wegducken vor dem Schaffner, denn für die eine Station wollten – und manchmal konnte man es auch nicht – wir uns kein Ticket leisten. War der Schaffner nicht in Sicht, tanzte der Filzstift weich und meist etwas unsauber über die warmen Polsterüberspannungen, mit nicht selten unglaublich unansehlichen Resultaten mittels derer wir uns zu Epigonen der Graffitikünstler in den fernen Großstädten aufschwingen wollten und über die wir uns durch Funk (Rockradio B und später Fritz!), Fernsehen und Ausflüge nach Berlin, als es noch nicht Sitz des Bundespräsidenten war, bestens informiert glaubten.
Heute zieht man, auch das sehe ich im Blick hinaus zwischen meinem Blick und eben dem Hinaus, seinen Namen mit Stein, Schere, nicht Papier, in die Scheibe.
Man nennt es „Scratching“ und manche etwas so überzogene wie unverschämte Berliner Galeristen, ausgestattet mit nahezu obligatorischer Naivität bezüglich des Verhältnis von namensspezifischer Reviermarkierung bzw. Aufmerksamkeitsheischerei einerseits und Kunst und Gesellschaft andererseits, versuchten bereits, wie ich mich erinnere, mehr oder weniger erfolgreich, solche aus dem Rahmen gelösten oder auch gefallenen Fenster als Produkte künstlerischen Ausdrucks zu verkaufen, was selbst bei eingefleischtesten „Graffiti ist Kunst“-Agitatoren Verwunderung in höherer Ausprägung hervorrief, aber vielleicht war dieses auch noch zu absurd in den frühen Jahren des Jahrtausends.
Die Unverschämtheit wog bzw. wäge – denn der ganz tiefe Einblick in die genauen Geschehnisse blieb mir leider verwehrt – doppelt dadurch, dass den im Normalfall dem Anonymen verhaftet bleibenden Urheber dieser mechanisch-kristallinen Signatur keinerlei Beteiligung an dem Erlös zuteil würde.
So sitze ich nun, die bebende Glasschiebetür, die falsch betätigt den Anlass für manche violette Stelle an der Stirn beim Betätiger und für viel Amüsement bei den Beobachtern bildete, im Rücken und vor mir die auf- und absteigende Farbreihe der Kolorierung der textilen Sitzplatzbespannung: türkis, lila, waldgrün und taubenblau, dazu als Kontrastelement das stumpfsilberne Abfallbehältnis, mit dem man wunderbarste Metren in den Schallraum „Abteil“ zaubern kann, wie jeder zu bestätigen vermag, der schon mal mit einem Kind zwischen 2 und 22 gereist ist. Diese farblichen Intonierungen sind mittlerweile nach den tausenden Reisestunden über die leeren Strecken Ostostdeutschlands etwas ausgeblichen und treffen Stäbchen und Zapfen mit recht ausgeglichener Kolorierungsintensität, etwa als „Schlamm“ zu bezeichnen, wenn auch die nach wie vor vorhandene Nuancierung auf die ehemalige Pracht verweist, allerdings muss man eines sagen: Hoch war die Sättigung der Bespannung nie. Verblüffenderweise verringert sich das Potential der Abfallbehältnisse mit zunehmender Nutzung in Bezug auf die akustischen Qualitäten „hart“, „laut“ und „schrill“ bestenfalls geringfügig und dann eher nicht gen „für’s Ohr angenehm“.
Angenehm im Gesamten erscheint dagegen manchem und eigentümlich vermutlich jedem aufmerksamen Reisenden auf dem Gleis zwischen Cottbus und Frankfurt an der Oder das Phänomen, dass es möglich ist, fast 2 Stunden lang zu fahren, ohne aus dem Fenster nennenswert Menschen zu erspähen und auch der Wagen selbst ist jetzt um die Mittagszeit in einer Weise entvölkert, die erstens dem Reisenden absolut freie Platzwahl ermöglicht und zweitens den Geschmack von Abschied in recht bitterer Note aufkommen lässt.
Um dieser zu entfliehen, empfiehlt es sich etwas ganz rational-alltägliches auf’s Tableau des Sinnierens zu stellen und in diesem Fall ist es die kleine Irritation, die ein paar Absätze weiter oben schon ihre Ankündigung fand.
Es geht um den nobelpreisverdächtigen Satz auf einem zentral Bahnhofsorientierungsschild in Eisenhüttenstadt, welchen unser lieber Kommunikationskollege Alf „Andy Leser“ in seinem Netztagebuch einer kleinen Betrachtung unterzog und dieser Beitrag ist ausschließlich deshalb in so ausufernder sprachlicher, fast möchte man daherreden: „hermannkantischen“, Weitschweifigkeit gehalten, um dem nobelpreisigen Anspruch allen Nachdruck zu verleihen, der überhaupt menschenmöglich ist.
Der Satz lautet – denn er soll hier genauso wie dort seine komplette Zitierung finden:
Werte Reisende
Bitte benutzen sie außerhalb der Öffnungszeiten der Bahnhofshalle den Abgang vom Bahnsteig durch den Tunnel am Stellwerk am Ende des Bahnsteigs in Richtung Cottbus
Er kommt durchaus eindrucksvoll, jedoch nicht ohne Fehl und Tadel, denn er kommt so eindrucksvoll wie er ist, geradewegs ohne Punkt und Komma.
Daneben ist für den werten Reisenden besonders die Anrede „Werte Reisende“ irritierend, zumal – so die Logik des schriftsprachlichen Gedankenaustauschs – jeder Anrede auch eine Abrede folgt, die sich hier optional als „Ihr Team vom Bahnhof“, „Ihre Bahnhofsverwaltung“ oder auch „Ihr Bahnsteigs-, Lok- und Zugpersonal“ oder auch noch in anderen Formen denken ließe. So erwartet der durchschnittliche Fahrgast, nachdem er Rollkoffer, Großmutter, Fahrrad, Kind, Kegel und Hund gerade die Treppe hinunter, die Treppe hinauf bis zur verschlossenen Zwischentür, die ihm den Eingang in die Bahnhofshalle verwert und wieder zurück gehievt hat, vielleicht nicht Herzensgrüße und Segenswünsche, aber doch einen kleinen Hinweis auf den Urheber dieser Regelung und eventuell sogar als zweiten Hinweis einen Hinweis auf die Öffnungszeiten der Bahnhofshalle, über die sich das Schild vornehm ausschweigt, da seine Aufgabe einzig und allein die Hinausrichtung der Passagiere nebst Bagage auf den „Abgang am Stellwerk“ ist.
Immerhin ist deutlich und unverkennbar angezeigt welche Richtung „Richtung Cottbus“ darstellt, allerdings nur, wenn man über das Kulturwissen verfügt, dass man auch im Bahnverkehr rechtsseitig ein-, auf- und durchfährt. Ausgeschildert ist nämlich zur Orientierung der auf dem Bahnsteig Wartenden korrekterweise die Richtung beidseitig, was bedeutet, dass man „Richtung Cottbus“ sowohl in Richtung GubenCottbus wie auch in Richtung Frankfurt(Oder)FürstenwaldeBerlin lesen kann.
Der Rechtsfahrregel im Eisenbahnverkehr unkundig sein, bedeutet hier unter Umständen buchstäblich auf’s falsche Geleis geraten, denn irgendwann Richtung Frankfurt marschiert, findet man sich zielsicher an der längsseitigen Bahnsteigkante. Dahinter folgt nur noch ein Ödstreifen, links- und rechtsseitig flankiert von jeweils einer Spur ans Ende der Welt.
Helfen kann hierbei der Verweis auf das Stellwerk, welches mehrere Funktionen inne hat, von denen der allgemein von der Bahnsteigkante zu spät Zurückweichende hauptsächlich die nicht immer kristallklaren Ankündigungen des Zuges über das jeden Tontechniker unmittelbar und irreversibel in den Wahnsinn treibende Akustiksystem des Bahnhofs mitbekommt, und dieses ob er möchte oder nicht.
Der Linguistiker, der bis dahin den Glauben an die Rettbarkeit der märkisch-eisenhüttenstädterischen Aussprachegewohnheit hinsichtlich wohlklingender, das hochdeutsch wenigstens in Ansätzen imitierenden Artikulation, noch nicht verloren hat – er wird den nächsten einrauschenden Zug geläutert und mit hängendem Kopf betreten, egal ob Personen- oder Güterlinie, gleich ob haltend oder nicht.
So hatte ich persönlich erst jüngst die Gelegenheit, Ohrenzeuge einer bemerkenswerten Aussage aus dem Munde eines ganz eindeutig Einheimischen zu werden, die dieser an seine Frau richtetet: „Det tut ne Schande sin, damit man hier Nüscht versteht, von was der da sagt.“ Wer hier von Selbstbezüglichkeit spricht liegt selbstverständlich auch nicht ganz verkehrt.
Dann doch lieber der Rückgriff auf die deutschlandweit vermutlich relativ normiert daherkommende Schriftkommunikation zwischen Anbieter (Bahn AG) und Kunden (Fahrgast). Da mir nur drei Minuten bis zum Eintreffen des assoziationsstimulierenden Regionalzugs blieben, entbehrt die folgende Erhebung und Analyse der quasi „ikono-graphischen“ (bis ikonoklastischen) Erschließung des Bahnsteigs auf dem Bahnhof Eisenhüttenstadt sicher der Vollständigkeit, erste Rückschlüsse lassen sich aber dennoch recht gut ziehen.
Den zentralen Untersuchungsaspekt sollen, angeregt durch das flockig-herausfordernde „Werte Fahrgäste“, welches eine Zwischenstellung zwischen „Sehr geehrte Fahrgäste“ und „Liebe Fahrgäste“ darstellt, die Anredeformen, die die Öffentlichkeitsarbeit der Bahn ihren Fahrgästen gegenüber an den Tag legt, sein. Ein spannender Nebengesichtspunkt, der aber an anderer Stelle bis auf Nagelfeiles Schneide ausdiskutiert werden muss, ist, dass es bislang anscheinend noch nicht gelungen ist, eine Femininform zu „Gast“ zu entwickeln, was den in Lohn und Brot der Mehdornschen Beschäftigungsmaschine stehenden Schildermalern schreckliche Darstellungskompromisse erspart. Das die „Gästin“ aber niemals kommt, darauf mag man wohl nicht das letzte Hemd oder irgendeinen anderen typischen Wertgegenstand der Wirtschaftszone Ost verwetten wollen.
Man kann nun vermuten, dass „Sehr geehrte Fahrgäste“ für eine derart zwingende Anweisung doch etwas überkandidelt erscheint, denn der verschwitzte Fahrgast mit Vollbepackung, der gerade ganz gegen seine Natur treppauf, treppab wie’s Bergzicklein gehüpft kam und zwar ganz umsonst, fühlt sich nun mal nicht so „sehr geehrt“. „Liebe Fahrgäste“ wirkt dagegen zu überlegen und dürfte den gestandenen Geschäftsmann mit Aktienkoffer und Notebuch in seine Kinderferienlagerzeiten und damit erinnerungsmäßig direkt in die Unmündigkeit zurückversetzen. Das stimmt natürlich, denn auch wenn es in freundliche Worte verpackt dort steht: die Einschränkung der Handlungsmöglichkeiten auf genau eine und damit die sogar öffentliche Aberkennung jeglicher Wahlberechtigung (in Hinblick auf das spezifische Handeln) sind Grundeigenschaften jedes Entmündigungsprozesses, der diesen Namen verdient. Dass an dieser Bruchstelle des öffentlichen Regelverständnis’ implizit im Rückgriff auf die demokratische Grundstruktur der Bundesrepublik Deutschland argumentiert werden könnte, es würde doch nur gleiche Pflicht für Alle auf die Rücken der geknechteten Bürgerschaft verteilt, macht die Sache auch nicht besser.
Hier wird man – ob man möchte oder nicht – per offiziellem Dekret erst ins Dunkel und dann ins Licht am Ende des Tunnels am Stellwerk am Ende des Bahnsteigs in Richtung Cottbus, denn die Wahl zu warten, bis die Halle eines Tages wieder öffnet, ist nur eine Scheinwahl: Wer weiß denn schon, ob und wann dieses wieder geschehen wird! geschickt.
Die Öffnung von Bahnhofshalle und Fahrkartenschalter, der übrigens wunderbarerweise nun auch ein Postkartenschalter ist, an dem man im Auftrag der Bürgervereinigung Fürstenberg/Oder auf Pappe reproduzierte Ansichten des bestehenden wie des verschwindenden und schließlich verschwundenen Wohnkomplex VII käuflich erwerben kann, obliegt nun augenscheinlich nicht mehr der Bahn AG höchstpersönlich, sondern einer von den ehemaligen Schalterangestellten betriebenen ICH-AG, weswegen ich alle Reisenden nur auffordern kann, falls möglich den Fahrkartenautomaten zu meiden und die Tickets für den Zug nach Irgendwo bei den realen Damen hinter Glas zu erwerben: Diese Leben davon und zwar nur davon! – allerdings ausschließlich innerhalb der Öffnungszeiten der Bahnhofshalle und wann man damit rechnen und mit seinem Ticketkauf das Bestehen des Fahrkartenschalters in Eisenhüttenstadt in der globalen Marktwirtschaft absichern kann, ist nun einmal aus dem überm Richtungshinweisschild verschraubten „Stellwerk-Tunnel-Marsch“-Befehl im Schafspelz des „Werte Fahrgäste“ für Otto den normal Verbrauchenden nicht angemessen ersichtlich.
Allerdings heißt es in Volkes Mund „Wer sucht der findet“ beziehungsweise in Eisenhüttenstädter Schnauze: „Wer wat suchen tut, der tut och wat finden.“
Und so wird der suchende Reisende auf dem Weg Richtung Stellwerk und Tunnel tatsächlich fündig.
Tatsächlich informiert uns die DB Station und Service AG Regionalbereich Ost auf zwei(!) nebeneinander stehenden DIN A 4-Aushängen Schwarz auf Weiß über die Öffnungszeiten der Empfangshalle, die, so weiß der Insider und auch nur dieser, völlig synonym zur Bahnhofshalle steht.
Die Relevanz einer Information wird bekanntlich durch Redundanz bekräftigt und hier liegt eine solche in Reinkultur vor. Zwei Szenarien werden dem auf einmal „Sehr geehrten Reisenden!“ vorgegeben, in deren Rahmen diese zum Nutzer der Empfangshalle werden könnten, womit die entsprechenden Öffnungsstunden grundlegende Relevanz erhalten.
Dabei ist die links gehängte Aktivitätsbeschreibung „Benutzung der Gepäckschließfächer“ eine mögliche aber nicht zwangsläufige Handlung, die in jedem Fall der rechts gehängten, die sich – wenn auch nicht explizit – auf die generelle Reisenutzung der Empfangshalle, z.B. für Empfänge alle Art, beziehen lässt, in einer Handlungshierarchie untergeordnet.
Zu merken ist anscheinend folgende abzuleitende Anredegrundregel: Wo Wahl besteht, da ist der Reisende auch „sehr geehrt“ und nicht nur „wert“. Von wem man als Reisender sich allerdings sehr geehrt fühlen soll, lässt sich auch nur aus der ausgesprochen lieblos eingefügten Adressangabe in der Kopfzeile der Bögen ableiten.
Dass das nicht sein muss, beweisen die Mitarbeiter der Bahn, die bekanntlich kommt und nicht selten sogar, wenn man sie erwartet, allerdings nie einfach so z.B. um die Empfangs- und Bahnhofshalle in Eisenhüttenstadt am Samstag nach 12 Uhr mittags offen zu halten, auf einem etwas seltsamen, aber ungehemmt sympathischen Plakat oberhalb der Empfangshallenaushänge im Schaukasten „Information“.
Hier erkennt der Betrachter, dass er es im Bahnhofsmilieu uneingeschränkt und ungebremst doch noch mit Menschen und nicht nur noch mit Anweisungen in preussischblauer Schrift auf apfelsinengelbem Grund zu tun hat. Kirstin Kobs, der Leiter bzw. die Leiterin - hier wäre nebenbei bemerkt ausnahmsweise ein Femininum angebracht, es [...Nächste Seite]