Nachdem Blogkollege Alf jüngst einen Dichter aus dem Oderland - nämlich
Klabund, der bürgerlich und richtig einen so normalen Namen wie Alfred
Henschke führte - als lyrischen Betrachter
städtischen Lebens bemühte,
um allen sich mit Abwanderungsgedanken Tragenden ein
Legitimationsgedicht zu reichen, gibt es von mir heute noch ein
ergänzendes Zitat und, da mir danach ist, eine Interpretation desselben:
Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir. (Hebräer, 13, 14)
So steht es im Brief an die Hebräer und gemeint ist nichts Geringeres, als das Lösen von irdischen Bindungen. Für die Griechen stellte (mit Jakob Burkhardt) die Polis selbst die "Religion" dar, einen gottgegebenen und gottgewollten Ort, der kraft des Gesetzes dem einzelnen Bürger Freiheit und Sicherheit garantiert. Die Polis galt im Sinne des Ausdrucks des politischen Geschehens als Maß des Miteinanderlebens mit dem freien (griechischen) Bürgers als Subjekt, um den sich alles dreht. Ihm gegenüber standen die Fremden, die Sklaven, die Barbaren, die vom politischen Leben und damit von dem gestaltenden Handeln ausgeschlossen zum Dabeistehen und damit in gewisser Weise zur politischen Wertlosigkeit verurteilt waren.
Heute gilt diese Ausschließlichkeit der Zuordnung wenigstens in deutschen Städten auch angesichts teilweise gegebener griechischer Restaurants mit griechischen Betreibern nicht mehr, es sei denn, man interpretiert die deutschen Gäste nach wie vor als pre-aufklärerische Barbaren, die als Objekte einer alles bestimmenden Staatsgewalt unfrei und fremdgesteuert sind. Manchmal, wenn man sie am Sonntagmittag in der Metaxa-schwangeren Luft die Souvlaki-Spieße zerlegen sieht, gewinnt diese Variante wieder ein wenig an Aktualität, möchte man doch mitunter glauben, dass sie sich hier bezüglich des Schling- und Hinunterwürgeverhaltens noch im kulinarischen Mittelalter wälzen.
Ansonsten sind griechische und deutsche sowie auch alle deutsch-griechischen Bürger theoretisch in den Grenzen des Grundgesetzes gleich und frei und praktisch in den Grenzen der wettbewerbsidealisierenden Marktwirtschaft gleichermaßen an Systemzwänge gekettet.
Oder auch, was die Umsetzung der Freiheitsrechte angeht, nicht. Denn zumindest in den Frühzeiten der Gastarbeiterströme und - wie man hört in manchen ostdeutschen Stadtgemeinschaften bis zum heutigen Tage - war der Zugang zur Polis, zum Gemeinwesen (der Barbaren) für die zugewanderten Griechen als Beisassen in den deutschen Kommunen nicht ganz leicht. Geduldet ja, aber als Wirte und damit letztlich doch im Abseits stehend und fremd bleibend.
Um hier auszugleichen erfand die Stoa die philosophische Ethik (bzw. das deutsche Gemeinwesen den Integrationsbeauftragten) und baute all denen, die nicht dazugehören eine vom konkreten Gemeinwesen unabhängigen "Stadt der Arete" (Erich Grässer), d.h. also der Tugend. Nicht was man ist, zählte in dieser "Stadt", sondern was man tat. Der realen Polis mit all ihren alltäglichen Verfehlungen setzte man die ideale Polis entgegen, die, da über tugendhaftes Verhalten konstituiert, der Inbegriff von Frieden, Gleichheit und Eintracht sein musste.
"Müsste nicht jedermann vor Begierde brennen, Bürger einer solchen Stadt zu werden ..., in der man sogleich nach seiner Ankunft in die Bürgerliste eingetragen wird und Anteil an der Politeia erhält?" fragte einst Kollege Lukian, der von der Politikverdrossenheit und Lethargie derer, die ihre Grundrechte nicht erstreiten mussten, sondern selbstverständlich vorfanden noch wenig zu wissen schien. Die wahre Polis ist die die reale transzendierende - das mag auch heute noch gelten, ist dem durchschnittlichen Stadtbürger aber erfahrungsgemäß reichlich schnuppe.
Ihm reicht die Komplexität seiner tatsächlichen Alltagsprobleme, was soll er sich da um Tugend und Ähnlichen Quatsch kümmern, wo wir doch alle trivial-darwinisiert im Wettbewerb der Tüchtigen, von denen dann die Tüchtigsten Überleben, unsere hobbes'schen Kämpfe nach dem Schulhofmotto "Alle gegen Alle" ausfechten. Ein bisschen Ethik ist da manchmal auch noch bei, allerdings vorrangig die protestantische im Sinne Max Webers - oder auch die sogenannte "schwäbische Ethik" - die sich darin manifestiert, dass man zwar an Regeln des Miteinanderschaffens hält, aber möglichst derart, dass man immer noch ein bisschen besser (d.h. auserwählter) als der Nachbar ist.
Auf der Rückseite dieses Wirtschaftshügels rutschen dann diejenigen die Buckelpisten herunter, die, wie sie meinen, angesichts der eisernen Hand der Nebukadnezars aus der Bundeshauptstadt noch so laut im Feuerofen Lobliedern schmettern könnten - der Kamin bliebe trotzdem "siebenmal heißer" als sonst (vgl. Daniel, 3). Erstaunlicherweise kann man sich auch in den Flammen ganz gut einrichten, nur ist das Ergebnis ein loderndes "Gegen die Welt und so", mit dem sich keine funktionierende Polis - weder real noch ideal - zusammenschustern lässt.
Was fehlt ist also die Bereitschaft und der Willen des platonischen Glaubens an ein "himmlisches Jerusalem", an eine Idealstadt bzw. einen Idealstaat, der als Vorbild (Urbild) dem, was man mit eigenem Handeln schaffen will, vorausgeht. So etwas ist zugegebenermaßen schwierig in der Postmoderne. Das man daraus aber regelmäßig die Konsequenz zieht, alle Weitsicht fahren zu lassen, und das eigene Handeln in den schmalen Kasten des Quartalsdenkens und der Halbjahresbilanzen einzuzwängen, muss jedem, der noch ein bisschen Wert auf (Zusammen)Lebensqualität legt, als verkehrter Schritt erscheinen oder auch als Symptom für blanke Hilflosigkeit.
Gerade wenn man nicht mit Paulus mitgeht, und die Heimat im Himmel verortet (Phil, 3, 20) und - wie im Zusammenhang des oben angeführten Eingangszitat seine Verortung in der Nicht-Verortung bzw. im Gang zum Kreuze Jesu und damit auch in der Ablösung von der Polis sieht - scheint es notwendig in gewisserweise paradigmatisch, d.h. ideal, zu denken und mit dem tatsächlich gegebenen zu verknüpfen. Eisenhüttenstadt als sozialistisches "Zion" zu gestalten, lag sowohl Meilen jenseits des Anspruchshorizontes von Stadtplaner Leucht den verwegensten unter den Parteigängern. Die Geste war eine andere, schlichtere, profanere. Und sie ist dahin und mit ihrem Scheiden, so scheint es, zog eine große stadtgesellschaftliche Sprachlosigkeit ein, die nur kurz und bislang kaum wirksam vom leisen Stammeln der Expertisen unterbrochen wird.
Ein klares Zeichen jedoch fehlt, genauso wie der sichtbare Wille der Selbstbemündigung der Eisenhüttenstädter Polis. Während sich die frühe Christenheit im Dazwischen (zwischen dem irdischen und dem himmlischen Jerusalem) gefangen sah, schwebt im Bewusstsein der lokalen Polis vielleicht die darin enthaltene Betonung der Flüchtigkeit auf Erden mit, dies aber nicht selten weniger aus einer Position des Dazwischen sondern aus einer Befindlichkeit im irdischen Jenseits. Dank verbreiteter Glaubensferne als Folge einer sozialpsychologisch völlig missverstandenen Gottesaustreibung durch die Leitbilder der DDR fehlt die eine gewisse Sicherheit spendende Vorstellung einer kommenden Erlösung (Komme, was wolle). An ihre Stelle tritt die stoffliche Ernüchterung eines sich selbst durchschauenden Mängelwesens Mensch und die resignative Beschränkung auf ein "Hand in den Mund"-Prinzip, was einer konsumorientierten Wirtschaft sehr entgegen kommt, einem existentiell festigen Seelenfrieden aber wenig.
Ein Dazwischen erfordert Alternativen und ein weiter, für schöpferisches und damit selbst(emp)findendes Dasein idealer und ideeller Lebensraum erfordert möglichst sehr diverse Alternativen, zwischen deren Polen sich die Polis als dynamischer und produktiver Ort - auch wenn es im Sinne der Wortbedeutung widersprüchlich erscheint - erstrecken und ausdehnen kann.
Für die vorliegende Polis "Eisenhüttenstadt" bedeutet dies, dass Alternativen fernab des Konzepts der "Einkaufsstadt" und Selbstwahrnehmungsmöglichkeiten außerhalb von Sat1-Reality-Show-Träumereien akzeptabel werden.
Essentiell sind hierbei alternative und diverse Diskursformen über die Stadt und die Idealvorstellungen vom Zusammenleben in dieser. Dass die bisherigen lokalen Medien aufgrund ihrer Struktur und kontextuellen Einbettung dies nicht leisten können, zeigt sich mit jeder Ausgabe neu. Ebenso eindeutig ist, dass von den in Haushaltsdebatten, Strukturzwängen und mitunter einem sehr deutlichen Wirkungsquantum des Peter-Prinzips eingesponnenen Akteuren
Stadtverwaltung,
Bürgermeister und
Stadtverordnetenversammlung in dieser Richtung kaum Impulse zu erwarten sind.
Gerade deshalb gilt es, die Mündigkeit des Eisenhüttenstadtbürgers zu fördern (und zu fordern):
Sapere aude!, denke selbst!, sehe selbst!, habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Immerhin bietet das Grundgesetz, seit 1990 auch den Eisenhüttenstädtern, einen historisch recht seltenen Freiheitsrahmen dazu. Es wär halt schön, wenn die Bürger dieser Stadt diesen stärker nutzen würden und ihr stadtgeschichtliches Erbe dahingehend aufgreifen, eine zukünftige Stadt hier und vor Ort mit eigenen Händen und eigenem Handeln zu gestalten.
Denn selbst wenn man das Hebräerzitat als Aufforderung zum "Exodus" liest (vgl. zu diesem Thema auch
diesen aktuellen Artikel), muss man sich im Klaren sein, dass man das gemeinte Zukünftige, das Erhabene wenigstens auf Erden an keinem Ort außer in sich finden kann. Und dann gibt es keinen Grund, für diese Selbst-Findung nach Mönchengladbach, Stuttgart oder Gießen zu marschieren. Die Marschroute ins Zukünftige führt nämlich eher in den eigenen Kopf (und vielleicht in die eigene Herzkammer). Die Marschroute zum Geld allerdings nach wie vor vorwiegend nach Südwestdeutschland...