Eine wichtiger Nebeneffekt jeder Reise ist die Relativierung bestehender Vorstellungen, Ansichten und Einbildungen. Allgemein ist es so, dass diese Relativierung umso intensiver ausfällt, je weiter man fort ist. Ein Ausflug in die urbanen Schmelztiegel in Fernost zeigt z.B., dass man in unseren Breiten mit seinem Anspruch an Raum und Abstand zum Nebenmenschen recht maßlos umgeht. So ist das Wohnideal des Häuschens im Grünen, dass im kleinstadtbürgerlichen Denken über allem steht und in Deutschland das landschaftsfressende Phänomen suburbaner Zersiedelung hervorgebracht hat, ein wahrlich (west)europäischer Luxus, der seine Wurzeln sicher in einem hierzulande vergleichsweise extrem ausgeprägten Individualisierungs- und damit Abschottungsdrang hat.
Die Mehrzahl der Weltbevölkerung träumt von so etwas wie Kampa-Haus mit eigenem Wäschetrockenplatz und Federballnetz nicht einmal, da es völlig jenseits ihrer Vorstellungskraft ist. Zudem ist es ein stadtgesellschaftlich nicht unbedingt förderlicher Trend. Spannend ist hierbei, dass parallel zu diesem Vereinzelungs- und Rückzugsideal häufig ein stigmatisierender Argumentationsfeldzug gegen Großwohnsiedlungen geführt wird. So gelten Plattenbauviertel nicht selten als Brutstätte von Asozialität, Gewalt, Kriminalität, Ghettobildung etc., was in dem zumeist anzutreffenden Maß der Pauschalaburteilung völlig haltlos ist (vgl. dazu auch diesen Eintrag) Noch absurder wird die Beschreibung der Plattenbausiedlungen als Wohnhölle, wenn man hier einen interkulturellen Vergleich unternimmt.
Was wir uns selbst noch in unserer schnuckeligen Bundeshauptstadt mit ihren vielleicht 4,2 Millionen Einwohnern an verbaubaren Freiraum herausnehmen können, das ist woanders nicht möglich. Und sogar hier zeigt die in Teilen der Ostberliner Plattenbaugebiete ansässige Bevölkerung durchaus nicht durchgängig Merkmale von Verrohung, Degeneration und sozialer Erosion sondern repäsentiert z.T. die gesamte Merkmalspalette des gesunden Mittelstandsdenkens.
Im Ballungsraum der russischen Kapitale Moskau (etwa 13,1 Millionen) stellt sich die Alternative gepflegtes Vororthäuschen, gediegene Altbauwohnung oder sanierter Plattenbau den meisten Einwohnern nicht, obwohl es hier natürlich auch Townhouses und Stadtwohnungen gibt, die in Berlin allenfalls noch im Beisheim-Center Konkurrenz auf Augenhöhe finden, dafür aber auch locker mal 30000 $ Monatsmiete verschlingen. Der durchschnittliche Moskowiter wohnt dagegen in Verhältnissen, gegen die Berlin-Marzahn schon ein ziemlich hoch angesetzte Messlatte darstellt.
Und begibt man sich schließlich mal in eine wirkliche Großstadt (bzw. Metropolis) z.B. in den Großraum Seoul-Incheon, in dem locker die 20 Millionen Einwohner-Marke übertroffen wird, sieht man, dass eine andere Form des Wohnens unter diesen Bedingungen (Einwohner pro bebauten Quadratkilometer: 16.725 | Berlin: 3154) unter Beachtung von Mindeststandards im Bereich Hygiene und Lebensqualität gar nicht möglich wäre. Hier wohnt jeder, der es sich leisten kann, in einem Großwohnblock, wobei eine Dreiraumwohnung durchaus um die 1,5 Millionen $ kostet. Es ist also fast etwas für die Rich People. Schaut man sich dann vor Ort um, stellt man erstaunt fest, dass statt Mord und Totschlag oder wenigstens Zeter und Mordio eine ganz friedliche Atmosphäre herrscht, wobei einige der Seoulites ihre nahezu durchgängig großen, neuen Automobile gar nicht verschließen. Die Verbrechensstatistik bestätigt die gefühlte Sicherheit zwischen den Riesenblocks: Auf 100 000 Einwohner kommen in der koreanischen Megacity etwa 3650 Verbrechen, in der Parkstadt Berlin sind es rund 17 200.
So drängt es sich fast auf, mal darüber nachzudenken, ob die Ursachen für den Abstieg der Vermeintlich Elend, Armut und Verbrechen fördernden Wohnungsbauform Großsiedlung nicht auch zu einem gewissen Teil mentalitätsabhängig sind. Sicher ist das geballte Leben in dieser Form nicht der Traum jedes Menschen, aber auch hier ist ein glückliches und zufriedenes Leben möglich. Vielleicht sollte man auch einfach mal - wenn man schon in einer globalisierten Sphäre schwebt - die Bedingungen, die einem gegeben sind, aus einer gewissen Distanz beurteilen und die Ansprüche in ein gesundes Verhältnis lenken.
Das ein Wohnblock oder Wohngebiet wie z.B. der VII. Wohnkomplex sozial erodiert und zum "Ghetto" (einer der am häufigsten fehlgebrauchten Begriffe in diesen Diskussionen, in Eisenhüttenstadt gibt es kein einziges Eckchen, dass Ghettoisierungsmerkmale aufweist) wird, in dem man um Leib und Leben und seine Ruhe fürchten muss, liegt immer irgendwie auch an den Menschen. Das Gefüge ist komplex, und der Einzelne, der sich mit lauten und devianten Halbstarken herumärgen muss, die im Zuge eines Resozialisierungsprogramms in seinen Aufgang abgeschoben wurden, kann daran sicher nicht viel ändern. Aber er kann immerhin seine Grundeinstellung überdenken und ein wenig bewusster mit seiner Umwelt umgehen. Das Spiel nicht mitspielen, sich selbst nicht aufgeben und "gehen lassen", mit der inakzeptablen Entschuldigung, dass die Anderen es schließlich auch machen, wäre schon ein Anfang. In Seoul resultiert das friedfertige Miteinander aus viel strengeren und viel akzeptierteren sozialen Regeln und Normen, die ihre Wurzeln direkt oder indirekt in einer Glaubensform haben - etwas, was in Deutschland, besonders im beinah glaubensfreien Ostdeutschland sicher perdu ist. Die einzige Chance hier wäre ein entsprechendes Handeln aus Einsicht und Vernunft, das übrigens im Einklang mit der deutschen Philosophie- und Geistestradition stehen könnte. Die Förderung von Stadtkultur, die aus mehr als der Rekonstruktion von Fassaden besteht, wäre hier die Option der Wahl. Dabei stände die Entwicklung einer Art "Ethik des städtischen Zusammenlebens" ganz oben auf der Agenda.
Leider steht sie es nicht. Insofern erleben wir an dieser Stelle die Kehrseite der Individualisierungsgesellschaft, die sich dadurch ausdrückt, dass vergessen wird, dass Individualisierung ein Prozess der inneren Reifung und auch der Distanz zu sich selbst darstellt und nicht einfach aus der Abschottung zum Menschen nebenan und dem ungehemmten Ausleben eigener Affekte und Konsumbedürfnisse besteht. Die Verteufelung der Plattenbausiedlungen als vermeintlich unlebbare Architektur, die aber selbst im VII. WK eine räumliche Qualität aufwies, welche in den Großwohngebieten von Städten wie Seoul, Moskau oder Karachi nur selten anzutreffen ist, ist eigentlich - so sehe ich es jedenfalls - eher Ausdruck eines Mangels an Fantasie und Orientierung. Die Bewohner der 20-Geschosser von Seoul-Incheon haben jedenfalls Besseres zu tun, als sich über das Nichtlebbare ihrers Wohnumfelds zu beschweren.
(Nicht nur) Die schimpfenden Einwohner Eisenhüttenstadts müssen dieses Bessere für sich, so denkt man nicht selten, noch entdecken.