Einträge für September 2009
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Your comrade, the heart and the name...*: Andi Lesers Spitzentitel wird re-zensiert
(*Da die Überschrift des Kyrillischen nicht mächtig ist, musste der eigentliche Titel "Вашим, товарищ, сердцем и именем..." in eine Fremdsprache übertragen werden. Ich bitte Andi Leser um Verständnis.)
Im Normalzustand des sozialen Miteinanders macht man sich durch nichts lächerlicher, als durch das wiederholte Erzählen des gleichen Witzes. Dies gilt gemeinhin als Verstoß gegen das Originalitätsgebot und wird in manchen Kreisen mit langanhaltenden rhythmischem Klatschen, in anderen mit einem kurzen kopfgeschüttelten Prestissimo geahndet. Beides packt den Humoristen bei seiner (Ver-)Standesehre und dient ihm entweder als Ansporn oder Absprung.
Mehr denn je gilt dies in den Zeiten der unbegrenzten Reproduzierbarkeit des Schalks. Übersättigt vom YouTube-Bombardement der Lustigkeit sehnt sich der Connaisseur der geschickten Pointe nach dem einmalig zündenden Kubischen Kanonenschlag aus Calembourg, der zündet, explodiert und noch lange nach hallt.
Mehrfache Wiederholung ist dagegen im flachen Wasser des Breitenhumors nur durch besonderen Tiefgang gerechtfertigt. Alles andere treibt ab, verschwimmt in der Wirkung, macht sich einmal pitschnass und bleibt Mario Barth, Bully Herbig oder Wigald Boning.
Wieso also hat Andi Leser, der schweijksame Max Goldt-Sucher seine Perlenschnur des gepflegten Jokus, mit denen er Amateurwitzbolden wie Hape Kerkeling, Dieter Bohlen oder Heinrich Lübke locker die Butter aus der Butterfahrt nimmt, sein an Schwipp-, Schwank- und Scherzartikeln reiches Furiosum nicht nur einmal, nicht nur zehnmal sondern gleich 300fach aufs Papier gebracht, setzen lassen, überarbeitet, anders setzen lassen und in Ulla Berkéwicz-Überlebnis-rote Tunke getaucht dem gnadenlosen Buchmarkt ausgeliefert?
Der Grund ist ein einfacher: Der Leser goutiert die Wiederholungsregel einfach brillant mit Feinschliff, wo anderen der Apatit vergeht (Achtung: versteckte Mineralogen-Zote!). Auch diejenigen, die Heinz Strunk für zu berechenbar halten, um noch einmal zur Zunge Europas zu greifen, finden in Andi Lesers Potpourri ein Basiswerk, in dem man immer wieder blättern kann, ja muss, um sich für das jüngste Gericht (z.B. Mittagessen) zu stärken.
Sicher auf jedem Parkett. Wenn man nicht weiß, womit man das Herz einer Stahlinstädterin erobert, ob mit einer Leninbüste auf dem Nachtschrank oder einfach Blumen auf's Dach - mit dem Anti-Lepra-Buch "Hinz- und Kurzgeschichten" kann man nichts falsch machen.
Denn:
Dieses Buch unterm Arm ist etwas Tolles und schindet in jedem Händchen in der U-Bahn mehr Eindruck, als eine zerlesene Ausgabe von David Edgar Foster Wallace' "Unendlichem Spaß" mit einem aus dem Buchblock im letzten Drittel herausbaumelnden Lesebändchen.
Dieses Buch, wie Du's auch hältst, meistert in der S-Bahn mehr Nahverkehr, als die S-Bahn selbst.
Mit diesem Buch ist im Bus nicht mal an der Endhaltestelle Schluß.
Dieses Buch auf dem Fahrrad, wünschte sich Jean Paul Marat.
Dieses Buch in der Tram, kommt einfach immer super am!
Kurz und lang: Dieses Buch gehört nicht in jedermanns Regal. Dieses Buch gehört Krethi und Plethi und Heinrich und Konrad (und allen anderen auch) weit aufgeschlagen mit Gummizug als Brett zwischen Kopf und Welt gezurrt, auf dass man in der permanenten Konfrontation mit dem Traurigkomischen aus der kratzigen Schwungfeder des Lesers auch beim Ernst Jandln im finsteren Tal des Daseinsalltags eine Navigationshilfe vor Augen hat, einen Leittext, der wirklich umsetzt, was das viertabgedroschenste Sprichwort der deutschen Sprachgeschichte nach „Erich Mühsam nährte ein Eichhörnchen“, „Von Nichts kommt Kunst, nur wenn sie brunzt“ sowie „Auf einer Brotzeit sind die Kaiserbrötchen König“ einzig andeutet: Nur weg ist das Ziel.
Weg in das Stahlinstädele des Andi Lesers hinein, irgendwo zwischen Tramadol und Tralfamadodre, zwischen Katze im und Knüppel aus dem Sack. Hier lacht das Herz nicht nur feuerrot, hier atmet es sich frei, wild und brät. Gratuliere! Chapeau! Hip Hop Hurray!
Die bisherig bekannten, ja berühmt gewordenen Besprechungen reichten von begeistert („der Pschyrembel unter den Schopenhauer-Gesamtausgaben“), versteinert („Ein Buch, so sicher wie das Amen in der Kirche“) bis enthusiastisch („Lachhaft!) und basieren vorwiegend auf der Kenntnis des Schutzumschlages sowie des Schmutztitels, der sich allerdings tüchtig gewaschen hat.
Was „Faserland“ für Sylt zu leisten vermochte, sollten die „Hinz- und Kunzgeschichten“ für Spitzbubbergen sein: harter Stoff für die einsame Insel, einsamer Stoff für die harte Insel, eine bittere und battelnde Lektion für alle, denen das, was auf den Tisch kommt, nicht heiß genug gegessen werden kann.
Hinz- und Kunzgeschichten sind das Reiskorn im Sand am Meer, die Perserkatze unter den Straßenkötern, die Majolikafließe derer, die sich aus der Gesellschaft ausklinkern und auf und davon kacheln, der Stimmbruch im Karaokekeller des Universums, das Höhlengleichnis im Lichte der Diskokugel. Kurzum: Sie sind so wertvoll wie ein kleiner Staeck. Mindestens.
Leser, Andi (2009): Hinz- und Kurzgeschichten. Berlin: Berlin : Schaltzeit. 12,80 Euro - weitere Informationen
Neben der ohnehin nicht ganz einfachen Entscheidungsfindung für Bundestagswahl am 27. September sind gerade die Wahlberechtigten Eisenhüttenstadts zusätzlich aufs Höchste gefordert und die Politikfreie Zone an der Eisenhütte ist wenigstens in diesem Punkt keine mehr. Auch optisch sind die Laternen und Mittelstreifen der Hauptstraßen eng bestückt mit Kampfansagen und Wahlversprechungen, die mitunter ("Geld für Deutsche" bzw. "Reichtum für alle") derart plakativ sind, dass sie in ihrer den Verstand beleidigenden Dummdreistigkeit eher als Aufrufe zum Wahlboykott erscheinen. Aber der politische Mensch lässt sich selbst von Wahlwerbung nicht klein kriegen. In Eisenhüttenstadt ohnehin nicht, denn nicht nur Burger King ruft die "Angry Weeks" aus, sondern auch ein Kampagnenfeuerwerk, dass sich durch seine primäre Ausrichtung auf den bisherigen, langjährigen, einzigen Nachwendebürgermeister Eisenhüttenstadts konzentriert. Rainer Werner für die Zukunft von Hütte (Genitiv-Puristen hätten lieber ein "für Hüttes Zukunft" gesehen, aber Sprachpedanten sind in Städten wie dieser ohnehin selten wohlgelitten) oder Werner in Rente - so rotiert das Personalkarussell hauptsächlich um eine Personalie.
Die Herausforderin Dagmar Püschel kommt dagegen mit einer vergleichsweise zurückhalteneren Webpräsenz daher, zeigt schön im Header das Gartenfließ mit Seniorin und Hund, präsentiert sich dazu mit recht nüchterneren Plakaten und mit einem so naheliegenden wie schon von Obama für die nächste 30 Jahre besetzten "Wechsel"-Ansatz als Brustdruck auf dem T-Shirt.
Die dabei ineinander gestürzten Themen, die Lebensläufe, Lebenskreuzungen, Lebensbrüche sammeln sich dagegen erstaunlicherweise oft in weitgehend erwartbaren Bahnen. Es finden sich einige überraschende Wendungen, aber in der Gesamtheit kumuliert das Buch typische Motive, oft auch recht schlichte Stereotypen als Mittel zum Zweck, die jedem, der seit 1990 ein paar Jahre Privatfernsehen gesehen und/oder in Berlin gelebt hat, halbwegs vertraut erscheinen dürften. Das heißt nicht, dass die Sujets in der Kombination nicht reizvoll wären. "Abtrünnig" ist ein Post-Einheitsroman, den man gerade in diesem Jubiläumsjahr zur Hand nehmen kann, um an ihm eine persönliche Rückschau aufzuspinnen. Was dabei über weite Strecken bleibt, ist der Eindruck, dass die elaborierte Verweigerung im Stil in eine andere Richtung als die Handlung strebt. Letztere scheint über weitere Strecken die vorliegende, schachtelige Form nicht unbedingt zu erzwingen und die Form selbst unterstreicht das Auseinanderfallen von Identitäten in der Welt nach 1990 mitunter ein wenig zu grob und aufgetragen. Insofern wirkt das Buch - was vermutlich wieder konsequent dem Ansatz dieser Form und dem Hauptthema entspricht - nicht ausbalanciert, schwankt vielmehr worttrunken zwischen ausgesprochen albernem Kalauer und wirklich erschütternder Tiefe im Halbsatz. Das Herz, dieser einsame Jäger, scheint mitunter Florett schwingend im Panzerwagen durch den gewilderten Hain des frühen Berliner Jahrtausends zu fahren und verpasst sich dabei ab und an selbst einen gehörigen Schmiß - so ließe sich das Lektüregefühl vielleicht beschreiben.
Dies alles würde ich für mich behaltenen, träte nicht sehr früh im Buch ein Protagonist mit Wurzeln in Frankfurt/Oder auf, dem es gelingt auch Eisenhüttenstadt ins Spiel zu bringen. Denn gleich zu Beginn im Kapitel "Geburtstage-Schmutzige Menschen" verbrennt dieser als Grenzschützer Tätige einige der wenigen ihm verbliebenen Brücken, um sein Leben auf die kleine Rolle des Selber-Behelfsbrücke-Seins zu reduzieren: Der junge Witwer lernt auf einem eher verzweifelten Ausflug in ein Café in Słubice eine junge Ukrainerin kennen, die den Weg nach Deutschland sucht. Er tanzt mit ihr, glaubt ihre Geschichte und hilft in einer anstehenden Nachtschicht und hohem Einsatz ihr ("dunkelbraune Augen überwölbt von schwarzen fein geschwungenen Brauen, das Gesicht ernst u bleich wie ein Wald nach langem Winter") und ihrem Bruder ("1 hochgewachsener Bursche mit Bürstenhaar") über den Fluß. An dieser Stelle, leider, leider, stolpert der Roman in eine topographische Unsicherheit, deren Bemängelung man vielleicht als kleinlich auslegen mag, die dem Kenner der Region aber als unangenehme Irritation auffällt, vergleichbar mit einem dieser winzigen Filmfehler, bei denen während eines Schnitts ein Keks vom Tisch verschwindet oder hinzukommt, ohne dass Nicole Kidman die Schachtel überhaupt anrührt ("Eyes Wide Shut", ca. 48:00-51:00). Übersieht man es, ist alles gut. Merkt man es, bleibt ein unangenehmer Makel, denn die Logik wurde nicht absichtlich, sondern nachlässig gebrochen.
So ist die Bahnstation, auf der Reinhard Jirgl den Grenzschützer das Geschwisterpaar absetzen lässt, mir nicht so recht logisch ermittelbar. Nachdem die Geschwister an einer nicht spezifizierten Stelle die Neiße durchwateten - unklar bleibt auch, wie sie die ca. 40 Kilometer von Słubice nach Kosarzyn bzw. ans Neißeufer in der Nacht bewältigten - sammelt der Protagonist sie mit seinem Jeep ein. Er wird von einem Kollegen verfolgt, den er aber vom Fahrdamm zu drängen vermag. Dann setzt er die Geschwister an einem nicht benannten, wohl aber beschriebenen Haltepunkt der Bahn ab:
"Weitab in 1 Dorf an der Bahnstation für die Regionalzüge setze ich Valentina & ihren Bruder ab. Aus wolkenlosem Himmel sickert blaues Morgenschimmern; der Frühzug würde bald kommen, Schulkinder & Arbeiter nach Guben, Eisenhüttenstadt od in die andere Richtung nach Frankfurt bringen. Hier, inmitten apathisch Wartender, aus Nacht-u-Schlaf Gerissner, würden die Beiden nicht auffallen. Gebe Valentina Geld (:aufmerksam beobachtet von ihrem Bruder, unentschieden zwischen Mißtrauen & Gier); und sage der Frau, daß ich sie suchen werde, später in Berlin.....[...] Die beiden stellten sich auf den Bahnsteig unter die Reisenden in Richtung Frankfurt, 2 fahle Steine im Menschen Dammm..... Dann ließ ich den Motor an, kehrte um in meinen Abschnitt an der Grenze. Im 1. Morgenschimmern auf dem schmalen Bahnsteig entschwanden die beiden Gestalten rasch aus meinem Blick." (Jirgl, Reinhard: Abtrünnig. Roman aus einer nervösen Zeit. München: dtv, 2008, S. 35)Abgesehen von der treffend beschriebenen Atmosphäre auf den morgenlichen Regionalbahnsteigen Ostbrandenburgs bleibt die Überlegung, von welchem Dorf die Rede sein könnte. Stimmig von der Lage zur Neiße wären Coschen oder Wellmitz. Allerdings fährt der Zug dort nicht entweder nach Guben, Eisenhüttenstadt oder Frankfurt/Oder sondern entweder Richtung Guben oder Eisenhüttenstadt, Frankfurt/Oder. Alternativ - und im "weitab" zur Not begründbar - könnten auch Ziltendorf oder Wiesenau gemeint sein. Die nicht stimmige Reihenfolge der Orte in der Nennung "Guben, Eisenhüttenstadt" ließe sich aus dem Adrenalinspiegel der Situation erklären.
Schwer nachvollziehbar bleibt jedoch, wieso - und wie unbemerkt nach dem Vorfall mit seinem Kollegen - er den nicht ungefährlichen Schlenker nach Norden genommen hat, an Eisenhüttenstadt vorbei oder durch die verschlafene, aber nicht tote Stadt hindurch. Letztlich irritiert noch, dass er augenscheinlich bei der Abfahrt noch einen Blick auf den Bahnsteig werfen sollte, was rein räumlich vielleicht in Neuzelle vorstellbar wäre, sofern er auf der östlichen Seite des Bahnsteigs abgefahren wäre. Hier jedoch stimmt die Richtungszuweisung wieder nicht. ... So also gibt man sich während des Lesens einer Irritation an einer Stelle hin, die ein Großteil der Leser dieses Romans nicht einmal als besonders auffällig registriert haben.
Letztlich ist es müßig, hier nach einer Auflösung zu suchen (man könnte auch Reinhard Jirgl einfach schreiben und fragen). Wenn jedoch jemand aus unserer Leserschaft einen Lösungsvorschlag für dieses unfreiwillige Rätsel im Buch parat hat, bleibt natürlich die Kommentarfunktion für Spekulationen jedweder Art das Mittel der Wahl. Zumal nach dem kleinen Redesign, das dem Blog ein strengeres, kantigeres Auftreten geben soll, um im Kampf der Brandenburger Blogs um die Aufmerksamkeit der Blogosphäre Boden gut zu machen, Lektüre und Interaktion im Blog mehr Freude denn je bereiten soll.
Hinsichtlich Reinhard Jirgls "Abtrünnig" (eine Rezension des Titels gab es u.a. vor drei Jahren auch im Freitag) haben wir hoffentlich zureichend unsere Dokumentationspflicht für in der Literatur aufgefundene Erwähnungen Eisenhüttenstadts erfüllt. Da wir uns zwar bemühen, aber es nicht schaffen, alle Bücher der Welt zu lesen, sind wir für Hinweise zu weiteren Werken, in denen Eisenhüttenstadt literarisch, filmisch, künstlerisch verhackstückt, gepriesen oder einfach erwähnt wird, äußerst dankbar. Auch hier bietet sich die Kommentarfunktion an. Oder die direkte Kontaktaufnahme.
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