Und wieder einmal möchte ich unsere Leser mit einem kleinen architekturtheoretischen Zitat, welches in Eisenhüttenstadt speziell in Hinblick auf Stalinstädter Aufbaugeneration einerseits und in Hinblick auf die Kinder andererseits im Stadt(entwicklungs)diskurs durchaus Relevanz besitzt:
Die einzige bildende Kunst, die heute der Allgemeinheit nicht verschlossen ist, ist die Architektur, die dadurch einen bemerkenswerten Teil unseres Lebens bildet. Sie ist ohne jede Anstrengung genießbar, steht an der Straße, spricht dort zu den Menschen wie ehemals Philosophen, und ist dabei selbst vom niedern Standpunkt aus gesehen notwendig. Ein jeder hat das Gefühl an ihr selbst mitarbeiten zu können, da sie mehr als jede andere Kunst aus einem Gesamtwillen und einer Gesamttätigkeit entsteht und jeder Bürger einer Stadt mit Recht auf all das stolz sein kann, wozu er, wenn auch nur das Geringste, beigetragen hat, während der Stolz einer Stadt als Geburtsstätte irgendeines großen Mannes ganz unbegründet ist, da sie an diesem Vorgang unbeteiligt ist und ihn wahrscheinlich in seinem Schaffen nur behindert hat. (Frank, Josef: Architektur als Symbol. Elemente deutschen neuen Bauens. Wien: Schroll, 1931, S. 10)
So schrieb es der österreichische Architekt und
CIAM-Mitbegründer Josef Frank, der in der Hietzinger Woinovichgasse auch einen schönen Beitrag zur Werkbund-Architektur hinterließ, 1931. Inwieweit die Architektur von der Allgemeinheit auch heute noch angesichts vieler gruseliger Schnell- und Schnellstbauwerke, die vor allem den ausdrucksarmen Funktionalbauten aus kommerziellen und eigentlich fast nie aus kommunaler Bauaktivität, wirklich als "bildende Kunst" erfahren wird, ist ein Punkt, über den man durchaus diskutieren sollte. Die Feststellung, dass wir als Klein- und Großstädter dank unserer ubiquitär ge- und verbauten Umwelt eigentlich permanent architektonischen Handlungen ausgesetzt sind, ist dagegen hochaktuell. Und irgendwie stimmt es auch, dass uns Architektur eine gewisse "Philosophie", d.h. bestimmte ideologische Leitsätze vermitteln möchte und wenn es die einer fantasiearmen Funktional- und Konsumgemeinschaft sind. Das Spannende an der Postmoderne ist, dass sie diese Leitsätze z. T. vermengt und neu arrangiert und am Ende auch wieder eine neue, mitunter ebenso dogmatisch, Denkfigur präsentiert. Das bewusst als Kontrapunkt zum sozialistischen Zeilenbau der Dresdner Prager Straße gesetzte UFA-Multiplex-Kino der Coop Himmelblau verkörpert am Ende natürlich mit ähnlicher Rigorosität eine Vorstellung von Dekonstruktivismus, mit der das einen (halben) Steinwurf entfernte Rundkino die Vorstellung einer sozialistischen Architekturmoderne der frühen 1970er spiegelt, welches obendrein ebenfalls als deutlich hervortretendes Gegenstück zur Bebauung in der Nachbarschaft gedacht war.
In Eisenhüttenstadt lässt sich bislang eigentlich nichts entdecken, was der architektonischen Postmoderne entspricht, allerdings ist die bewusste Aufrechterhaltung der zentralen Baulücke des Zentralen Platzes durchaus als eine postmoderne Haltung zu interpretieren: Es ist auch möglich nichts zu bauen, wir beweisen Mut zur Lücke, entgegen jeder stadtplanerischen Vernunft.
Wenn die Bürger Eisenhüttenstadts stolz auf ihren Beitrag zur Architektur sein können, dann gilt das natürlich besonders für diejenigen, die in den frühen 1950ern wirklich und offensiv die offiziellen Planungen in eigenem Engagement umgestaltet haben. Für die Nachwendebürger allerdings besteht die architektonische Mitwirkung leider häufig nur in Indifferenz und es ist ein wenig schade, dass es auch die Schulen - soweit ich mich erinnere - leider unterlassen haben, hier zu sensibilisieren. Unterbewusst jedoch dürften fast alle die Qualitäten und Mängel der Stadtarchitektur dank der kognitiven Landkarte, mit der sie sich alltäglich vom Club Marchwitza zum City Center und vom Inselbad zum Rosenhügel und vom Berliner Flohmarkt zu den Sportanlagen der Hüttenwerker navigieren, "erspüren". Und sofern sie alles so akzeptieren wie es ist und damit die Architektur in gewisser Weise - wenn auch mitunter nur widerwillig - bestätigen, tragen sie auch Scherflein für Scherflein bei. Und wenn sie - das klassische Problem aus meiner DDR-Kindheit - querfeldein auf Rasenflächen Trampelpfade anlegen, dann wirken sie auch schon ziemlich konkret auf die städtebauliche Konzeption zurück.
Dass schließlich Eisenhüttenstadt seine berühmten Kinder nur eingeschränkt hätte, trifft jedenfalls auf die Sporthelden nicht zu, denn eine so üppige Ausstattung mit Sport- und Trainingsanlagen, wie es die Stahlstadt damals vor 1990 gegeben war, ließ sich wohl nicht überall vorfinden. Heute ist etwas anders und der EFC Stahl freut sich schon über ein Unentschieden gegen Altlüdersdorf
wie über einen Sieg und wird ansonsten die Rote Abstiegslaterne in der Verbandsliga Brandenburg wohl
nicht mehr abgeben können. Das Thema Klassenerhalt ist ohnehin schon seit einer ganzen Weile durch. Die anderen ambitionierten Kinder der Stadt, die das Zeug dazu haben, große Männer (und heute auch große Frauen) zu werden, erfahren natürlich die übliche Einschränkung, die Provinzstädtler und brave Bürger gemeinhin allem zuteil werden lassen, was nicht ins Bild passt. In Eisenhüttenstadt zählt dazu übrigens auch
Radfahren mit einem Telefon in der Hand (mit der Bierflasche bleibt vermutlich unbelangt), wobei man allerdings noch nicht gezielt polizeilich "Jagd auf Leute macht".
"Wenn man sich als Verkehrsteilnehmer an alle Vorschriften hält, dürfte es keine Probleme geben."
,wird der Eisenhüttenstädter Polizeiwachtmeister Wolfgang Schumann heute von Andreas Wendt in der Märkischen Oderzeitung zitiert. Und Gleiches gilt auch für alle impliziten Vorschriften des sozialen Stadtgefüges, die Unauffälligkeit und Angepasstheit schon immer positiv mit "in Ruhe lassen" sanktionierten. Und je homogener das Regelwerk, desto schwieriger wird es für die Abweichler. Was die Drogierung der Stadtjugend angeht, ist ebenfalls von mehreren Homogenitäts-Clustern auszugehen:
Sie sind erst 13, 14 oder 15 Jahre alt, heißen Anne, Sophie, Thomas, Ben [sic!] oder aber so wie dein Nachbar, und sie sind süchtig - einige rauchen, andere kiffen, etliche trinken.
berichtet Janet Neiser heute ebenfalls in der Märkischen Oderzeitung.
Das ist natürlich nichts, was in intakten bürgerlichen Familienverhältnissen offenarmig begrüßt wird und insofern befinden sich auch diese Kinder der Stadt in Opposition zu ihren Eltern, wie einst die jungen Männer, die lieber Schauspielern oder Singen wollten, als eine Ausbildung im EKO oder bei der Volkspolizei einen "normalen" Beruf erlernen wollten. Denn sowohl das eigene Weltbild der Eltern wie auch das Denken der Nachbarn wiesen (und weisen) - und das ist, denke ich, ein allgemeiner generationentrennender Zustand - grundsätzlich divergierende Vorstellungen im Vergleich zu denen der grünschnäbelige Naivlinge, die (noch) nicht die Vorteile des kleinbürgerlichen Privatfunktionalismus einsehen wollen. Darüber werden regelmäßig Romane geschrieben, der für Eisenhüttenstadt steht noch aus und vielleicht machen wir diesen, wenn der Blog hier irgendwann entschlafen ist.
Die Drogenkids von heute allerdings unterscheiden sich von den scheiternden Mimen von einst dadurch, dass sie gerade diesen Drang nach Privatheit und "in Ruhe gelassen werden" am Ende gar derart ins Zentrum ihrer Aktivität rücken, dass es selbst ihren Eltern angst und bange wird. Diese Rebellion ist keine, wie die vorhergehenden.
Es ist eine Rebellion der Coolness, die immer nah an der Verachtung entlang balanciert und deren Wurzel Furcht ist. Es ist das Los des postmodernen Menschen nach dem Ende der Weltentwürfe und vielleicht auch der Geschichte, in die man als "großer Mann" hätte eingehen können, dass außer dem (Selbst)Konsum kaum mehr öffentliche Orientierungsbilder gegeben sind. Und während sich die Älteren noch erinnern, dass es einmal ganz anders, aber objektiv nicht unbedingt besser - und subjektiv nicht selten besser - war und deshalb immerhin noch eine Verankerungsexistenz des eigenen Selbst in diesem Kontrastverhältnis als Lebensklammer zur Verfügung steht, sind die nach 1990 Geborenen völlig der subjektiven Unbestimmtheit einer vermeintlichen "Laissez faire"-Welt, in der man in Ostdeutschland mit dem Ende des etwas aus der Fassung gerutschten DDR-Sozialismus gleich auch jegliches Konzept von Gemeinsinn verworfen zu haben scheint, ausgeliefert. Viel Freiheit, viel Gefahr (bzw. Unsicherheit) und so verdeckelt man sich hinter der Maske des Coolen, d.h. Unbeteiligten, denn - das scheint instinktiv spürbar zu sein - Beteiligung bedeutet immer auch Gefährdung und in gewisser Weise auch Verantwortung. Verantwortung jedoch erscheint als dunkle Wolke der Beschneidung der eigenen Entfaltungsfreiheit, die man sich, selbst wenn man sie kaum nutzt, wenigstens als im Rudiment der Konsumfreiheit um jeden Preis zu erhalten trachtet. Die von der "Hip Hop"-Bewegung vorangetriebene Renaissance des Konzepts des "Respekt" im Sinne einer Anerkennung und damit externen Aufwertung des eigenen Egos, dem ein Bedürfnis nach Selbstbestätigung und Selbstabsicherung zugrunde liegt, ist hier ein Indikator. Und je heftiger und krasser, desto größer der Respekt und in der Gruppendynamik und unter dem Druck der
Peer Group steigert sich das Ganze bis zu einer wahrhaft schwachsinnigen, weil selbstzerstörischen und nicht selten
tragischen Form von "Ruhm".
Ob das
Arcelor-Projekt, das Janet Neiser
vorstellt, bei der Zielgruppe einen Effekt entfaltet, der über ein gequältes Lächeln hinausreicht, ist fraglich. Aber um breite Seelenrettung geht es gar nicht, sondern um jede einzelne. Und daher ist das Ganze natürlich auch uneingeschränkt zu begrüßen. Stärker zu begrüßen wäre allerdings eine Vermittlung des Wissens darum, dass Verbindlichkeit und Verantwortung und die Rücknahme der eigenen Unmittelbarbedürfnisse keine Zumutungen an, sondern Voraussetzungen für ein sinnvolles Leben sind. Das ist aber weitaus schwerer zu verpacken, als eine allgemeine Drogenächtung, die übrigens auch Süßwarenmissbrauch und andere Nebenwirkungen der Überflussgesellschaft mit einschließen sollte. So heißt es erstmal in völlig überzogener Anbiederungssprache:
Drogen sind krass irrsinnig. Beispiel das Rauchen: Trockene Blätter anzünden und sich den Qualm reinzuziehen, kommt keinem Lebewesen in den Sinn. Außer dem Menschen.
Es ist außer dem Menschen allerdings auch noch keinem Lebewesen in den Sinn gekommen, Walzstraßen zu errichten, Pogrome anzuzetteln oder Weltliteratur zu verfassen. Von Rauscherlebnissen wird allerdings auch aus dem Tierreich berichtet. Und von pavianbrustpurpurnen Respekteinforderungen.
Kommentare